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In einer Variation des Experiments (Heltzer & Vyse, 1994) waren wieder alle Wege gleich zulässig, um Punkte zu erringen, solange sie nur in das rechte untere Eck führten. Allerdings erhielten die Vpn wieder nur während der Hälfte der Durchgänge Punkte. Die eine Hälfte der Vpn scorte jedes zweite Mal, wenn sie die untere rechte Ecke erreicht hatte. Die andere Hälfte bekam ebenfalls in 50 Prozent der Durchgänge Punkte zugeteilt, die belohnten Durchgänge wurden allerdings zufällig ausgewählt. Die Vpn mussten jetzt nicht nur einfach versuchen, ihre Punkteanzahl zu maximieren, sondern sollten herausfinden, wie das Spiel funktionierte. In Abhängigkeit von den Bedingungen zeigten sich große Unterschiede in den geäußerten Theorien. Fast jede Vp, die bei jedem zweiten korrekten Durchgang belohnt wurde, äußerte eine richtige Theorie, wohingegen die zufällig belohnten Vpn z. T. bizarre Beschreibungen des Spiels abgaben. Viele Vpn meinten, dass es nur einen einzigen zulässigen Weg ins Ziel gäbe, andere formulierten noch komplexere Theorien, wonach es mehrere richtige Wege gäbe, bei jedem Durchgang aber immer nur eine Lösung zulässig wäre.

Nach Vyse (1997) entspricht der alltägliche Aberglaube, der sich in Maskottchen, glücksbringenden Schreibwerkzeugen oder Kleidungsstücken manifestiert, der Konditionierung sensorischen Aberglaubens, die Morse und Skinner (1957) nachwiesen. Wieder wurden hungrige Tauben in einen kleinen Käfig gesetzt. Nach einem fixen Intervallplan wurde der Zugang zu den Futterkörnern durch Pecken auf eine Futtertaste für einige Sekunden freigegeben. Unter einer solchen Bedingung peckten die Tauben während der ganzen Sitzung in relativ konstanter und mäßiger Geschwindigkeit auf die Futtertaste. Während des Experiments war die meiste Zeit ein orangefarbenes Licht zu sehen. In unregelmäßigen und großen Zeitabständen wurde das orangefarbene Licht für vier Minuten durch ein blaues Licht ersetzt. Das Auftreten des blauen Lichts war völlig unabhängig vom Intervallplan, der die Futtergabe steuerte. Dennoch trat nach einiger Zeit bei Vorhandensein des blauen Lichts ein dramatischer Anstieg der Rate des Peckens auf die Futtertaste ein. Die Tauben behandelten das blaue Licht so, als ob es eine bestimmte Bedeutung hätte und Futtergabe signalisieren würde. Nach einiger Zeit jedoch konnte dieses „abergläubische“ Verhalten der Tauben leicht in das Gegenteil umschlagen: Die Tauben peckten jetzt in einer wesentlich langsameren Rate auf die Futtertaste. Die Bedeutung des blauen Lichts hatte sich geändert, so als würde aus einem Glücksbringer ein Ankündigungssignal für Unglück.

1.3 Kognitive Wende

1.3.1 Kritik am behavioristischen Paradigma

Edward Tolman war vielleicht der Erste, der eine alternative Theorie zum Konditionierungsparadigma aufstellte. Er nahm an, dass Versuchstiere lernen, eine Beziehung zwischen ihrem eigenen Verhalten und der Reaktion herzustellen. Während Pawlow und die Stimulus-Response-Theoretiker annahmen, dass eine Verbindung zwischen Reizen vor dem Verhalten und nachfolgenden Reaktionen aufgebaut würde, nahm Tolman an, dass die Reaktionen und die Konsequenzen auf die Reaktionen verknüpft würden. Tolmans Hauptwerk „Purposive behavior in animals and men“ (Tolman, 1932) stand im Widerspruch zum damals dominierenden behavioristischen Ansatz: „Begriffe wie Hypothesen, Gelehrigkeit, Mittel-Ziel-Bereitschaft, Zeichen-Gestalt-Erwartung und kognitive Landkarten vermitteln den Eindruck einer völlig unwissenschaftlichen Untersuchung von Verhalten, eines Ansatzes, der damals drohte, alle hart umkämpften Positionen der behavioristischen Revolution preiszugeben“ (Mackintosh, 1977, S. 165). Er entwickelte auch das Konzept der kognitiven Landkarten (eine innere Repräsentation des Weges), nachdem er beobachtet hatte, dass Ratten einen Weg durch ein Labyrinth selbst dann lernen können („latentes Lernen“), wenn sie nicht am Ende des Wegs belohnt werden.10

Es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis der Behaviorismus als führendes Paradigma zu erodieren begann. Nach und nach setzte sich aber verbreitet die Ansicht durch, dass ohne die Berücksichtigung innerer Prozesse das menschliche Verhalten nur unzureichend verstanden werden kann. Am prägnantesten hat das Unbehagen an der behavioristischen Psychologie vielleicht Noam Chomsky ausgedrückt: „It is quite possible – overwhelmingly probable, one might guess – that we will always learn more about human life and human personality from novels than from scientific psychology“ (Chomsky, 1988, S. 159). Wenn man ehrlich ist, muss man dem Satz auch heute noch zustimmen. So findet man in der Literatur viele Phänomene geschildert, die

in der wissenschaftlichen Psychologie – so überhaupt – nur sehr randständig behandelt werden: die Macht des unwillkürlichen Erinnerns zum Beispiel, die Macht der mémoire involontaire, die, ausgelöst durch zufällige Sinneswahrnehmungen, den Schreibfluss des Ich-Erzählers in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in Gang bringt und über dreitausend Romanseiten hinweg auch in Gang hält. (Benetka, 2012, S. 4)

Die ursprüngliche Idee, dass die Psychologie so wie jede andere große Wissenschaft mit einer fixen Bezugsgröße beginnen müsse, nämlich dem Reflex, aus der sich dann alle komplexen Phänomene ableiten ließen (Bruner, 1960),11 war lange Zeit erfolgreich, aber letztlich dem menschlichen Verhalten unangemessen:

The notions of „stimulus“, „response“, „reinforcement“ are relatively well defined with respect to the bar-pressing experiments and others similarly restricted. Before we can extend them to real-life behavior, however, certain difficulties must be faced. We must decide, first of all, whether any physical event to which the organism is capable of reacting is to be called a stimulus on a given occasion, or only one to which the organism in fact reacts […]. (Chomsky, 1959, S. 23)

Neue Ideen wurden entwickelt. Miller, Galanter und Pribram (1960) zeigten, dass Menschen ihr Verhalten nach Plänen ausrichten. Bartlett (1932) hatte mit seinem Konzept des Schemas für Handlungen hier schon frühe Vorarbeiten geleistet. Ausgehend von kybernetischen und informationstheoretischen Theorien war für Miller et al. (1960) nicht mehr der Reflex die grundlegende analytische Einheit, sondern die abstrakte re TOTE-Einheit (TOTE steht für Test-Operate-Test-Exit). Betrachten wir zur Veranschaulichung die Handlung (Operation) des Einschlagens eines Nagels. Das Hämmern (= Operation) wird solange ausgeführt, bis die Überprüfung (Test) ergeben hat, dass der Nagel eingeschlagen ist, dann erfolgt der Abbruch der Handlung (Exit). Menschliches Verhalten sollte aus solchen regelkreisartigen TOTE-Einheiten zusammengesetzt sein. Diese Überlegungen hatten einen großen Einfluss auf Theorien der Handlungsregulation.

Die Computer-Metapher als Bild für den menschlichen Geist wurde zunehmend attraktiv. Informationsverarbeitung hieß das neue Schlagwort. Computerprogramme (wie der „General Problem Solver“ von Newell, Shaw & Simon, 1959) sollten veranschaulichen, wie menschliches Denken funktioniert.

Auch Jerome Bruner (1915–2016) hatte entscheidenden Anteil am „New Look“. Dabei handelt es sich um den „neuen Blick“ auf die Wahrnehmung – mit der Idee, dass innere Prozesse wie Erwartungen, Wissen und Bedürfnisse auch unsere Wahrnehmung beeinflussen. In einer berühmten Studie (Bruner & Goodman, 1947) zeigte er, dass Kinder die Größe von gesehenen Münzen beim Zeichnen aus der Erinnerung überschätzten, wenn diese wertvoll waren, und besonders, wenn die Kinder aus armen Verhältnissen kamen. In späteren Arbeiten wandte sich Bruner zunehmend dem „Sinn“ und der Entstehung von „Bedeutung“ zu (Bruner, 1997): „Es ist ja gerade die Teilhabe des Menschen an einer Kultur und die Verwirklichung seiner mentalen Kräfte durch eine Kultur, die es unmöglich machen, eine Psychologie des Menschen nur vom Individuum her aufzubauen“ (Bruner, 1997, S. 31). Anstelle einer Psychologie aus Sicht des Individuums verfolgte er die Idee einer „Kulturpsychologie“.

Der zentrale Unterschied zwischen behavioristischen und kognitiven Theorien besteht darin, dass sich behavioristische Theorien auf beobachtbares Verhalten beschränken. Sie interessieren sich dafür, welche Vorgänge in der Umwelt (Reize) welche Vorgänge auf der Verhaltensseite verursachen. Der Organismus selbst wird dabei als Blackbox betrachtet (s. Abbildung 22). Für die inneren Vorgänge interessieren sich Behavioristen nicht, weil sie nicht genau und objektiv zu erfassen sind.


Abbildung 22: Das Blackbox-Modell im Rahmen des Behaviorismus.

Kognitive Theorien wiederum interessieren sich auch für die inneren vermittelnden Prozesse im Organismus zwischen den Reizen und dem Verhalten. Dazu gehören Variablen wie Einstellungen, Werthaltungen, Erwartungen oder Gefühle und vieles andere mehr.

1.3.2 Die Lerntheorie von Bandura

Albert Bandura (* 1925, s. Abbildung 23) wendet sich in seiner Theorie gegen die behavioristische Annahme, dass Lernvorgänge nur durch den Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion verstanden werden können.

Er stellt folgende Kernannahmen auf (Bandura, 1986):

(1) Stellvertretende Prozesse sind neben unmittelbarer Erfahrung die zweitwichtigste Quelle von Erfahrungen.

(2) Symbolische Prozesse machen die Vorstellung von Ereignissen möglich und erlauben Analysen und Planungen. Menschen müssen ein Verhalten nicht unbedingt ausprobieren, sie können es auch symbolisch (d. h. gedanklich) vorwegnehmen.

(3) Selbstregulierende Prozesse laufen ab, wenn Menschen nicht direkt auf äußere Einflüsse reagieren, sondern Reize auswählen und diese organisieren, umformen usw.


Abbildung 23: Albert Bandura (* 1925).

Bandura wendet sich damit eindeutig gegen das zu seiner Zeit dominante mechanistische Menschenbild. Für ihn ist das Charakteristische beim Lernen, dass höhere kognitive Prozesse beteiligt sind.

In seiner Theorie des Modelllernens führt er aus, dass Menschen lernen können, indem sie andere Menschen beobachten. Die beobachtete Person ist das Modell, der Beobachter ist die lernende Person. Wird eine andere Person beobachtet, wie sie für ein bestimmtes Verhalten belohnt (verstärkt) wird oder ein Verhalten erfolgreich durchführt (auch das kann schon als stellvertretende Verstärkung verstanden werden), erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst das Verhalten durchführt. Man spricht hier auch von stellvertretender Verstärkung, weil die Modellperson stellvertretend für einen selbst belohnt wird. Der Vorteil des Lernens durch Beobachtung ist, dass die Person das Verhalten nicht selbst durchführen muss und dennoch a) schnell und b) ohne Gefahr lernen kann.

Lernen am Modell ist nur durch die Annahme von inneren Prozessen verstehbar. Bandura (1986) nennt vier Teilprozesse in folgender Reihenfolge:

a) Aufmerksamkeit: Wie aufmerksam eine Modellperson betrachtet wird, hängt von ihrer Auffälligkeit (Salienz), von ihrer affektiven Valenz (wie bewertet man die Modellperson, ist sie einem sympathisch) und vom funktionalen Wert ihres Verhaltens ab (ist das beobachtete Verhalten nützlich für den Beobachter, kann er selbst etwas damit anfangen).

b) Gedächtnis: Wie gut ein beobachtetes Verhalten gelernt wird, hängt davon ab, wie gut es im Gedächtnis abgespeichert wird, und das wiederum ist von der Enkodierung und von der Wiederholung (tatsächlich oder in Gedanken) des beobachteten Verhaltens abhängig.

c) Verhalten: Wie gut ein beobachtetes Verhalten reproduziert werden kann, hängt auch von den motorischen Fähigkeiten des Beobachters ab bzw. davon, wie gut er selbst bereits das Verhalten beherrscht.

d) Motivation: Wie oft ein beobachtetes Verhalten imitiert wird, hängt auch von der Verstärkung bzw. Bestrafung des Verhaltens (hat man selbst Erfolg, wenn man ein Verhalten imitiert, wird man dafür gelobt oder getadelt), von der stellvertretenden Verstärkung, von Selbstverstärkung und Selbstbestrafung sowie von den Effizienzerwartungen ab.

In der ursprünglichen Version der Theorie des Modelllernens wurde angenommen, dass sich die Häufigkeit des Verhaltens v. a. aus den Konsequenzen (Verstärkung/Bestrafung) ableitet, die das Verhalten nach sich zieht. Später hat Bandura die Effizienzerwartungen (Erwartungen in Bezug auf die Selbstwirksamkeit) als weitere Variable hinzugefügt, die bestimmt, ob ein Verhalten tatsächlich ausgeführt wird (Bandura, 1977). Effizienzerwartungen sind subjektive Wahrscheinlichkeiten dafür, ob man imstande ist, das Verhalten gut durchzuführen, welches notwendig ist, um die erwartete Konsequenz hervorzurufen. Effizienzerwartungen können hoch oder niedrig sein. Sie hängen (1) von eigenen Erfahrungen, (2) von der Beobachtung (aus der Beobachtung vergleichbarer Personen zieht man Schlüsse auf seine eigene Kompetenz), (3) von sprachlicher Kommunikation (Rückmeldungen über das eigene Verhalten beeinflussen die Effizienzerwartungen) und (4) von der Aktivierung (je höher die Aktivierung oder Erregung, desto niedriger ist die Effizienzerwartung) ab.

Wenn z. B. ein Student vor einem Auftritt sehr nervös ist, wird das seine Erwartung, die Prüfung gut bewältigen zu können, negativ beeinflussen. Effizienzerwartungen beeinflussen a) die Wahl der Reize und Situationen, die wir aufsuchen, b) die Wahl der Verhaltensweisen, die wir durchzuführen versuchen, und c) den Grad der Ausdauer, mit der ein Verhalten auch unter ungünstigen Bedingungen ausgeführt wird.

In einem klassischen Experiment (Bandura, 1965) sahen 66 Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren einen Film, in dem eine erwachsene Modellperson eine lebensgroße Plastikpuppe namens Bobo malträtiert (schlägt, tritt und beschimpft), die ihr nicht aus dem Weg geht (s. Abbildung 24). Es gab drei Versuchsbedingungen, in denen die Vpn jeweils ein anderes Ende des Films sahen:

(1) Stellvertretende Belohnung: Die Modellperson wird am Ende des Films von einer anderen Person gelobt und mit Süßigkeiten belohnt.

(2) Stellvertretende Bestrafung: Die Modellperson wird am Ende des Films durch Schläge und Drohungen bestraft.

(3) Version ohne Folgen für die Modellperson.


Abbildung 24: Szenen aus dem vorgeführten Film von Bandura (1965, oberste Reihe), darunter sind die Reaktionen der beobachtenden Kinder zu sehen (aus Gazzaniga & Heatherton, 2003).

Nach dem Sehen des Films wurden die Kinder in ein Spielzimmer gebracht, das Gegenstände aus dem Film enthielt (Holzhammer, Puppe etc.). Daraufhin wurde die Zahl der nachgeahmten Verhaltensweisen registriert, welche die Kinder jeweils praktizierten.

Es zeigte sich, dass bei den spontan registrierten Aggressionen die Versuchsbedingung einen großen Einfluss hatte. In der Bedingung „stellvertretende Bestrafung“ wurden deutlich weniger aggressive Verhaltensweisen registriert als in den anderen Bedingungen. Anschließend wurde den Kindern für jede richtig erinnerte Handlung eine Belohnung in Aussicht gestellt. Dabei zeigte sich, dass die Kinder in der Bedingung „stellvertretende Bestrafung“ das aggressive Verhalten genauso gut gelernt hatten wie die beiden anderen Gruppen und es daher auch reproduzieren konnten (s. Abbildung 25). In allen Bedingungen wurde das Verhalten gut gelernt. Stellvertretende Verstärkung bzw. Bestrafung wirkt sich also nicht auf das Lernen, sondern auf das Verhalten aus.


Abbildung 25: Anzahl aggressiver Handlungen der Kinder in der Studie von Bandura (1965) in Abhängigkeit von der Bedingung und dem Anreiz (mit/ohne).

1.4 Gedächtnis

Was ist das Gedächtnis? Wie lässt es sich definieren? „Ihr Gedächtnis ist der Speicher des Mentalen, das Reservoir all dessen, was Sie im Lauf ihres Lebens lernen“ (Myers, 2008, S. 380). Die Annahme, dass es sich beim Gedächtnis um einen Ort handelt, in dem Wissen gespeichert ist, gilt den meisten Menschen als selbstverständlich. Im Laufe der Geschichte wurden viele Metaphern für das Gedächtnis verwendet, so die von einem Vogelhaus, einer Wachstafel, einem Haus, einem Grammophon, einer Flasche, dem Magen einer Kuh, einem Wörterbuch, einer Bibliothek, einem Tonband oder einem Computerprogramm (Roediger, 1980).

Wie immer man sich die Funktionsweise des Gedächtnisses auch vorstellen mag, alle gegenwärtigen Gedächtnisforscher gehen davon aus, dass die Information im Gehirn gespeichert wird. Folgt man aber den Überlegungen von Bennett und Hacker (2010), dann äußert sich in einem solchen Denken der mereologische Fehlschluss. Dem Gehirn wird eine Fähigkeit zugeschrieben, über die tatsächlich nur der Mensch verfügt. Der Mensch erinnert sich, merkt sich und vergisst:

Von einem Buch können wir sagen, dass es das gesamte Wissen der Lebensarbeit eines Gelehrten enthält, oder von einem Aktenschrank, dass er alles verfügbare, ordnungsgemäß katalogisierte Wissen über Julius Cäsar enthält. Das heißt, dass auf den Buchseiten oder den Registerkarten im Aktenschrank Ausdrücke einer großen Zahl bekannter Wahrheiten niedergeschrieben wurden. In diesem Sinne enthält das Gehirn kein Wissen, welcher Art auch immer. Es gibt keine Symbole im Gehirn, die durch ihre Anordnung eine einzelne Proposition ausdrücken, geschweige denn eine als wahr aufgefasste Proposition. (Bennett & Hacker, 2010, S. 201)

Nach Neisser (1982, S. 327) bezeichnet das Wort „remember“ (erinnern) zwei unterschiedliche kognitive Vorgänge: „remembering what we must do“ und „remembering what we have done“. Die Erinnerung an Tätigkeiten, die zu einem späteren Zeitpunkt in der Zukunft ausgeführt werden sollen, wird als prospektives Gedächtnis bezeichnet (z. B. die Erinnerung, eine Verabredung einzuhalten oder am Abend ein Medikament einzunehmen), die Erinnerung an Vergangenes als retrospektives Gedächtnis. Während das retrospektive Gedächtnis im Zentrum der klassischen Gedächtnisforschung steht, wird das prospektive Gedächtnis erst seit wenigen Jahrzehnten intensiv erforscht.

1.4.1 Die Gedächtnisforschung von Ebbinghaus

Ein Pionier der Gedächtnisforschung ist Hermann Ebbinghaus (1850–1909, s. Abbildung 26). Er experimentierte mit sinnlosen Silben, und zwar sogenannten Trigrammen (ein Konsonant gefolgt von einem Vokal und noch einem Konsonant, z. B. LUK oder GIM). Dabei entwickelte er einen Pool von 2300 Silben. Als Grund für die Verwendung der sinnlosen Silben gab er an, dass diese einfach, gleichartig und „frei von störenden Einflüssen“ wären, Vorwissen also keine Rolle spielte. Ebbinghaus experimentierte mit sich selbst, er selbst war also seine einzige Vp. Die Grundmethode bestand darin, die Silben laut vorzulesen (in einem Tempo von ca. 2,5 Silben pro Sekunde) und danach zu versuchen, sie in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben.


Abbildung 26: Hermann Ebbinghaus (1850–1909).

Genauer wandte er zwei Methoden an, die Erlernmethode, bei der die Anzahl der Lerndurchgänge bis zu einem festgelegten Kriterium (z. B. Wiedergabe von 100 % der gelernten Silben) gezählt wurden, und die Ersparnismethode, bei der nach einem erfolgreichen Lernen und nach einer verstrichenen Zeit (z. B. 24 Stunden später) gemessen wurde, wie viele Lerndurchgänge beim Wiederlernen der Silbenfolge benötigt werden, um abermals das festgelegte Lernkriterium zu erreichen.

Dazu ein Beispiel (aus Ebbinghaus,1885, S. 57 f.):

(1) Ebbinghaus lernte zunächst acht Reihen zu je 13 KVK-Silben (KVK steht für Konsonant – Vokal – Konsonant), bis die Silbenlisten zweimal fehlerfrei in richtiger Reihenfolge reproduziert werden konnten. Dafür benötigte er 1156 Sekunden, also knapp 20 Minuten.

(2) Nach 20 Minuten lernte er die Silbenlisten erneut, bis zweimal eine korrekte Reproduktion möglich war. Die Dauer betrug diesmal nur 467 Sekunden. Die Ersparnis lag also bei 1156 – 467 = 689 Sekunden, was eine prozentuelle Ersparnis von 689/1156 = 64,3 % bedeutet. Ebbinghaus sparte also beim zweiten Lernvorgang 64,3 % der Lernzeit. Nach einem Tag Pause belief sich die Ersparnis allerdings nur mehr auf 33,8 % (s. Abbildung 27).

Die wichtigsten beiden Forschungsergebnisse von Ebbinghaus waren:

(1) Je öfter eine Liste wiederholt wird, desto besser ist die Erinnerung daran.

(2) Die Erinnerungsleistung hängt von der Verteilung der Lerneinheiten ab. Es ist besser, 36 Lerneinheiten auf drei Tage zu je 12 Lerneinheiten aufzuteilen, als zu versuchen, alle 36 Lerneinheiten an einem Tag zu lernen. Dieses Ergebnis ist als Spacing-Effekt bekannt geworden und gilt auch heute noch als robuster Effekt in der Lernpsychologie. Verteiltes Lernen ist wesentlich effektiver als massiertes Lernen.


Abbildung 27: Die Ebbinghaussche Vergessenskurve (je mehr Zeit zwischen dem ersten Lernen und dem erneuten Lernen verstrichen ist, desto geringer ist die Lernersparnis beim erneuten Lernen).

Ebbinghaus beobachtete auch, dass die jeweils ersten und letzten Silben einer Liste besser gemerkt werden können. Man spricht hier von Positionseffekten bzw. vom Primacyund Recency-Effekt. Und er beobachtete, dass ein doppelt so umfangreicher Lernstoff (doppelt so lange Listen) nicht die doppelte Lernzeit erfordert, sondern wesentlich mehr Zeit beansprucht. Die Lernzeit wächst überproportional mit der Stoffmenge.

Adolf Jost (1896) führte weitere Versuche nach dem Paradigma von Ebbinghaus durch, jedoch nicht mit sich selbst, sondern mit einigen wenigen Versuchspersonen, die in seiner Arbeit noch namentlich genannt werden. Dabei interessierte er sich für alternative Maße der Güte der Erinnerung neben der Anzahl der Wiederholungen, die nötig sind, um etwas zu lernen. So registrierte er ganz einfach die Anzahl der Treffer nach verschiedenen Perioden. Dabei fand er heraus, dass die beiden Maße „Anzahl an Treffern“ (richtig gemerkte Silben) und „Anzahl der Wiederholungen, die nötig sind, um einen Inhalt vollständig wiedergeben zu können“ nicht unbedingt korrespondieren müssen. So kann bei einem älteren Inhalt nur mehr eine schwache Erinnerung vorhanden sein, die Anzahl der Treffer ist also gering im Vergleich zu einem jüngeren Lerninhalt, aber die Anzahl der Wiederholungen, die zum Beherrschen des Stoffes nötig sind, kann dennoch geringer sein als bei dem später gelernten Inhalt. Dies drückte Jost in seinem ersten später nach ihm benannten Satz so aus:

(1) Sind zwei Assoziationen von gleicher Stärke, aber von verschiedenem Alter, so hat für die ältere eine Wiederholung einen größeren Wert.

Der zweite von Jost aufgestellte Satz wird als ergänzende Erklärung zur Vergessenskurve von Ebbinghaus angefügt. Nach Jost genügt Satz (1) nicht zur Erklärung der Tatsache, dass beim Erlernen jeden Tag weniger Wiederholungen nötig sind, um die Reihe zu beherrschen, weil irgendwann die ganze Reihe auch ohne Wiederholungen am nächsten Tag erinnert wird. Daher nimmt er zusätzlich an:

(2) Haben zwei Assoziationen mit gleicher Stärke ein verschiedenes Alter, so wird die

Stärke der älteren Assoziation langsamer geringer als die der jüngeren (Jost, 1896). Man lernt einen Lerninhalt nicht nur schneller, wenn man ihn zuvor schon einmal gelernt hatte, sondern man vergisst ihn auch langsamer, wenn man ihn bereits öfter wiederholt hat.

Welche Ansicht vertritt die Psychologie zum Überlernen, das heißt, lohnt es sich, bereits beherrschtes Material weiter zu repetieren? Dabei muss man zwischen sinnlosem Lernmaterial (wie bei Ebbinghaus) und sinnvollem Lernmaterial differenzieren. Für sinnloses Lernmaterial ist ein positiver Lerneffekt eindeutig erwiesen. Man merkt sich also Inhalte, mit denen man wenig oder nichts Bedeutungsvolles verbindet, besser, wenn man überlernt (s. Abbildung 28). In der Studie von Krueger (1929, zit. nach Zimbardo, 1983) lernten drei Gruppen Listen von Wörtern bis zur fehlerfreien Wiedergabe. Nach dem Lernen übte die erste Gruppe die Wörter genauso lange weiter wie beim ursprünglichen Lernen (100 %), die zweite Gruppe lernte noch die Hälfte der Zeit der ersten Lernphase weiter (50 %) und die dritte Gruppe lernte nicht mehr weiter (0 %). Überlernen hatte über die Zeit hinweg (selbst nach 28 Tagen noch) einen positiven Effekt auf die Behaltensleistung.


Abbildung 28: Insbesondere bei längeren Zeiträumen verbessert Überlernen das Behalten (modifiziert nach Krueger, 1929, aus Zimbardo, 1983).

Bei sinnvollem Lernmaterial ist das Überlernen aber aus motivationaler Sicht zu hinterfragen, weil es einfach nicht so viel Spaß macht, einen Stoff weiter zu lernen, den man eigentlich schon beherrscht. Sinnvoller erscheint es allemal, mehr Lerndurchgänge durchzuführen, nachdem die Vergessenskurve bereits eingesetzt hat, d. h. nicht weiter zu lernen, wenn der Stoff bereits beherrscht wird, sondern den Stoff zu wiederholen, nachdem ein Tag verstrichen ist, zwei Tage danach nochmals usw. (repetitio est mater studiorum, s. Abbildung 29). Dies setzt natürlich voraus, dass genügend Zeit zwischen dem erstmaligen erfolgreichen Lernen des Stoffes und der Prüfung vorhanden ist, der Lernende also frühzeitig mit dem Lernen beginnt.


Abbildung 29: Effekt von Lernwiederholungen auf die Lernersparnis (nach jeder Wiederholung fällt die Vergessenskurve weniger ab, das heißt, die Lernersparnis in Prozent bis zur 100-prozentigen Beherrschung des Stoffes wird immer höher).

Das Überlernen bringt auch langfristig keinen Gewinn. In einer Studie (Pashler, Rohrer & Cepeda, 2007) lernten Studenten Vokabeln fünf Durchgänge lang (sie gingen jeweils die Vokabeln durch und prüften sich dann selbst), in einer zweiten Bedingung zehn Durchgänge lang. Nach vier Wochen zeigte sich kein Effekt des Überlernens mehr (s. Abbildung 30).

Generell sind Lernen und Vergessen negativ beschleunigt. Man spricht hier auch von dem Potenzgesetz des Lernens bzw. Vergessens (s. Anderson, 2000). Am Beginn des Vergessens vergisst man am meisten, je mehr Zeit verstreicht, desto weniger wird von dem (noch) Vorhandenen vergessen. Ebenso beim Lernen: Am Beginn verläuft die Lernkurve am steilsten, man lernt in kurzer Zeit sehr viel. Um noch besser zu werden und noch mehr zu wissen, muss allerdings immer mehr Zeit aufgewendet werden, das heißt die Lernkurve wird immer flacher (s. Abbildung 31). Das Potenzgesetz konnte für Experten in verschiedensten Domänen bestätigt werden: Eine Aufgabe kann mit zunehmender Expertise immer schneller gelöst werden, wobei der Übungsgewinn asymptotisch immer geringer wird (Ericsson, Krampe & Tesch-Römer, 1993).


Abbildung 30: Langfristiger Effekt des Überlernens (modifiziert nach Pashler et al., 2007).


Abbildung 31: Potenzgesetz des Lernens.

1.4.2 Die Studie von Bartlett (1932)

Frederic Bartlett (1886–1969) bemühte sich, abseits der dominanten Strömung des Behaviorismus die Prozesse des Erinnerns zu verstehen. In einer berühmten Studie (Bartlett, 1932) bat er Studenten, kurze Geschichten zu lesen und danach aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Die Niederschrift der ersten Vpn wurde Vpn Nr. 2 gegeben, diese sollte sie lesen und aus dem Gedächtnis schriftlich wiedergeben usw.

Eine der bekanntesten Geschichten lautete „Krieg der Geister“ („The war of the ghosts“, Bartlett, 1932, zit. nach Mayer, 1979, S. 125):

Eines Nachts gingen zwei junge Männer aus Egulac an den Fluss, um Seehunde zu jagen. Allmählich wurde es neblig und still. Dann hörten sie Kriegsschreie und dachten: „Das ist vielleicht ein Kriegsfest.“ Sie flüchteten sich hinter einen Baumstamm am Ufer. Jetzt näherten sich Boote, und sie hörten Paddelgeräusche. Ein Boot kam auf sie zu. Darin saßen fünf Männer, die sie ansprachen: „Was denkt ihr denn? Wir wollen euch mitnehmen. Wir fahren flussaufwärts und greifen die Leute dort an.“

Einer der jungen Männer sagte: „Ich habe keine Pfeile.“

„Pfeile haben wir im Boot“, entgegneten die Männer.

„Ich komme nicht mit. Ich könnte umkommen. Meine Verwandten wissen nicht, wo ich hingegangen bin. Aber du“, wandte er sich an seinen Begleiter, „kannst mit ihnen gehen.“

So ging einer der beiden jungen Männer mit, doch der andere ging nach Hause.

Die Krieger fuhren flussaufwärts zu einer Stadt gegenüber von Kalama. Die Leute aus der Stadt kamen zum Fluss und der Kampf begann. Viele wurden getötet. Plötzlich hörte der junge Mann einen der Krieger sagen: „Schnell, ziehen wir uns zurück; dieser Indianer ist verletzt worden.“ Nun dachte er: „Ach, sie sind Geister.“ Er fühlte keinen Schmerz, aber sie sagten, er sei angeschossen worden.

So fuhren die Boote zurück nach Egulac, und der junge Mann begab sich ans Ufer, ging zu seinem Haus und entzündete ein Feuer. Und er rief alle und sagte: „Seht her! Ich habe die Geister zum Kampf begleitet. Viele unserer Kameraden wurden getötet, und viele unserer Angreifer kamen um. Mir wurde gesagt, ich sei verletzt, aber ich fühlte keinen Schmerz.“ Er erzählte alles, dann verstummte er. Als die Sonne aufging, fiel er zu Boden. Etwas Schwarzes rann aus seinem Mund. Sein Gesicht verzerrte sich. Die Leute sprangen auf und schrien. Er war tot.

Nacherzählung der ersten Versuchsperson

Es waren einmal zwei junge Indianer; sie wohnten in Egulac und gingen hinunter an den Fluss, um Seehunde zu jagen. Wo sie jagten, war es sehr neblig und still. Nach einer Weile hörten sie Schreie, und sie kamen aus dem Wasser und versteckten sich hinter einem Baumstamm. Dann hörten sie Paddelgeräusche und sahen fünf Boote. Ein Boot kam auf sie zu, und es saßen fünf Männer darin, welche ihnen zuriefen: „Kommt mit uns flussaufwärts und gegen die Leute dort kämpfen.“

Doch einer der Indianer erwiderte: „Wir haben keine Pfeile.“

„Es sind Pfeile im Boot.“

„Aber ich könnte umkommen, und meine Leute brauchen mich. Du hast keine Eltern“, sagte er zu dem anderen, „du kannst mit ihnen gehen, wenn du willst. Ich bleibe hier.“ So ging einer der Indianer mit, doch der andere blieb zurück und ging nach Hause. Und die Boote fuhren flussaufwärts zum anderen Ufer von Kalama, um dort gegen die Leute zu kämpfen. Viele der Leute kamen um, auch viele aus den Booten.

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