Читать книгу: «Das Enneagramm», страница 3

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Eine zweite große christliche Gestalt, deren Werk entscheidende Aspekte moderner Enneagrammkunde vorwegnimmt, ist der seliggesprochene Ramon Lull, der 1232 in Palma (Mallorca) geboren wurde.

Ramon, dessen Vater 1229 mit Jakob I. auf die Insel gekommen war, um sie von muslimischer Herrschaft zu befreien, wuchs in einer Umgebung auf, die stark maurisch geprägt war. Er heiratete 1253, wurde Hofpage, führte ein sehr „verweltlichtes“ Leben und unternahm in seiner politischen Funktion zahlreiche Reisen. Im Juni 1263 erlebt der 34-Jährige aufgrund von fünf Erscheinungen des gekreuzigten Christus eine tief greifende Bekehrung. Er wird Mitglied des 3. Ordens der Franziskaner, der für Verheiratete offen ist. Fortan sieht Lull seine Aufgabe darin, Argumente für das Christentum zu sammeln, um so zur Bekehrung von Juden und Muslimen beitragen zu können. Er begibt sich auf Pilgerreisen (Jerusalem und Santiago de Compostela) und entfaltet eine rege literarische Produktivität. Unter anderem regt er die Errichtung von Sprachschulen für das Arabische und Hebräische an, um Grundlagen für einen seriösen interreligiösen Dialog zu schaffen.

Im Gegensatz zu früheren missionarischen Ambitionen der Kirche, die letztlich der Zwangsbekehrung der „Heiden“ dienten, entwickelt Lull Prinzipien eines respektvoll und rational geführten Dialogs, in dessen Verlauf alle Beteiligten dazulernen. Die eigene Identität kann letztlich nicht in Abgrenzung von anderen gefunden werden, sondern nur im Gespräch mit ihnen. Lull nimmt wesentliche Kriterien moderner Kommunikationstheorien und der Friedens- und Konfliktforschung vorweg und entwickelt das, was man heute eine „Hermeneutik des Anderen“ nennen würde: Um mit einem anderen wirklich zu kommunizieren, muss ich seine Sprache und seine Voraussetzungen kennen und achten.

„Das Buch vom Heiden und den drei Weisen“ schildert das Gespräch eines religiös suchenden Heiden mit einem Juden, einem Christen und einem Muslim. Alle tragen ihre Argumente nacheinander vor, ohne einander zu unterbrechen oder anzugreifen. Nur dem Suchenden sind kritische Nachfragen gestattet. Am Ende geht der „Heide“ getröstet davon und es bleibt – wie in Lessings „Ringparabel“ – offen, für welchen der drei Wege er sich letztlich entscheidet.

Lulls Leidenschaft gilt der Suche nach einer neuen Sprache der Spiritualität, die von keiner der bestehenden Religionen besetzt ist. Denn er ist überzeugt davon, dass die interreligiöse Sprachverwirrung eine der Hauptursachen für Kriege und Konflikte ist. Wie Hans Küng in unseren Tagen hält er insbesondere die monotheistischen Religionen für fähig, ein gemeinsames Weltethos zu entwickeln, das dem Frieden dient. Das setzt aber voraus, dass sie im Umgang miteinander jene gewaltfreien Prinzipien praktizieren, die allein Grundlage des Völkerfriedens sein könnten. Insbesondere für die Kirche gilt: Bevor sie die Welt evangelisieren kann, bedarf sie der eigenen Bekehrung und Erneuerung; sie muss das leben, was sie lehrt, und bleibt in diesem Prozess immer auch Lernende.

Ausgangspunkt für die gemeinsame Wahrheitssuche der großen Religionen sind für Lull die neun (!) Namen oder Eigenschaften Gottes, die er auf der Peripherie seiner Kreisfigur „A“ im Uhrzeigersinn anordnet, wobei „A“ für Gottes Wesen steht, während die neun Eigenschaften die Anfangsbuchstaben von B bis K tragen. Sie sind mit der Mitte, dem unaussprechlichen Geheimnis Gottes, und untereinander vernetzt. (Figur A)


Daneben entwickelt Lull eine zweite Figur (T), die neben den absoluten Prinzipien der Figur A „relative“ Prinzipien bezeichnet. Sie sollen „sowohl die Nähe als auch den Unterschied zwischen Gott und den Geschöpfen bezeichnen“. Lull spricht „von Unterschied (differentia), Eintracht (concordia), Gegensätzlichkeit (contrietas). Weil der Vollkommene jenseits eines geschöpflichen Mehr oder Weniger in absoluter Gleichheit existiert, spricht er von Größer-Sein (maioritas), Gleichheit (aequalitas), Kleiner-Sein (minoritas). Und da es nur in der Schöpfung Anfang und Ende gibt, Gott aber die Mitte von allem darstellt, in der Anfang, Mitte und Ende als dreieinige Personen koinzidieren, spricht Lull von Anfang (principium), Mitte (medium) und Ende (finis)“7. Figur T ist ein Kreis, der mit drei Dreiecken ausgefüllt ist, die die relativen Prinzipien bezeichnen. (Figur T)


Lulls Figur T

Die Nähe dieser beiden Figuren zur Enneagrammfigur ist unverkennbar. Ähnlich wie die Figuren des Evagrius könnte man auch Lulls Schemata als „Vor-Enneagramm“ bezeichnen. Lull glaubt ferner, dass nicht nur die Gottesnamen eine gemeinsame Dialoggrundlage zwischen den Religionen sein könnten. Auch das Erkennen der „Tugenden“ und „Laster“ ist gemeinreligiöses Gut. Er bildet die klassischen sieben Tugenden und Todsünden als Bäume ab und meint, diejenige Religion habe Recht, die die überzeugendsten Tugendfrüchte hervorbringt. Damit verlagert sich der Wettstreit von der dogmatischen auf die spirituelle und ethische Ebene und die Toleranzfähigkeit innerhalb des Wettstreits wird zu einem wesentlichen Kriterium der Glaubwürdigkeit und des Wertes einer Glaubensgemeinschaft. Wer Recht hat, muss nicht rechthaberisch sein.

Lulls Nähe zur jüdischen Kabbala und zur islamischen Sufimystik ist mit Händen zu greifen. Die Kabbala stellt die Eigenschaften Gottes wie Lull als Lebensbaum dar; der Sufismus meditiert die 99 Namen Gottes, um durch die Meditation dem unaussprechlichen Gott selbst immer näher zu kommen. Lulls besondere Liebe gilt jenen Sufigeschichten, deren Absicht es ist, die Liebe zu Gott anzufachen. Nur eine Philosophie der Liebe, so glaubt Lull, ist allen Menschen zugänglich und ermöglicht eine interreligiöse Ökumene. Umberto Eco meint, Lulls Entwürfe seien neben der jüdischen Kabbala der zweite große europäische Versuch, eine gemeinsame neue spirituelle Sprache zu finden.

Lull ist zutiefst davon überzeugt, dass selbst schwierigste theologische Behauptungen wie die Lehre vom dreieinigen Gott oder der Glaube an die Auferstehung vernünftig begründbar und daher in Freimut diskutierbar sind. Damit nimmt er die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorweg, die der Vernunft einen Vorrang vor der Autorität einräumte.

Es würde sich lohnen, Lulls Bedeutung für die Enneagrammforschung tiefer zu ergründen. Jedenfalls findet sich bei ihm (ebenso wie bei Evagrius) im Kern bereits vieles von dem, was wir im Folgenden entfalten wollen. Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz haben Lull ebenso geschätzt wie Bartolomé de las Casas, der leidenschaftliche Anwalt der amerikanischen Ureinwohner angesichts der Schrecken der „christlichen“ Eroberung, wie Nikolaus von Kues und wie Arthur Schopenhauer, der Lulls Lebenswende unter die „echten Bekehrungen“ einreiht. Es ist damit zu rechnen, dass Lull im Zeitalter des interreligiösen Dialogs neu entdeckt und wertgeschätzt werden wird. Sein franziskanisches Ideal einer demütigen, überzeugenden, machtlosen und lernfähigen Kirche ist bis heute aktuell.8

Gurdjieff und seine Schüler waren nachweislich von der Lehre der Wüstenväter und vom Sufismus beeinflusst. Gurdjieff wurde vermutlich 1877 als Sohn einer armenischen Mutter und eines griechischen Vaters im Grenzgebiet zwischen Armenien und Georgien geboren. Zu dieser Zeit lebten in seinem Umfeld AnhängerInnen vieler großer Religionen zusammen. In diesem Landstrich wird Evagrius bis heute besonders verehrt. Die Lehre der Wüstenväter wird in der orthodoxen Spiritualität, insbesondere in der Mönchsrepublik vom Berg Athos, hochgehalten. Das mantrische „Herzensgebet“ etwa, das auf die Wüstenväter zurückgeht, hat sich dort über die Jahrhunderte erhalten. Gurdjieff ist von dieser Tradition zweifelsohne nachhaltig beeinflusst worden.

Gurdjieff wollte Arzt werden und ließ sich gleichzeitig zum russisch-orthodoxen Priester ausbilden. Die offizielle kirchliche Lehre konnte jedoch seinen Wissensdrang und seine existenzielle Sinnsuche nicht befriedigen. Es ging ihm darum, wie wir Menschen wach werden können für unseren wirklichen Lebenssinn. Lang reiste Gurdjieff nach eigenen Auskünften von einem spirituellen Zentrum des Ostens zum anderen – bis nach Ägypten, Tibet und Indien. In einem Kloster der sufistischen „Sarmoun“-Bruderschaft will er die Überlieferung kennengelernt haben, die dem Enneagramm zugrunde liegt, wenn auch dieses Kloster bis heute unauffindbar bleibt. Zeitlebens bezeichnet Gurdjieff sich selbst als „pythagoräischen Griechen“ und „esoterischen Christen“. Gurdjieff verstand sein Werk als „esoterisches Christentum“. Vielleicht war sein Bewusstsein, „hinter den Schleier“ geschaut zu haben, der Grund, weshalb er die Ursprünge seines Wissens buchstäblich „verschleiert“ hat.

Zusammenfassend zitiere ich Lynn Quirolos Studie:

„In den Schriften des Evagrius Pontikus finden wir eine hoch entwickelte kontemplative Psychologie, wie sie im Westen inzwischen so gut wie ausgelöscht ist. Wir finden ferner eine pythagoräische Interpretation einer wichtigen biblischen Symbolzahl. Fragmente sowohl dieser Psychologie als auch dieser Symbollehre findet man in den Lehren von Gurdjieff und Ouspensky. Da diese Ideen Teil der hellenistischen, Kettfäden‘ im Gewebe der christlichen und islamischen Religionen waren, finden wir erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen frühchristlichem Denken und der späteren sufistischen Spiritualität und Kosmologie … Die Schriften des Evagrius und der Wüstenväter … sind eine Inspiration für Suchende in einem technologisch intelligenten, aber spirituell dunklen Zeitalter. Sie können unser Herz und unseren Verstand für jene größeren Möglichkeiten öffnen, die in jedem und jeder von uns schlummern.“

Das mystisch-kontemplative Wissen der Wüstenväter ist auch in die Spiritualität der Sufis eingeflossen. Schon etwa 100 Jahre nach Mohammeds Tod gab es fromme Muslime, die ein einfaches Leben führen wollten. Sie verzichteten oftmals auf jeglichen Besitz und trugen als Zeichen der Askese grobe Wollgewänder (arabisch „suf“). Manche von ihnen zogen als Wanderprediger umher; andere lebten in geistlichen Bruderschaften und Gemeinschaften. Vieles an ihrer Lebensweise erinnerte an die späteren Franziskaner, die vermutlich ihrerseits unter sufistischem Einfluss standen.9 Wie an der christlichen Mystik des Mittelalters waren auch an der Bewegung des Sufismus auffallend viele Frauen beteiligt.

Durch Gebet und Meditation wollten die Sufis der Liebe Gottes gewiss werden. Die Gottesliebe war zentrales Thema der Bewegung, wie das Gebet der Sufi-Meisterin Rabia al-Adawiyya aus dem 8. Jahrhundert zeigt:

„O Gott, wenn ich dich aus Furcht vor der Hölle anbete, so verbrenne mich in der Hölle, und wenn ich dich in Hoffnung auf das Paradies anbete, so gib es mir nicht, doch wenn ich dich um deiner selbst willen anbete, so enthalte mir deine ewige Schönheit nicht vor!“10

Die Sufis wurden vonseiten des offiziellen Islam heftig bekämpft. Beim einfachen Volk wurden sie aber bald als Heilige verehrt. Vielen von ihnen schrieb man Wunderkräfte zu. Legenden rankten sich um das Leben und Wirken großer Sufi-Meister. Zu den sufistischen Bruderschaften gehören auch die Orden der Derwische und die Bewegung der Fakire (faqir = arm). Vor allem in Nordafrika existieren viele von ihnen bis heute.11

Bei den Sufis gab es, ähnlich wie bei den Wüstenvätern, eine Tradition der Seelenführung, die das Ziel verfolgte, Menschen auf dem Weg zu Gott zu begleiten.

Jene Weisheit, deren Essenz sich auch in heutiger Enneagrammkunde wiederfindet, war offenbar eine mündliche Tradition, die über die Jahrhunderte hin vom Meister an den Schüler weitergegeben wurde. Gurdjieff hatte das Enneagramm nach eigenen Angaben in Afghanistan kennengelernt und beschrieb es als ein Perpetuum mobile. Ein Teil der Tanz- und Bewegungsformen, die er entwickelte, basierte auf der Dynamik des Enneagramms. Gurdjieff verglich das Enneagramm mit dem legendären „Stein der Weisen“ und betonte, es sei in der Geheimliteratur „nirgends zu finden … Ihm wurde von Wissenden eine so große Bedeutung verliehen, dass sie es für notwendig erachteten, seine Kenntnis geheim zu halten“.12 Als psychologische Typenlehre hat das Enneagramm bei Gurdjieff keine Rolle gespielt. Er hat niemals eine Beschreibung von neun Persönlichkeitstypen ausgearbeitet. Die heute bekannteste Form des Enneagramms der Fixierungen geht, wie erwähnt, auf Oscar Ichazo zurück. Er behauptet, dieses System von Sufimeistern in Pamir (Afghanistan) gelernt zu haben, und zwar bevor er auf Gurdjieffs Schriften stieß. In den 50er und 60er Jahren lehrte Ichazo in La Paz (Bolivien) und Arica (Chile). 1971 kam er in die USA.13 Der Psychiater Claudio Naranjo vom Esalen-Institut in Big Sur/​Kalifornien eignete sich Ichazos Modell an und entwickelte es weiter. Eine Reihe von US-amerikanischen Jesuiten, vor allem Pater Robert Ochs, stießen bei Naranjo auf das Modell. Nach langjähriger Erprobung und theologischer Prüfung entschloss sich der Jesuitenorden, das Enneagramm als ein Mittel der geistlichen Begleitung und als ein Modell für die Exerzitienarbeit zu übernehmen.

Seit Mitte der 80er Jahre ist eine Reihe von Büchern über das Enneagramm erschienen, die zum Teil aus der Arbeit amerikanischer religiöser Orden mit dem Enneagramm erwachsen sind und zum Teil mehr von der Psychoanalyse bzw. der humanistischen Psychologie herkommen.

Es hat sich gezeigt, dass das Enneagramm mit der christlichen Tradition geistlicher Begleitung und Menschenführung ebenso zu vereinbaren ist wie mit diversen psychotherapeutischen Ansätzen. Deshalb kann es eine Brücke zwischen Spiritualität und Psychologie schlagen. Es ist so etwas wie jene „neue Sprache“ der interkulturellen und interreligiösen Verständigung, nach der Ramon Lull gesucht hat. Das Enneagramm ist inzwischen auch „wissenschaftlich“ mehr und mehr erhärtet. Klinische Untersuchungen in den USA haben erstaunliche Ergebnisse gezeitigt. Die renommierte kalifornische Stanford University und ihre psychologische Fakultät waren Schauplatz der Ersten Internationalen Enneagrammkonferenz im Jahre 1994. Seither hat die akademische Enneagrammforschung große Fortschritte gemacht.

Die „Vermischung“ von Psychologie, Spiritualität und Theologie mag jene stören, die auf eine „methodisch saubere“ Trennung dieser scheinbar so unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit insistieren. Die Traditionen östlicher und westlicher Weisheit und Seelenführung (die wahren Gurus, Starzen und Meister des Ostens, Ignatius), denen dieses Buch verpflichtet ist, haben dagegen immer die Zusammengehörigkeit seelischcharakterlicher und religiös-spiritueller Reifung betont. Inzwischen haben Forscher wie Ken Wilber eine integrale Spiritualität und Psychologie entwickelt, die von einem ganzheitlichen Menschenbild ausgeht und in der psychologische und spirituelle Aspekte sich ergänzen und bereichern. Einem solch ganzheitlichen Ansatz ist auch unsere Arbeit mit dem Enneagramm verpflichtet.

Durchbruch zum Ganz Anderen

Beim Enneagramm geht es, vereinfacht gesagt, um die Frage: Weshalb stoßen wir Menschen bei unserer Auseinandersetzung mit dem Leben so häufig immer wieder nur auf unser Ego, anstatt durchzustoßen zum Ganzen, zum Ganz Anderen, zu Gott? In unserer heutigen egozentrischen Gesellschaft neigen wir in besonderem Maße dazu, in unseren eigenen Gedanken oder Gefühlen stecken zu bleiben. Deswegen ist Gott heute für viele Menschen des Westens, wenn sie ihn nicht ohnehin abgeschrieben haben, nichts anderes als ein Projektionsbild ihrer selbst: ein Gott, wie wir ihn brauchen, wollen oder gerne hätten. Die Begegnung mit dem Ganz Anderen, mit dem Nicht-Ich, findet nicht statt.

Die alten Meister und Seelenführer wollten, dass die Menschen ihre Blockaden und Vorurteile bzw. ihren „Wahrnehmungsstil“ erkennen, das heißt ihre Angewohnheit, das Leben aus einem fixierten Blickwinkel zu betrachten und zu gestalten. Im frühen Mönchtum nannte man solche Engführungen Passionen oder Leidenschaften. Sie führen dazu, dass ich jenen Teil des Lebens, den ich erkannt habe oder beherrsche, für das Ganze halte. Es geht darum, diese Leidenschaften zu identifizieren und zu überwinden, um zu lernen, die Wirklichkeit objektiv(er) wahrzunehmen. Es geht darum, zu Gott, dem ganz Objektiven, durchzudringen, dem Ganz Anderen, der für ChristInnen zugleich ganz der Unsere ist, indem er sich auf unsere Welt eingelassen hat und Teil von ihr geworden ist. Es geht darum, dass wir fähig werden, auf etwas anderes als auf uns selbst zu stoßen, auf jene „Macht, die größer ist als wir“ (Anonyme Alkoholiker).

Viele Kirchenfunktionäre treten leichtfertig im Namen Gottes auf und meinen, Gott verstanden zu haben. Dabei kann man meist sofort erkennen, dass sie nicht viel mehr ausstrahlen als ihr eigenes Temperament, ihre Vorurteile oder das, was sie sowieso schon wissen. Das ist einer der Gründe, weshalb die christliche Religion so sehr an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Viele Zeitgenossen können sie nicht mehr ernst nehmen. Sie erleben religiöse Menschen, die nicht authentisch sind und obendrein egozentrisch wirken, weil sie offensichtlich ihre ureigensten Ziele verfolgen, während sie einen frommen Jargon pflegen, als ginge es ihnen um nichts als um Gott und um Gottes Reich.

Das Enneagramm kann uns helfen, unsere Selbstwahrnehmung zu läutern, ehrlicher gegenüber uns selbst zu werden und immer besser zu unterscheiden, wann wir nur unsere eigenen inneren Stimmen und Prägungen hören und Gefangene unserer Vorurteile sind – und wann wir fähig sind, für Neues offen zu sein.

Ignatius von Loyola (1491 – 1556), der Gründer des Jesuitenordens, entwickelte eine geistlich und psychologisch hochsensible Methodik der geistlichen Menschenführung. Seine Exerzitien führen auf einen Übungsweg. Sie decken die Fallen auf, in denen die Seele gefangen ist, und leiten zur „Unterscheidung der Geister“ an, jener inneren und äußeren Stimmen und Impulse, die uns fortwährend beeinflussen. Die Unterscheidung vollzieht sich in drei Schritten: Es geht darum, 1. „die verschiedenen Regungen zu verspüren, die in der Seele verursacht werden“; 2. sie „zu erkennen“, das heißt ihre Herkunft und Zielrichtung zu verstehen und ein Urteil darüber zu fällen, ob sie mich konstruktiv auf das Sinn-Ziel meines Lebens hinlenken oder destruktiv von ihm wegführen; 3. zu diesen Regungen Stellung zu nehmen, das heißt sie anzunehmen oder abzuweisen.14 Ziel der Exerzitien ist es, das eigene Leben zu ordnen und Wege zur christlichen Freiheit zu finden. Sie wird durch eine personale Jesusbeziehung ermöglicht, in der wir fähig sind, den Anruf Christi an unser Leben zu hören, und bereit werden, in seinen Dienst zu treten.

Das Enneagramm ist ein verwandtes Hilfsmittel, um dieses Ziel zu erreichen. Das ist einer der Gründe, weshalb eine Reihe von Exerzitienmeistern begonnen hat, neben den traditionellen ignatianischen Übungen auch das Enneagramm einzusetzen.

Ein Kardinal wacht auf

Ich (Richard Rohr) bin 1970, im Jahr meiner Priesterweihe, durch einen Jesuiten in das System des Enneagramms „eingeweiht“ worden. Damals hat man uns eingeschärft, dass wir es nicht schriftlich weitergeben sollten und dass niemand erfahren dürfte, woher wir es hätten. Ich muss gestehen, dass ich mir dabei seinerzeit manchmal etwas unehrlich vorgekommen bin. Es ist ein paar Mal passiert, dass jemand in meine Sprechstunde gekommen ist und ich nach einer Weile – dank des Enneagramms – die Energie oder den „Wahrnehmungsstil“ dieses Menschen ziemlich genau erfassen konnte. Während ich meine „Geheimkenntnisse“ einsetzte, dachte mein Gegenüber: „Richard Rohr liest in meiner Seele wie in einem offenen Buch und bringt mein Problem genau auf den Punkt! Wo hat er das nur gelernt?“ So erschien ich manchen fast wie ein Hellseher oder so, als hätte ich die Gabe der „Herzensschau“, die einigen Heiligen nachgesagt wird. Auf diese Art ist das Enneagramm angeblich ursprünglich verwendet worden. Es handelte sich der Legende nach um esoterisches Wissen, das die Seelenführer nur innerhalb ihrer Gruppe weitergegeben haben. Als wir Amerikaner es in die Finger bekamen, ist passiert, was passieren musste: Wir haben vor ein paar Jahren angefangen, es aufzuschreiben.

Seither ist eine Flut von Büchern erschienen. Vor allem im katholischen Milieu hat es einen wahren Siegeszug angetreten. Vielleicht liegt es daran, dass wir katholische Ordensleute die Zeit und die Einkehrhäuser haben, um uns intensiv mit solchen Dingen zu befassen. Von dort aus wird es an suchende und interessierte Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten weitergegeben. Jetzt, da es längst nicht mehr geheim ist, möchten wir dazu beitragen, es so darzustellen, dass es angemessen angewendet werden kann und möglichst wenig Schaden anrichtet. Der „schlafende Riese“ ist aufgewacht und seine alte Weisheit ist suchenden Menschen zugänglich!

Wir haben das Enneagramm noch nie einer Gruppe weitervermittelt, die es nicht – aus irgendeinem Grund – interessant fand. Das ist erstaunlich, weil sein Ansatz negativ ist. Das Enneagramm hat nicht die Absicht, dem Ego zu schmeicheln. Es will vielmehr eine Hilfestellung dazu geben, das loszulassen oder unnötig zu machen, was Thomas Merton und andere das „falsche Selbst“ genannt haben. Wir kennen kein anderes Hilfsmittel, das diese Aufgabe auf direkterem Wege leisten kann als das Enneagramm.

Ich habe vor Jahren Exerzitien für 20 Bischöfe gehalten. Am ersten Tag habe ich über das kontemplative Gebet referiert. Die Bischöfe saßen da und hörten zu – schließlich waren es Bischöfe und sie mussten anstandshalber aufpassen, wenn es ums Beten ging. Man konnte sehen, dass sie zwar dabei waren, aber nicht wirklich auf die Sache „angesprungen“ sind. Ich weiß nicht mehr, was ich am zweiten Tag erzählt habe, jedenfalls waren sie schon aufmerksamer. Am dritten Tag haben mich zwei Bischöfe beiseite genommen und gesagt: „Sie müssen dieser Gruppe das Enneagramm beibringen!“ Das hatte ich eigentlich nicht vor. Aber die beiden Bischöfe haben darauf bestanden: „Doch! Das brauchen die!“ So habe ich am nächsten Morgen damit angefangen. Ich konnte miterleben, wie einige Teilnehmer, einschließlich eines frischgebackenen Kardinals, plötzlich hellwach wurden und ganz Ohr waren. Von diesem Zeitpunkt an waren sie bis zum Ende der Exerzitien voll dabei.

Das Enneagramm bringt eine wesentliche Wahrheit unseres Seelenlebens auf den Punkt. Es tut das auf eine Weise, wie es die meisten von uns selten oder nie erlebt haben. Das Enneagramm ist von geradezu bezwingender Weisheit.

1 828,05 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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469 стр. 49 иллюстраций
ISBN:
9783532600085
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