Читать книгу: «Am Ende des Schattens», страница 2

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Das Strahlen des Gastgebers, das selbst dann nicht erlosch, als er Dolphin dem Ex-Kronprinzen vorgestellt und seine Exzellenz erwidert hatte: »Verzeihung, muss ich ihn kennen?«

Das Bassin in der Empfangshalle, eigens für den Abend aufgebaut, samt den darin schwimmenden Fässchen voll Kaviar, aus denen sich die Badenden mit den Händen bedienen konnten

Das Monokel des Generalobersts, das wie in einer Schmierenkomödie herausfiel, als jemand ihn versehentlich anstieß

Die Silbertabletts voller Champagner und Liköre, die sich immer schneller um ihn drehten, als stünde er im Zentrum eines Karussells

Ein Hauch von Knoblauchgeruch, als Harry Graf Kessler ihm ein so good to see you zuwarf und dabei dem Bildhauer Mail-lol erklärte, warum Englisch die zweitschönste Sprache Europas sei und die Froschschenkel im Borchardt ein Graus

Der Bechstein-Flügel, der einsam aussah, obwohl er gespielt wurde

Ein schlaksiges Mädchen im Badeanzug, gerahmt in einem Kristallspiegel, bis es aus dem Bild kippte und verschwunden war

Der Klang von Eis, das in ein Whiskyglas gefüllt wurde

Mehr Schollen aus Eis, nun an Caspar David Friedrich erinnernd

Das Mädchen im Badeanzug, das sich als junge Frau entpuppt, mit hochstehenden Beckenknochen und komplizierten Bewegungen, als gehe sie bergauf, bis sie Anlauf nimmt und springt

Der gelbe Urinstrahl, versickernd in den Eiswürfeln des Pissoirs

Die Schwimmerin plötzlich neben ihm an der Bar, mit dunklem nassem Haar und einem Lächeln, bei dem sie ein Stück Zahnfleisch zeigt

Warum sie einen Hosenanzug anhat und eine Leica in der Hand hält, weiß er nicht, dafür sprechen sie eine Ewigkeit über Kleinbildkameras, Belichtungszeiten und, ja, Vogelperspektiven

Ihre Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, das Zahnfleisch: Es kommt ihm vor, als zeige sie Wunden, die sie nicht hat

Warum überall so viel Eis? In den Gläsern, im Pissoir, im November?

Sie sprechen und trinken, als seien sie vor dem Verdursten

Irgendwann werden sie von jemanden fotografiert

Die kontrollierenden Blicke ihrer älteren Geliebten, so streng wie ihr Jungenscheitel

Leere Gläser voller Gin

Fast fällt sie herunter, als sie auf den Barhocker steigt, um ihn aus der Vogelperspektive zu fotografieren

Wieder die eifersüchtige Geliebte, ihr linkisches Zerren an der Leica, erfolgreich letztlich, ihr Abgang unter schweizerdeutschen Flüchen

Später Gelächter: Was hat Ablichten mit Abblitzen zu tun?

Ja, bei den Hottentotten wünscht er sich von dem Pianisten, doch der tut so, als ob er noch nie davon gehört habe und klappt den Klavierdeckel herunter

Wie lange er schon im Stau stand, konnte er nicht sagen. Erst, als ein Lastkraftwagen hinter ihm hupte, legte er den Gang ein und fuhr an. Er fühlte sich frischer, vielleicht war es die kalte Luft, die hereinströmte, vielleicht tat die Tablette ihre Wirkung. Er hatte sie von Dr. Benjamin, der ihn schon seit Kindheitstagen behandelte, gegen einen hartnäckigen Schnupfen verschrieben bekommen, und das Mittel hatte die wohltuende Nebenwirkung, dass man hellwach wurde. In letzter Zeit hatte er fast täglich eine Benzedrin genommen, bis ihn das Gefühl beschlich, damit aufhören zu müssen.

Als er endlich im Büro ankam, versuchte er Ella zu erreichen. Sie habe sich krankgemeldet, war die Antwort der Kollegin. Er probierte es zu Hause. Sie nahm nicht ab. Vielleicht schlief sie. Wahrscheinlicher schien ihm, dass sie gekränkt war, weil er sich gestern Abend nicht mehr gemeldet hatte. Ehe man es sich versah, war sie beleidigt. Und vermutlich wusste sie, dass er ohne sie ausgegangen war.

Er spürte, wie die Müdigkeit ihn übermannte, und schleppte sich vom Schreibtisch zum Diwan in der Ecke gegenüber, wo er in letzter Zeit immer häufiger übernachtete. Seine Fingerspitzen strichen über den Kelim, den er darübergeworfen hatte, und er versank in einen traumlosen Schlaf.

Er schrak auf, als der Fernsprecher klingelte. Wie lange war er eingenickt? Als er sich mühsam aufrichtete und nach dem Hörer griff, war niemand am Apparat. War es Ella gewesen? Oder London?

Das Mädchen im Badeanzug kam ihm in den Sinn. Hieß sie tatsächlich Sidonie?

Irgendwie mussten sie mit einem Taxi in die Knesebeckstraße gekommen sein. Was er mit Bestimmtheit wusste, war, dass sie sich nicht hatte ausziehen lassen.

Sie hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt und selbst die Führung übernommen. Dolphin lag, nackt bis aufs Unterhemd, im Bett, während sie in die Küche ging, um nach etwas Trinkbarem zu suchen. Er war zu betrunken, um ihr zu folgen. Ihm war rätselhaft, woher sie diese Energie nahm. Die Energie einer, wie er hoffte, mindestens Einundzwanzigjährigen. Sie reichte ihm die Whiskyflasche und musterte ihn.

Sidonie klang viel zu onduliert für das kurze Haar und den drahtigen Körper, sie hatte nichts Welliges und Vielsilbiges. Etwas Entschiedenes ging von ihr aus. Selbst im größten Rausch schien sie in der Lage zu sein, ihr Gegenüber, ihre Nacktheit, das, was sie preisgeben wollte und was nicht, zu kontrollieren.

Irgendwann versuchte Dolphin, aus einem unbekannten Gefühl der Demütigung heraus, sie zu bezwingen. Er hielt sie fest. Seine Zunge wanderte über immer nasseres Fleisch. Er fühlte ihren Widerstand schwinden, bis ihr schmaler Körper vor und zurück schnellte, kämpfte mit ihr, sie hatte Bauchmuskeln aus Stahl, presste ihre Arme nach hinten, hatte sie so weit und wollte endlich in sie eindringen, als sie ihn plötzlich, mit Kräften, die unerklärlich schienen, von sich stieß. Er spürte einen grellen Schmerz, irgendetwas Feuchtes mitten im Gesicht. Seine Nase blutete. Sie war erschrocken und schaute sich hilflos um. Er öffnete die Nachttischschublade und griff nach einem Taschentuch.

Dann tranken sie abwechselnd aus der Flasche, bis sie ihm das Taschentuch wegnahm und das getrocknete Blut aus den Nasenlöchern lecken wollte. Es war grotesk und sehr aufregend.

Er wusste nicht mehr, wann es war, aber plötzlich wurde ihr kalkweißer Oberkörper von einem Lachkrampf geschüttelt. Sie zeigte auf die Packungen, die aus der Schublade quollen.

Sie wurde still und schaute ihm prüfend ins Gesicht. »So einer bist du also«, sagte sie lüstern. Und dann begann sie, sich langsam zu schmücken. Aufreizend langsam öffnete sie eine Sicherheitsnadel und stach sie in ihr Ohrläppchen. Es folgte der Nasenflügel und in absteigender Folge die Brustwarze links, rechts. Dann spreizte sie die Beine, wovon Dolphin sie abhalten wollte, doch sie umklammerte sein Hand-gelenk, stieß einen Zischlaut aus, tschtschtsch, um ihn zur Ruhe zu bringen, drückte fester. Und schließlich schaute sie ihn triumphierend an, als sie die letzte in die Schamlippen stach.

Dolphin empfand einen unbeschreiblichen Ekel und spürte, wie er eine Erektion bekam.

4

Er sagte seiner Sekretärin Bescheid und fuhr nach Hause. Er musste den Kopf freibekommen. Im Bad war es ganz still. Er schäumte sich das Gesicht ein, griff zum Rasierer und konzentrierte sich auf die Symmetrie der Links-rechts-Serie. Er stellte sich Ella vor, wie sie ihn beobachtete. Diese Vorstellung hatte, wenn er ehrlich war, ihren Reiz verloren. Wenn sie sich von hinten an ihn heranschlich und seinen Stiernacken küsste, führte das in der Regel zu einem Geschlechtsverkehr der konventionellsten Sorte. Oder sie weckte ihn, wie neulich, und entfachte eine Art von Leidenschaft, die sich als Strohfeuer entpuppte. Plötzlich tat sie ihm leid, doch das konnte er ihr unmöglich sagen.

Mit beiden Händen wusch er den Schaum weg und trocknete sich ab. Die Schwimmerin war noch immer vom Erdboden verschluckt. Warum meldete sie sich nicht? Sie wusste, wie er zu erreichen war. War ihre Geliebte schuld?

Wenn es nach Lord Bakerfield ginge, würde er sie nie mehr wiedersehen. Eine Frau, wie man sie nur in dieser Stadt treffen konnte.

Die meiste Zeit seines Lebens hatte Dolphin sich geschämt, in Berlin geboren zu sein. Sein Vater Winston Segal Dolphin war Brite und arbeitete an der Humboldt-Universität als Lektor für englische Sprache und Literatur. Zur Entbindung wollte seine Mutter Elizabeth, die aus Cambridge stammte, nicht ohne ihren Mann nach England fahren. So kam es, dass Segal Dolphin in einem Gartenhaus am Savignyplatz zur Welt kam und dank den Bemühungen des Generalkonsuls zum Untertan Seiner Majestät des Königs wurde.

Als Kind hatte er seinen Vater gefragt, woher der Nachname stamme, was nie befriedigend geklärt werden konnte. Auf Deutsch hieß es Delfin. Und Delfine gab es nicht einmal im Zoologischen Garten.

Umso seltsamer war, dass sein Großvater Malcolm Dolphin Walfänger gewesen war. Er hatte blaue Augen. Das war Vater wichtig. Ansonsten schien er froh zu sein, dass der Ärmelkanal zwischen ihm und seinem Erzeuger lag. Weit weg von dem Tranöl, das ihm als Kind eingeflößt worden war.

Winston war aus der Art geschlagen. Statt Wale zu jagen, kam er, ausgestattet mit einem Stipendium der Universität Oxford, nach Europa, wo ein Strohhut mit grün-weiß-roten Bändern Zeuge für den Studienaufenthalt in Neapel war, während ein Kochbuch, mit unzähligen Varianten der berühmten Klopse, auf die Zeit in Königsberg verwies. Schließlich Berlin, wo ihm der Professorentitel verliehen wurde.

In seinen Stolz mischte sich Dankbarkeit, und so sprach er mit seinem Sohn bis zu dessen fünftem Geburtstag nur deutsch. Dann schickte er Segal mit der Mutter zum Englischlernen nach Cambridge. Nach einem Jahr Winstons Entzücken über die Sprachfertigkeit seines Sohnes. Und schließlich, im August 1914, die grässliche Gewissheit, dass er und seine Familie überrascht worden waren. Der Krieg. England gegen Deutschland. Sie saßen in der Falle, und Segal war mit einem Mal der Feind.

Ein Junge aus seiner Klasse beschloss, den dreckigen Engländer Mores zu lehren. Er traktierte ihn so lange mit einer Eisenstange, bis Dolphin zu Boden ging und sich beim Fallen die Zunge durchbiss. In seinem Mund explodierte ein Schmerz aus Splittern und Kanten, Zähne zerfetzten das Fleisch, und er brüllte, wie er sich noch nie hatte brüllen hören. Dolphin wusste nicht, wie er nach Hause gekommen war. Er brachte kein Wort heraus.

Der Hausarzt Dr. Benjamin sagte, es handle sich um einen Teilabriss, man müsse ständig kühlen und Geduld haben. Seine Mutter war außer sich. Sie schrie den Doktor an, er müsse auf der Stelle etwas tun. Doch Geld für eine Behandlung in der Charité hatten sie nicht. So dauerte es Wochen, bis er wieder zaghaft zu beißen versuchte. Zurück blieb eine Stelle, die für sein Gefühl niemals richtig verheilt war. Er konnte den Riss fühlen, vor allem, wenn etwas zu heiß war, und es blieb eine Verunsicherung, die er nicht in Worte fassen konnte.

Weil sein Vater es ablehnte, sich als Deutscher naturalisieren zu lassen, wurde er als feindlicher Ausländer interniert.

Mutters Gesicht war eine einzige Sorge.

Die ständige Angst, ertappt zu werden.

Sie bewegten sich wie Diebe durch die Tage.

Drei Jahre lang schreibt der Vater Bittschriften, bis die Behörden nachgeben und die Familie im Mai 1917 nach England ausreisen darf.

In London fühlt Segal sich als Flüchtling. Ein Jugendlicher, der nicht ganz sicher ist, ob er dort wirklich hingehört.

Das Rudern hilft, auch für das College in Oxford, wo er mit dem Achter bei der Henley-Regatta triumphiert. Dann das enttäuschende magna cum laude im Schlussexamen, auch die Bestnote in Germanistik kann kein summa herbeizaubern.

Schließlich das Schicksal in Gestalt eines kleinen Mannes mit wuchtigem Schädel und buschigen Brauen, der ihn grinsend fragt: »Mr. Dolphin, möchten Sie für den Daily Standard nach Berlin gehen?«

Was Lord Bakerfield in ihm sah, wusste er nicht so recht einzuschätzen. Ebenso wenig, wie er zu der Ehre kam, dass der Verleger ihn anlässlich der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags in den Colony Room einlud, der hinter einer Enfilade aus Empfangssalon, Bibliothek und Arbeitszimmer lag und nur wenigen Auserwählten vorbehalten war, wie ihm die Sekretärin zugeflüstert hatte.

Der Saal war mit einer Täfelung aus Tropenholz und Ledersesseln ausgestattet, und nachdem man in ihnen versunken war, wies der Lord auf die Trophäen, die effektvoll illuminiert waren. Mit dem Stolz des Großwildjägers betrachtete er Löwen- und Leopardenfelle, Elefantenstoßzähne, Nashornkopf und Büffelschädel und klärte Dolphin darüber auf, dass es sich um die Big Five handelte. Ein fragender Blick genügte, um zu erfahren, dass sich die Größe nicht in erster Linie auf die Statur der Tiere bezog, sondern vorwiegend auf die damit verbundenen Gefahren bei der Jagd.

Besonderes Vergnügen bereitete ihm darüber hinaus die Tatsache, dass er seine Beute auf dem Boden der Südafrikanischen Union, notabene im früheren Deutsch-Südwestafrika, erlegt habe. So seien es auch Trophäen, die ihn für immer an das schmachvolle Ende von Wilhelm dem Zweiten erinnerten, der, obgleich ein Enkel Königin Victorias, die Niedertracht besessen hatte, das United Kingdom anzugreifen.

Lord Bakerfield gluckste und zeigte auf die Masken an der Wand gegenüber, die im Schein des Kaminfeuers lebendig wurden und darauf zu warten schienen, ob sich auch die präparierten Tiere regten. Helm-und Kopfaufsatzmasken, kommentierte er fachmännisch, die meisten aus dem letzten Jahrhundert, aber keine nach 1918, doch das Amüsante daran sei, dass auch sie aus einer ehemaligen deutschen Kolonie stammten.

Da ihm nicht verborgen blieb, dass sein Gast sich nicht vom Anblick der Objekte losreißen konnte, fragte er diesen, ob er raten wolle.

Dolphin zuckte zusammen. Wie stumme Zuschauer schienen sie die Szenerie zu mustern. Antlitze, deren Träger verschwunden und doch anwesend waren.

Nach einer Pause sagte er schnell: »Deutsch-Ostafrika«, und als der Verleger die Stirn runzelte, verbesserte er sich, nein, »Kamerun« müsse es heißen, was mit einem anerkennenden Nicken quittiert wurde. Schließlich ließ der Lord die Sekretärin kommen, nahm Mappe samt Füllfederhalter entgegen und legte Dolphin den Vertrag zur Unterschrift vor, bevor er ihn mit einem launigen good luck entließ.

5

Auch als er am folgenden Tag am Schreibtisch saß, ging ihm die Schwimmerin nicht aus dem Kopf. Wo steckte sie bloß? Dolphin schaute zum soundsovielten Mal hinüber zur Wand. Neben einer Weltkarte tickten dort fünf Uhren, die er jeweils mit einem Schild versehen hatte: Berlin, London, Sydney, Ottawa und Kapstadt. Er wollte seine Besucher beeindrucken, sie mochten darin das Reich des Daily Standard erkennen, in dem, gleich dem British Empire, die Sonne niemals unterging.

In London war es jetzt 14.57 Uhr. Er musste etwas tun, es wenigstens versuchen. Er rief den Chef vom Dienst an, um ihm mitzuteilen, dass er womöglich Adolf Hitler an einem Wochenende nach Berchtesgaden begleiten könne, als erster ausländischer Journalist überhaupt, doch der Redaktionsleiter befand sich in einer Besprechung. Dann wartete er auf seinen Rückruf.

Kein Geringerer als SA-Chef Röhm hatte Dolphin versprochen, den Führer, einen Duzfreund aus alten Kampftagen, um ein Exklusivinterview zu ersuchen, nachdem er den englischen Reporter in seine Lieblingsbars geführt hatte. Dort trugen junge Männer Perücken, Gummibrüste und Schminke, und Röhm ließ seinen Blick über ihre knochigen Körper gleiten, als er, wie aus einer Spendierlaune heraus, seine Berchtesgaden-Offerte unterbreitete. Würde er sich überhaupt noch daran erinnern, und mehr noch: Wort halten? Und falls ja: Befände Dolphin sich dann überhaupt noch in Deutschland?

Erneut griff er zum Hörer, nur um zu erfahren, dass der Chef vom Dienst bereits zu einem anderen Termin aufgebrochen sei.

Dolphin schaltete die Schreibtischlampe an, schaltete sie aus. Draußen fiel Schneeregen. Der Kippschalter ging ziemlich schwer. Welch lächerliche Kraft war nötig, um Licht in die Welt zu bringen. On, Off, er wiederholte das Spiel.

Er schaute zur Uhr. In makelloser Parallelität waren die fünf Uhrzeiger auf vier Kontinenten um eine Minute vorgerückt. Wie wäre es, wenn er in den großen Berliner Zeitungen, eine Suchanzeige schalten würde? Aber las sie überhaupt jene Rubrik im hinteren Teil des Blatts, mit dem für die Deutschen so typisch bürokratischen Terminus Anschlussgesuche? Ihm würde fürs Erste die Nummer ihres Anschlusses genügen.

Nach einer weiteren Stunde reichte es ihm. Er hatte das Gefühl, dass die Welt sich in einen Wartesaal verwandelt hatte. Die Schwimmerin war abgetaucht. Hugo von Ernst meldete sich nicht. Ebenso der Chef vom Dienst. Kein Zeichen, trotz mehrmaligen Nachfragens, vom Kaiser-Wilhelm-Institut. Offenbar war immer noch nicht klar, wann der Direktor zurückkehren würde.

Kurz entschlossen fuhr er ins Romanische Café. Wenn die Welt schon einem Wartesaal glich, konnte man ebenso gut den verheißungsvollsten in Berlins Kulturwelt aufsuchen.

Er bekam ein Tischchen in der Nähe der Kuchentheke zugewiesen, die von einer Säule im romanischen Stil flankiert wurde. Es wurmte ihn, dass er vom Kellner im Hauptraum platziert wurde, den die berühmten Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Regisseure oder Journalisten Bassin für Nichtschwimmer nannten. Hier drängelten sich Leute, die seit Jahrzehnten nicht müde wurden, tagtäglich auf das Talent zu warten, wie der Schriftsteller Erich Kästner bemerkt hatte. Seinesgleichen residierte im Nebenraum. Dolphins Prominentenradar hatte erst kürzlich auf engstem Raum Dix, Remarque und Fritz Lang geortet. Verstohlen schaute er in diesen Bezirk, wo die Arrivierten sich lässig zuprosteten. Die Ungezwungenheit ihres Auftretens, die Gleichzeitigkeit fremder Blicke und scheinbarer Selbstvergessenheit, das alles trug zum Eindruck einer Natürlichkeit bei, die unverstellter nicht sein konnte. Man bewegte sich, als sei man im eigenen Wohnzimmer, nur mit dem Unterschied, dass dieses im Bewusstsein der Protagonisten in die Kulissen eines Filmstudios verlegt worden war.

Dolphin bestellte Kaffee und verlangte Ham and Eggs. Es verschaffte ihm Genugtuung, dass der blasierte Kellner ihn erst auf Nachfrage verstand.

Er strich über die kühlen Adern des Marmortischs. Bäche, Flüsse, ganze Deltas verzweigten sich, die ins Meer, ins Tiefe, ins Offene führten. Dann blätterte er in seinem Notizheft, in dem er Material für sein Berlin-Buch sammelte. Es sollte einen großen Atem haben. Und so hatte er es sich angewöhnt, auch die Nebensächlichkeiten festzuhalten, die Stimmungen und Gefühlsfarben, die er zum Ausschmücken seiner Geschichte brauchte. Es war wie bei einem Detektiv, jedes Detail konnte sich im Nachhinein als wichtig erweisen.

Schon lange war ihm klar: Wenn er den nächsten Schritt machen wollte, musste er etwas Größeres schaffen als die Artikel für den Standard. Er wollte nicht nur Zaungast am Bassin für Schwimmer sein.

In seinem Heft notierte er: Berlin im November 1930. Dann überlegte er fieberhaft, welches Thema er wählen sollte. Das Treffen mit Röhm? Ihm fehlte die Lust dazu. Er müsste vielmehr über die Schwimmerin schreiben und den Abend bei Hugo von Ernst. Die Spekulanten, Offiziere, Politiker, Künstler. Das Bassin, in dem Kaviarfässchen schwammen. Ihr nasser Bubikopf. Alles hatte sich im Glanz der Spiegel und Lüster gedreht. Der Rausch hatte sie in sein Schlafzimmer getragen, wo er sich, wie aus dem Nichts, in eine Nüchternheit verwandelte, die der Ausleuchtung in einem Operationssaal glich. Dolphin sah sie vor sich, wie sie sich systematisch perforierte, als wolle sie sich für etwas durchlässig machen, das sie noch nicht kannte. Mit ihrem Blick hielt sie ihn fest, wie sie ihn, hoch oben auf dem Barhocker balancierend, hatte bannen wollen mit der Leica. Er wusste kaum noch, was sie gesprochen hatten, all die Stunden. Sie hatte ein Netz aus Worten um ihn gesponnen, die immer noch nachklangen. Er wusste nicht, wer sie war und wo sie wohnte, niemand schien sie zu kennen, bis auf diese Schweizer Geliebte, die sie ganz hatte für sich haben wollen.

Dolphin klappte das Notizbuch zu, ohne eine Zeile geschrieben zu haben. Es war schwer, für solche Dinge eine Sprache zu finden. Er beschloss, zur Kuchentheke zu gehen, um sich ein Dessert auszuwählen. Über die Schlange davor war er nicht unglücklich, konnte man doch von hier aus einen Blick in den Nebenraum werfen.

Dass Brecht da war, erstaunte ihn nicht. Er saugte an einer zeppelinhaften Zigarre, die er sich gerade von einem Kellner anzünden ließ. Nicht weit weg davon saß der Film- und Literaturkritiker Willy Haas und schrieb, begleitet vom gelegentlichen Nippen an einem Likör, in eine Kladde.

Ein Gast, der, etwas abseits, an einem Marmortischchen Hof hielt, irritierte ihn. Es war ein breitschultriger Schwarzer in Nadelstreifenanzug. Er ließ gerade einen Stock aus Ebenholz so durch seine Finger gleiten, als gebe er mit dem silbernen Knauf den Takt an. Etwas von der Art eines Tambourmajors schwang mit, nur folgte er einem eigenen Rhythmus, der mit jenem der Märsche nichts gemein hatte. Er war umringt von einer Handvoll junger Frauen, die an seinen Lippen hingen, jederzeit bereit, in Gelächter auszubrechen, wenn die Lippen sich schürzten und das Signal für eine Pointe gaben. Er zog die Blicke auf sich und die Welt mit seinen Blicken an. Und als er sein Auge auf den Rücken des Obers warf, drehte der sich um, als sei er gerufen worden.

Dolphin konnte sein Profil sehen. Jetzt war er sich sicher, dass es sich bei dem Herrn im Maßanzug um Louis Brody handeln musste. Ohne Turban und indisches Gewand war er kaum wiederzuerkennen. Er bezahlte, setzte einen samtweichen Fedora-Hut auf und ging zu Haas, worauf der Journalist aufstand, ihm lange die Hand schüttelte und mit einem Klaps auf die Schulter verabschiedete.

Dolphin fuhr zurück ins Büro und versuchte, Ella zu erreichen. Niemand nahm ab. Er war erleichtert. Doch irgendwann würde er mit ihr reden müssen.

Er schaltete die Schreibtischlampe ein. Ihm fehlte die Lust, die Einladungen durchzugehen, die sich zum Wochenende hin naturgemäß häuften. Sein Blick fiel auf die Mappe mit den Filmrezensionen, die seine Sekretärin herausgesucht hatte. Müde blätterte er in den Zeitungsausschnitten, die umso gelbstichiger wurden, je länger sie zwischen Aktendeckeln begraben lagen. Und siehe da, auf schlechtem, holzhaltigem Papier hatte ausgerechnet Willy Haas vor vielen Jahren eine Kritik über die Verfilmung von Schillers Verschwörung des Fiesco zu Genua verfasst:

Eine der besten Leistungen, wahrscheinlich die stärksten überhaupt, war der Neger Musley Hassan des Lewis Brody: fleischig, verschlagen, bärenstark, mit der fast gutmütigen Ausgewitztheit des schillerschen Originals. An ihm, und vielleicht nur an ihm, ließe sich zeigen, wie viel von Schiller zum Film hinüberzuretten gewesen wäre – ungeheuer viel.

Dolphin rieb sich die Augen. Ein Afrikaner als Retter der Klassik. Vielleicht sollte er ein Porträt über Brody schreiben. Lord Bakerfield, dessen war er sich sicher, wäre auf jeden Fall dagegen. Und ihn zu überzeugen, war im Moment jedenfalls vergebliche Liebesmüh.

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22 декабря 2023
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304 стр. 8 иллюстраций
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9783963115929
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