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Kapitel 6

„Wir übernehmen ihn von hier aus“, sagte die Frau und nahm Silke die Leine aus der Hand.

Kai unterschrieb das Formular und gab ihr den Impfausweis.

„Hier ist ein Heftchen drin, wie man mit dem Hund reden soll“, sagte er mit belegter Stimme und schob das Büchlein zurück, nachdem die Frau einen kurzen Blick darauf geworfen hatte.

„Aha“, sagte sie. Dann reichte sie Nobbis Leine an eine Mitarbeiterin.

„Darf ich mich von ihm verabschieden?“, fragte Silke zwischen zwei lauten Schluchzern.

„Natürlich“, antwortete die Frau.

Silke kniete sich neben Claudias Hund. Nobbi zitterte. Sie wusste nicht, wie sie das hier schaffen sollte, riss sich aber so gut zusammen, wie es ging. Dann nahm sie seinen Kopf in die Hände, beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr „Frauchen geht jetzt arbeiten. Pass du fein auf!“ Sie versuchte, ihn irgendwie zu beruhigen. Er hatte den Schwanz eingeklemmt, wollte ihr folgen, wurde zurückgehalten, und warf ihr einen Blick zu, der ihr das Herz förmlich aus dem Brustkorb riss.

Sie stand auf und drehte sich um. Kai wollte ihr einen Arm um die Schulter legen, aber mit einer heftigen Bewegung schüttelte sie ihn ab. Dann verließ sie das Tierheim.

Kai warf einen letzten Blick auf das Zubehör, das auf einem Tisch stand: eine Tüte mit Spielzeug, ein Hundekorb mit Decke, ein fast leerer zwanzig Kilogramm Sack Futter, eine Transportbox. Das alles würde vermutlich nun auf die Heimtiere aufgeteilt, so genau wusste er es nicht und wollte es auch gar nicht wissen.

Als er sich nach dem Hund bücken wollte, hatte die Mitarbeiterin ihn bereits fortgezogen, und durch die sich schließende Schwingtür zu den Zwingern im hinteren Teil des Tierheims geführt. Er hörte ein letztes leises Winseln, von dem er nicht mit Sicherheit sagen konnte, wem es gehörte, als es übertönt wurde vom Bellen und Jaulen der anderen Tiere.

„Meine Frau und ich legen Wert darauf zu erfahren, wer den Hund nimmt.“

„Dürfen wir Ihre Kontaktdaten weitergeben, falls sich der neue Besitzer für die Vorgeschichte des Hundes interessiert?“

„Was heißt hier ‚falls‘? In dem Büchlein dort steht alles drin, was er wissen muss, und Sie können auf jeden Fall unsere Telefonnummer weitergeben.“ Kai wies auf den Impfausweis: „Lesen Sie das Büchlein! Und geben Sie ihn ja nicht an jemanden, der nichts über die Vorgeschichte wissen will, ja? Der Hund hat ein Leben gehabt!“

„Aber natürlich. Wir kümmern uns um alles. Sie können jetzt gehen. Machen Sie sich keine Sorgen, das Tier ist bei uns gut aufgehoben.“

Kai räusperte sich. Dann versuchte er etwas Zusammenhängendes über den Grund zu sagen, warum das Heim nun einen Bewohner mehr hatte. Er stammelte über Claudias Tod und über seine Allergie und hatte das Gefühl, es würde trotz aller Tragik einfach nur wie eine faule Ausrede klingen, eine von hunderten, die man hier wahrscheinlich schon gehört hatte. Dennoch nickte die Frau und versprach ihm, noch vierzehn Tage zu warten, ehe man den Hund offiziell in die Vermittlung gab. Vielleicht geschah ja doch noch das erhoffte Wunder?

Als Kai schließlich ins Auto stieg, fühlte er sich wie ein Schwein, und er war fast erleichtert, als Silke ihn auf der Fahrt zurück nach Hause mit ihrem eisigen Schweigen auch genauso behandelte.

‚Himmel nochmal!‘, dachte er nach ein paar Kilometern, als er merkte, wie ihm die Luft ausging. Das Auto musste gereinigt werden, komplett. Das Haus sowieso. Seit fast einer Woche war er nun krankgeschrieben, akuter Allergieschub. Seine Haut sah aus, als habe er Neurodermitis, Atmen war zur Qual geworden, und wenn Silke nicht endlich nachgegeben hätte, wäre er noch heute ins Hotel gezogen.

Claudia war tot. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Und das nun schon seit fast vier Wochen. Niemand hatte auch nur eine Spur von ihr gefunden, auch er nicht, als er mit Markus, dem anderen Trauzeugen von Hubert und Claudia, einen Tag nach der Katastrophe für eine Woche da runter geflogen war, in die Hölle.

Markus war nicht nur sein Freund, sondern auch sein Arzt, und sie hatten sich eingebildet, sie könnten in Thailand vielleicht eine verletzte Claudia in einem der Hospitäler finden und nach Deutschland zurückbringen. Was er gesehen hatte, würde ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen. Es war nicht leicht gewesen, ins Land zu kommen, zu viele wollten gleichzeitig rein. Tausende waren auf der Suche nach Angehörigen. Markus war als Arzt willkommen, und während er, Kai, durch die Trümmer ging und sich immer wieder übergeben musste durch den Verwesungsgeruch, da hatte er sich mehr als einmal verflucht. Selbst, wenn er an einer der zahllosen Fotowände direkt vor Claudias Foto gestanden hätte, hätte er sie nie und nimmer erkannt. Die Schwerverletzten sahen für ihn auf den Bildern alle gleich entsetzlich aus. Und erst recht die Leichen. Aufgequollen, schwarzfleckig, nach Stunden bereits im Verwesungsprozess, bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Heerscharen von Ärzteteams aus allen Ländern arbeiteten verbissen gegen die Zeit, und versuchten DNA zu sichern und zu erfassen. Sie versuchten Ordnung ins Chaos zu bringen, versicherungsrelevante Klarheit, versuchten den Fleischbergen ihre Namen zu entlocken, weiße Flecken auf Touristenlisten zu füllen, Bestattungserlaubnisse auszustellen, Wege freizumachen für die Überlebenden.

Sie hatten Claudias Haarbürste in Thailand gelassen und die Sicherheit mit nach Hause genommen, dass es Monate dauern würde, ehe sie oder ihre Reste dem nummerierten Tütchen zugeordnet werden könnten. Wenn überhaupt. So viele waren mitgerissen worden ins Meer, so viele unauffindbar fort.

Selbst als sie ins Flugzeug gestiegen waren, konnten weder er noch Markus begreifen, was sie gesehen hatten und hinter sich ließen. Kais allergische Reaktion auf Claudias Hund hatte sich in den acht Tagen, die sie unterwegs gewesen waren, beruhigt. Unglaublich, unfassbar. Da warfen die kleinen Follikel im Fell eines sauberen, gesunden Tieres in einem sauberen Haus seinen Körper in ein Chaos, das lebensbedrohliche Ausmaße annahm, und dort in Thailand hatte das lebensbedrohlichste Umfeld, das er sich überhaupt vorstellen konnte, dem Körper das Signal gegeben, sich zu entspannen und zu erholen. Kai hasste sich fast dafür, dass bei ihm alles verkehrt herum gepolt war. Und er schämte sich.

Das änderte nichts daran, dass der ganze Zirkus wieder von vorne losging, nachdem er zwei Tage zuhause war. Markus hatte schließlich mit der Hand auf den Tisch geschlagen und ihn und Silke böse angefunkelt. Wenn sie nicht endlich Vernunft annähmen, und den Hund abgäben, würden sie nicht nur Kai das Leben zur Hölle machen, sondern auch dem Hund. Da draußen war wahrscheinlich jemand, der hervorragend zu diesem Tier passte und sich nichts sehnlicher wünschte, als einen besten Freund fürs Leben zu finden. Was, wenn dieser jemand gerade jetzt durch die Tierheime streifte, auf der Suche nach einem Hund wie Nobbi? Den Silke aus lauter Egoismus nicht abgeben wollte?

„Egoismus?!“ Silkes Stimme war vor Wut umgeschlagen.

„Wenn wir den Hund abgeben und sie wird gefunden, was dann?! Niemand weiß, ob sie tot ist! Sie kann genauso gut noch leben!“

Markus bemühte sich um Sachlichkeit, warf Zahlen ins Spiel, Wahrscheinlichkeiten, Gesundheitsrisiken für Kai.

Am Ende war er es leid.

„Du musst dich entscheiden, Silke. Für die Lebenden oder für die Toten. Für deinen Mann oder diesen Hund.“ Dann hatte er sich seinen Mantel gegriffen, Kai auf die Schulter geklopft und war ohne ein weiteres Wort gegangen.

Silke hatte nachgegeben. Hatte sich für ihn entschieden. Gegen den Hund.

Als er in die Einfahrt ihres Hauses fuhr, war er nur nicht sicher, ob ihre Ehe das überleben würde.

Kapitel 7

So viele Gerüche. So viele Geräusche. So viel Angst. Er versteht nichts.

Die Frau, die ihn abgeleint hat, ist verschwunden. Eine andere kommt und stellt wieder Futter hin. Es schmeckt falsch. Er ist verunsichert, er versteht nichts, niemand versteht ihn. Er zieht sich in eine Ecke zurück, macht sich klein. Angst. Er muss warten, aber er weiß nicht mehr worauf. Alles ist fremd, er muss aufpassen, hier gelten andere Regeln.

Es gibt eine Wiese, aber da sind andere. Andere machen ihm Angst, vor allem der Große dort, der Chef. Er weiß nicht genau, wo er hin darf, immer sind die anderen schon vor ihm da gewesen oder kommen ihm zu nah. Manchmal viel zu nah, dann geht er nicht auf die Wiese.

Er macht sich klein, schläft lieber. Schläft.

Dann wieder die Wiese, er macht ein paar Schritte. Der Große kommt, jemand schreit, zu spät, er muss sich wehren, wehrt sich. Schmerz! Wut! Schmerz! Wut! Wut! Wut! Sie schreien, er zittert, der Große schreit. Eine Frau will ihn packen. Wut! Wut! Sie schreit! Schmerz! Wut! Er macht sich klein, weicht zurück, zurück, in die Ecke, knurrt, fletscht die Zähne. Schmerz. Er leckt sich, leckt das Blut weg. Seins und das des Großen. Alle sind weg. Er ist alleine. Nichts ist gut.

Kapitel 8

„Bitte wenden Sie jetzt!“

Offensichtlich konnte selbst die aktuellste Navigationssoftware nichts gegen das Sauerland ausrichten.

Er hatte mit Bettina in Gedanken einen Deal geschlossen.

„Wenn ich den nächsten Autor unter Vertrag nehme, suche ich noch einmal dieses verdammte Tierheim. Aber das ist dann das letzte Mal. Danach kaufe ich, meinetwegen in der nächsten Pommesbude, einen Wellensittich. Denen kann man wenigstens das Sprechen beibringen.“

Norbert überlegte, während er eine geeignete Stelle zum Wenden suchte. Wäre vielleicht sogar ganz nett, wenn irgendetwas antworten würde. Nicht, dass er sich dann weniger pathologisch vorkäme, aber er würde auf andere Menschen nicht mehr einen ganz so durchgeknallten Eindruck machen, wenn er mit sich selbst redete. Dann könnte er wenigsten auf einen Vogelkäfig zeigen und das Ganze ‚Unterricht‘ nennen. Es musste ja nicht gleich jeder wissen, dass er Zwiegespräche mit seiner toten Frau führte.

Norbert besaß nun seit genau drei Jahren dieses Haus im Sauerland. Sie waren damals hierher gezogen, weil Bettina sich so in das Dorf verliebt hatte. Dann hatte sich der Krebs zurückgemeldet und sie am Ende mitgenommen.

Eigentlich gab es keinen Grund, das Haus zu behalten. Und hierher zu fahren, hatte für ihn seit ihrem Tod immer einen faden Beigeschmack. Er hatte überlegt, es zu vermieten, aber alleine der Gedanke, alles auszuräumen, an dem Bettinas Herz gehangen hatte, erschien ihm unerträglich. Er fand auch niemanden in seinem oberflächlichen Bekanntenkreis, der hier mal ein Wochenende verbringen wollte. Kein Wunder, bei der Infrastruktur. Eine einzige, dicht befahrene Bundesstraße durchschnitt das atemberaubend schöne Hönnetal, und hirnrissiges Kurvenschneiden schien hier ein ganz besonderer Volkssport zu sein. Wenn dann zwei Verrückte bei ihrem Hobby aufeinander trafen, staute sich der Verkehr für Stunden. Ein Wunder, dass hier nur so wenige Kreuze am Fahrbahnrand standen.

Bettina hatte trotzdem endlos schwärmen können von den wunderbaren Wäldern, egal zu welcher Jahreszeit. Ihm waren die norddeutsche Tiefebene und das Meer immer lieber gewesen.

Seitdem seine Frau tot war, konnte er den Bäumen und halbwüchsigen Bergen einfach überhaupt nichts mehr abgewinnen, im Gegenteil. Die hohen Tannen auf seinem Grundstück sorgten für Dauerschatten und nadelten wie verrückt, und bei Sturm sah er sie in Gedanken wie Streichhölzer knicken und sich wie ein Mikadospiel auf seinem Dach verteilen.

Er hätte auf Anhieb hundert Gegenden nennen können, die ihm mehr zusagten als das Hönnetal. Schöne Gegenden, in denen die Worte ‚öffentlicher Nahverkehr‘ einen Sinn ergaben, ländliche Gegenden, die LKWs mieden wie die Pest, Gegenden mit echtem Profil, wie Ostfriesland, der Witzkammer Deutschlands, die Eifel, Heimat unzähliger Mörder, oder – wenn schon Berge, dann wenigstes richtige – die Alpen. Aber das Sauerland? Beziehungsweise dessen Vorhof? Was, in Gottes Namen, war herausragend an dieser Gegend? Er hatte Zeit seines Lebens die Welt bereist und dennoch immer mit gewissem Wohlbehagen in Nordrhein-Westfalen gewohnt. Es kam ihm vor, als habe Bettinas Fixierung auf das Sauerland ihm das ‚Nordrhein‘ brutal entrissen und ihn am Ende mit diesem einsamen Haus in ‚Westfalen‘ zurückgelassen. Und nun? Würde er je verstehen, was sie daran so gereizt hatte? Vermutlich nicht.

Norbert war daher so selten es ging dort und unterhielt stattdessen in Düsseldorf ein kleines, komfortables Appartement mit Büro, in Flughafennähe. Das erschien ihm sinnvoll. Ohne seine Frau fühlte er sich nirgendwo mehr zuhause. Da konnte er genauso gut im Ausland aus dem Koffer leben. Dort fühlte sich Fremdsein wenigstens nicht so einsam an.

Wenn er nach einem Tag wie heute, der das Konto für Monate füllen würde, trotzdem erschöpft den Namen des Dorfes, das Bettina immer ‚Wunderschönhausen‘ genannt hatte, in den Navi eingab, dann nur, weil er das Gefühl hatte, er müsse sie mal wieder besuchen. Denn leider hatte sie darauf bestanden, in diesem Nest am Ende aller Träume beerdigt zu werden.

Bettina hatte Bücher über das Landleben verschlungen, in denen Stadtneurotiker wie er, der gerade eine Rose von einer Tanne unterscheiden konnte, zu kollegialen Nachbarn mutierten, denen das Bier beim Grillen mehr zusagte als der Gang über eine Buchmesse, ach, mehr als ein Buch. Anfangs hatte er es sogar versucht, hatte ihr zuliebe gute Miene zum bösen Spiel gemacht und verzweifelt Stunden mit dem schwergängigen Handrasenmäher auf dem endlosen, hügeligen Grundstück verbracht, sich böse Sonnenbrände im Nacken geholt und sich am nächsten Tag vor Muskelkater nicht mehr bewegen können, während Bettina, leise und verträumt vor sich hin summend, mickrige Sonnenblumen zog und liebevoll die Beete am Haus bemutterte.

Dass sie dann kurz nach dem Umzug schon mehr Zeit in Kliniken als im neuen Zuhause verbrachte, hatte dazu geführt, dass der einzige Nachbarschaftskontakt, den er in drei Jahren aufgebaut hatte, der zu dem direkten Nachbarn nebenan war, der inzwischen mit seinem Aufsitzmäher sein Grundstück für ihn mähte und während seiner Abwesenheit zuverlässig nach dem Rechten sah. Jürgen. Jürgen Schulte.

Irgendwie schien jeder zweite in diesem Dorf Schulte zu heißen, ein Grund vielleicht, warum Bettina es so witzig gefunden hatte, gerade hierher zu ziehen. Der Blick ins Telefonbuch konnte sie selbst dann noch zum Lachen bringen, als es ihm längst im Hals stecken geblieben war.

Norbert zwang seine Gedanken zurück in den Straßenverkehr. Oder besser: in das Gewirr von Waldwegen. Vielleicht hielten sie in diesem Tierheim besonders berühmte Hunde und hatten es deshalb so versteckt? Er seufzte, als nach endlosem Schleichen über schmale Sträßchen zwischen den Fichten endlich ein Gebäude auftauchte. Und ein Hinweisschild! Direkt vor der Tür. Wie sinnlos und unpraktisch. Wie typisch für diese Gegend. Norbert parkte und stieg aus. Es regnete mal nicht, dafür war aber Schnee angesagt. Es war Ende Januar, natürlich lag noch keine Spur von Frühling in der Luft. Er seufzte. Es dämmerte bereits, aber offensichtlich war noch jemand im Tierheim. Licht schimmerte schwach durch die Fenster, und Norbert wunderte sich, dass es hier überhaupt Strom gab. Irgendwo hörte er Hunde jaulen und bellen.

‚Hoffentlich ist das nicht wieder nur so eine Auffangstation für Kampfhunde‘, dachte er, als er das Gebäude betrat. Seine Odyssee hatte ihn in den letzten Jahren an die seltsamsten Orte geführt.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Die streng blickende Frau hinter dem kleinen Empfangstresen schien ihn mit einem Blick einzuschätzen. Anzug-Typ, Anfang fünfzig, jung genug für einen Hund, unsicher, Anfänger.

„Ich interessiere mich für einen Hund“, sagte Norbert, um gleich klarzumachen, dass er unter keinen Umständen mit einer Katze oder einem Kaninchen nach Hause gehen würde.

„Möchten Sie sich mal umsehen? Oder bewerben Sie sich für eines der Tiere, die wir im Fernsehen vorgestellt haben?“ Norbert konnte es nicht fassen, dass man hier bereits den Anschluss an modernste Vermarktung gefunden hatte. Sie waren clever genug, um zur besten Sendezeit in jedes Wohnzimmer zu flimmern, aber nicht pfiffig genug, Hinweisschilder dort anzubringen, wo sie einem Interessenten helfen würden, sie zu finden?

„Ich würde mich gerne umsehen.“

„Na, dann kommen Sie mal mit.“ Sie führte ihn zu den Zwingern.

„Stecken Sie bitte nicht die Finger durch die Gitter. Nicht alle Hunde sind so friedlich, wie sie aussehen“, riet sie, ehe sie ihn verließ. „Nehmen Sie sich ruhig Zeit“, rief sie noch über die Schulter und verschwand.

Und genau das tat er. Vielleicht war gerade Gassi-Zeit, dachte Norbert und ging langsam und aufmerksam von einem leeren Zwinger zum nächsten, auf der Suche nach einem Hund.

Ein Geräusch ließ ihn aufschauen. Ein Mann, der sich gerade mit einem Hustenanfall quälte, studierte einen Impfausweis und holte eine Spritze aus einem Koffer, der ihn als Tierarzt zu erkennen gab. Er zog eine Lösung auf, warf noch einen Blick in den Impfausweis und steckte ihn in die Brusttasche seines Kittels. Dabei fiel etwas zu Boden. Ohne sich darum zu kümmern, schloss der Tierarzt einen Zwinger auf und ging hinein.

Norbert näherte sich leise.

Dort in einer Ecke kauerte ein Hund und zitterte wie Espenlaub. Mit beruhigenden Worten ging der Veterinär auf das verängstigte Tier zu, das die Lefzen zurückzog und die Zähne entblößte.

‚Ach du meine Güte!‘, erschrak Norbert. Er hatte schon immer zu dem seltenen Männer-Typ gehört, der bei spannenden Stellen im Film wie zufällig in der Fernsehzeitung blättern musste. Nicht besonders cool, aber ihm völlig egal. Da er nicht Zeuge werden wollte, wie die Kampfbestie dem Mann an die Kehle sprang, beschäftigte er sich mit dem Papier, das der Fremde verloren hatte. Er bückte sich und hob es auf. Es handelte sich um ein kleines Büchlein. Ein liebevoll gestaltetes Titelblatt und eine in schöner Schrift geschriebene Überschrift sprachen ihn an:

„Nenn mich Norbert!“

In Spielfilmen taucht in Szenen, in denen der Film und das Leben des Helden eine entscheidende Wendung nehmen, immer ein Symphonieorchester auf. In Tierheimen sind Orchester nicht zugelassen, deshalb fehlte die Musik, als Norbert das Gefühl hatte, er könne Bettina kichern hören. Er riskierte einen raschen Blick in den Zwinger. Der Tierarzt lebte noch und hockte neben dem Hund, der nun nicht mehr knurrte. Die Spritze lag neben ihm, offensichtlich noch nicht injiziert, und die ehemalige Bestie ließ bebend eine mit Blut verkrustete Stelle im Nacken begutachten.

„Was hat er denn?“, fragte Norbert betroffen.

„Beißerei“, antwortete der Tierarzt ohne aufzuschauen. „Hat seinen Gegner übel zugerichtet und einer Mitarbeiterin in die Hand gebissen. Jetzt will ich ihn mir nochmal ansehen, ehe ich ihn einschläfere.“

„Was?!“ Norbert traute seinen Ohren kaum, als er sich sagen hörte: „Aber den will ich doch mitnehmen!“

Das wiederum ließ den Tierarzt aufhorchen.

„Sind Sie sicher?“

‚Nein‘, flüsterte ein Stimmchen in Norberts linker Gehirnhälfte, während die rechte die Kontrolle über das Sprachzentrum nicht wieder hergab. „Natürlich. Glauben Sie, ich würde mit so etwas spaßen?“ Dann ging er in die Hocke, steckte wider besseren Wissens die Finger durch die Gitter und lockte: „Komm her, Norbert! Komm her, Junge!“

„Woher wissen Sie denn, wie der Hund heißt?“, fragte der Tierarzt verblüfft, als sich das Tier erhob und zögerlich in Bewegung setzte.

„Ich sagte doch, ich will den Hund mitnehmen. Da werde ich ja wohl seinen Namen kennen, oder?“

„Ist ja wieder typisch“, ärgerte sich der Veterinär. „Hier weiß die eine Hand nicht, was die andere tut. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären nur eine halbe Stunde später gekommen, dann hätten Sie aber blöd geguckt, woll?“

‚Soll das Tierarzthumor sein?‘, ärgerte sich Norbert, während er versuchte, seine Stimme ruhig und entspannt klingen zu lassen, damit er das scheue Tier, das sich vorsichtig näherte, nicht erschreckte.

„So ist brav, Norbert, komm her, Norbert!“, murmelte er leise und spürte die kalte Nase des Hundes, der vorsichtig seine Finger beschnüffelte. Was er über Hunde wusste, hatte er aus dem Fernsehen. Er hatte nie einen gehabt und auch nie einen gewollt. Dennoch rührte ihn etwas an diesem Tier auf eine Art, die er nicht hätte beschreiben können. Vielleicht, weil der arme Kerl genauso einsam schien wie er selbst?

Norbert schickte Bettina die rasche Bitte, sie möge dafür sorgen, dass der Hund seine Finger nicht abbiss. Und tatsächlich, das tat er auch nicht. Im Gegenteil. Er begann zu schnüffeln und suchte die andere Hand, in der Norbert noch das Büchlein hielt. Ganz vorsichtig begann er mit dem Schwanz zu wedeln, und schien von dem Geruch der Hände, die Norbert nun abwechselnd so gut es ging durch die Maschen des Zwingergitters schob, gar nicht genug bekommen zu können.

„Ja, er erkennt sie, keine Frage“, murmelte der Mediziner und kratzte sich am Kopf. „Wird Zeit, dass das Tier hier raus kommt. Zwei Wochen sind für so einen Hund ohnehin schon zu lange, habe ich gleich gewusst. Ich verarzte seine Wunde nur eben, ist nicht so schlimm, wie sie aussieht. Ein paar Tage, dann ist er wieder völlig ok. Machen Sie mal weiter, das lenkt ihn ab.“ Der Arzt sprach beruhigend auf den Hund ein, aber dieser ignorierte ihn völlig. Er schien sich vollkommen auf Norberts Finger zu konzentrieren und schnüffelte mit einer Intensität an ihnen, als ginge es hier um sein Leben.

„So, fertig“, murmelte der Wundenfachmann und packte seine Utensilien weg. „Ich gehe jetzt mit Ihnen nach vorne, damit die alles klar machen können, woll? Wenn sich die Wunde nicht entzündet, spricht in einer Woche kein Mensch mehr darüber. Glück gehabt, Kleiner“, tätschelte er den Hund. „Dein Gegner hatte nicht so viel Glück.“ Dann öffnete er die Zwingertür und hatte Mühe, den Hund zurückzuschieben, der offensichtlich nichts lieber wollte, als sofort zu seinem neuen Besitzer auf die andere Seite des Gefängnisses zu wechseln.

„Nee, nee, du bleibst noch ein bisschen hier, woll?“

Norbert fing den fassungslosen Blick des Hundes auf, der nervös hin und her zu laufen begann und ihn dabei nicht einen Augenblick aus den Augen ließ.

Er hielt noch einmal seine Hände vor das Gitter und sagte: „Ich erledige nur ein paar Formalitäten. Bin gleich zurück. Pass du fein auf!“ Er kam sich schon ein wenig komisch vor, wie er da vor einem wildfremden Hund kniete und mit ihm redete, als könne er ihn verstehen, aber etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.

Aufmerksam hatte der Hund seinen Worten gelauscht, und sich dann zögerlich hingelegt. Nicht entspannt zusammengerollt, sondern so, als führe er ein Kommando aus, als sei er nur bereit, sich für eine kurze Weile zu gedulden.

Norbert stand auf und folgte dem Tierarzt, drehte sich noch einmal um und sagte mit einem erhobenen Zeigefinger: „Warte!“ Wenn diese blöden Hundesendungen für irgendetwas gut gewesen waren, dann dafür, dass er wusste, dass gut erzogene Hunde auf präzise formulierte Kommandos reagierten. Offensichtlich gehörte ‚Warte‘ mit der Geste, die er instinktiv gewählt hatte, zum Repertoire dieses Tieres.

Norbert kam sich vor wie der Hundeprofi persönlich, als er sah, wie ‚sein‘ Hund gehorchte. Jetzt würde er draußen dafür sorgen, dass der arme Kerl nicht zu lange dort ausharren musste.

765,11 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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281 стр. 3 иллюстрации
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9783933519610
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