Читать книгу: «Im Austausch mit der Welt», страница 2

Шрифт:

Kaum hatte also die Eidgenossenschaft ihre Ansprüche auf Expansion mit der Schlacht von Marignano im Jahr 1515 aufgegeben, so strömten aufgrund der Reformation umgekehrt gut ausgebildete und unternehmerische Protestanten aus Frankreich, Italien und den deutschen Landen, aber auch aus Ungarn, Spanien oder England in die Schweizer Orte. Diese Glaubensflüchtlinge brachten nicht nur ihr Kapital in Form von Vermögen mit, sondern auch Humankapital in Form von Wissen über Industrie und Finanzwesen sowie Erfahrung. Die innovativen Ideen wurden von den bürgerlichen Mittelschichten aufgenommen, vor allem in Genf, Neuenburg, der Waadt und im Aargau. Weshalb in teure Expansionskriege investieren, wenn Vermögen und Innovation von allein in die Schweiz kamen? Die kantonalen Handelskammern – und somit im weitesten Sinne Economiesuisse – gehen auf Kommissionen zurück, welche die eidgenössischen Orte bildeten, um die Refugianten zu betreuen. In vielen Fällen waren die ersten kantonalen Handelskammern also Wirtschaftskommissionen, die dafür zu sorgen hatten, dass die protestantischen Glaubensflüchtlinge ihr Vermögen und ihr Know-how in der Schweiz optimal zur Geltung bringen konnten. Während die Hugenotten Seidenbandmanufakturen, Bankhäuser und Uhrenwerkstätten eröffneten, blieben die Wirtschaftskommissionen bestehen und stellten die Institutionen bereit, die für eine reibungslose Wirtschaftstätigkeit vonnöten waren. So waren die kantonalen kaufmännischen Direktorien beispielsweise noch bis zum 18. Jahrhundert um den Postdienst besorgt, stellten Regelungen und Schiedsgerichte auf und dienten auch als Förderer von Forschung und Entwicklung, so etwa mit Preisausschreiben, Prämien und Beiträgen. Die kantonalen Handelskammern bildeten sich als Rahmeninstitutionen für die Industrialisierung der Schweiz aus. Das 17. Jahrhundert brachte eine zweite Welle von Flüchtlingen, diesmal hauptsächlich aus Frankreich, wo 1685 der Sonnenkönig Ludwig XIV. das Edikt von Nantes widerrief, das den Hugenotten Schutz garantiert hatte. In dieser zweiten Welle der Verfolgung von Protestanten in Europa kamen allein aus Frankreich innert weniger Jahre über 60 000 Flüchtlinge in die Schweiz, die damals etwa eine Million Einwohner aufwies. Mehrere weitere Tausend folgten aus Italien und Deutschland. Viele von ihnen reisten allerdings weiter in die Pfalz, nach Böhmen oder Preussen.

Aus wirtschaftlicher Sicht waren die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen sowie der Ewige Frieden mit Frankreich eine bedeutende Weichenstellung für den Aufstieg der Schweiz zur wohlhabendsten Nation Europas. Noch dominierte die Handels- und Wissenschaftsnation Niederlande, doch dank den hugenottischen Familien wurde die Schweiz zu einem Knotenpunkt in den europaweiten Bank- und Handelsnetzwerken, die sich von Genf über Basel nach Amsterdam und London erstreckten. Im 18. Jahrhundert entwickelten sich in der Ostschweiz und dem Jurabogen die Textil- und die Uhrenindustrie im Verlagswesen, dies teilweise basierend auf den seit dem Mittelalter bestehenden Textilindustrien. Unternehmer belieferten Bauernfamilien mit Rohstoffen wie Baumwolle, die sie aus England importierten, und exportierten die in Heimarbeit hergestellten Baumwollstoffe wiederum nach Europa und in die neue Welt, nach Amerika, Asien und Afrika. Der föderale, auf lokale, tiefstmögliche Entscheidungsgewalt ausgerichtete Staatenbund der Alten Eidgenossenschaft erwies sich als immun gegen die institutionellen Fallstricke, über welche die europäischen Grossmächte in der Frühen Neuzeit stolperten: den Absolutismus und den Merkantilismus. In Frankreich trug der Sonnenkönig Ludwig XIV., der von 1643 bis 1715 absolutistisch herrschte, mit der Vertreibung der Hugenotten und zahlreichen, wirtschaftlichen Verboten zum Niedergang Frankreichs als wirtschaftliche Grossmacht in Europa bei. Doch auch Grossbritannien verbot im 18. Jahrhundert die Verarbeitung von Baumwolle, um die einheimische Fabrikation von Wolle, Leinen und Flachs zu schützen. So wurde die Schweiz im 18. Jahrhundert aufgrund der wirtschaftlichen Fehlentscheide absolutistischer Herrscher und merkantilistischer Planer zeitwiese zum führenden Exportland für Baumwollprodukte. Auch auf intellektueller Ebene hatte sich die Theorie des Merkantilismus europaweit durchgesetzt. Tatsächlich glaubten viele europäische Denker, der Staat müsse die Wirtschaft lenken und Wirtschaftszweige schützen.

Mangels eines obrigkeitlichen Zentralstaates blieb die Schweiz von dieser Plan- und Schutzpolitik verschont und bildete im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts tatsächlich eine freihändlerische Insel in Europa. Einzig die Berner Handelskammer, der «ständige Kommerzienrat», versuchte sich kurzzeitig mit merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Diese brachte jedoch der Berner Wirtschaft keinen Schaden, da sich Bern gleichzeitig als europaweit bedeutendster institutioneller Anleger positionierte und auf dem Londoner Finanzmarkt dermassen erfolgreich war, dass Bern im 18. Jahrhundert kaum Steuern erheben musste. 1798 beschlagnahmte allerdings die französische Armee den Berner Staatsschatz. Während der Berner Grosse Rat bis zur Französischen Revolution vor allem mit Geldgeschäften erfolgreich war, fand die Industrialisierung der Schweiz anderswo statt: in der Ostschweiz sowie im Jura. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts erarbeiteten die kaufmännischen Direktorien und Obrigkeiten der verschiedenen eidgenössischen Orte Gewerbegesetze, um für die boomende Textil- und Uhrenindustrie Rahmenbedingungen zu schaffen. Zudem arbeiteten die eidgenössischen Orte zusammen, sodass etwa innereidgenössische Zölle tief gehalten wurden und die Schweizer Manufakturen nicht verteuerten. Die Eidgenossenschaft war im 18. Jahrhundert ein Tigerstaat Europas: Gut ausgebildete Handwerker produzierten zu tiefen Löhnen Konkurrenzprodukte für den Weltmarkt.

Plakat der Wirtschaftsförderung für die Abstimmung zum Uhrenstatut 1961.

Die wirtschaftliche und politische Staatsbildung der Schweiz ging einher mit der Identitätskonstruktion auf ideeller Ebene: Die Schweizer sahen sich selbst als ein Volk einfacher Bauern, das arm war und hart arbeitete, aber «auserwählt» war. Bereits im 15. Jahrhundert, im «Weissen Buch von Sarnen», wird die Geschichte von Willhelm Tell und der Gründung der Eidgenossenschaft als Allegorie auf die biblische Geschichte von David und Goliath erzählt. Die armen, aber frommen, edlen Schweizer Bauern lehnten sich darin gegen die europäischen Feudalherren auf wie der Hirtenjunge David gegen den Riesen Goliath. Der bescheidene Bauer diente als Handlanger direkt dem Herrgott. Während in der Schweiz wie in keinem anderen Land Europas die Industrialisierung und das Finanzwesen Fuss fassten, entstand gleichzeitig die nationale Identität der Schweiz als Land der einfachen Bauern und Hirten. Diese Selbstdefinition trug die Schweiz im Rahmen der Geistigen Landesverteidigung unter der Losung «Schweizerart ist Bauernart» durch den Zweiten Weltkrieg und prägte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Europapolitik. Vorortsdirektor Gerhard Winterberger unterschrieb Briefe an seinen Mentor, den in Genf unterrichtenden Ökonomieprofessor Wilhelm Röpke, mit «Ihr Hirtenknabe» und gab sich damit selbst unumwunden die Rolle Davids. Dass die umliegenden europäischen Grossmächte und die sich gerade bildende EWG Goliath sei, steht ebenso in Winterbergers Schriften: Ein Beitritt der Schweiz zur EWG würde «der Schweiz den Todesstoss versetzen und unsere politische Lebensform auslöschen», schrieb Winterberger 1960. Der «geistige Habitus der Bergbauern» habe die Schweiz erfolgreich durch die Jahrhunderte getragen, während die europäischen Adligen auf die Schweizer als Bauerntölpel heruntersahen, aber eigentlich neidisch waren auf deren Freiheit. Diesen Neid der europäischen Aristokratie auf die freien Schweizer hat Friedrich Schiller in seinem Theaterstück über Wilhelm Tell der Stauffacherin in den Mund gelegt, die ihren Mann anstachelt:

Er ist dir neidisch, weil du glücklich wohnst,

ein freier Mann auf deinem eignen Erb’.

Denn er hat keins.

Vom Kaiser selbst und Reich trägst du dies Haus zu Lehn,

du darfst es zeigen.

Dieses Bild des einfachen Bauern, Hirten oder Holzfällers, der lieber in Armut lebt und hart arbeitet, als vor fremden Vögten niederzuknien, bestimmt bis heute die Wirtschaftspolitik der Schweiz. Die Beschwörung der Widerborstigkeit der einfachen, aber freien Eidgenossen war insbesondere in der Zeit des Absolutismus und der politischen Wirren bedeutsam, als Schweizer Kaufleute sich nicht an die merkantilistischen Schutzgesetze der Grossmächte hielten und exportieren fast zwangsläufig schmuggeln bedeutete. Geschmuggelt haben Schweizer Kaufleute im Ancien Régime nicht nur Indiennes (bunt bedruckte Baumwollstoffe), Uhren und Tabak, sondern auch in Europa verbotene oder zensurierte Bücher. Wirtschaft und Weltanschauung, der Austausch von Waren oder Ideen, waren untrennbar miteinander verbunden. Die Französische Revolution von 1789, die dem Zeitalter des Absolutismus buchstäblich die Halsschlagader durchtrennte, machte den Export von Waren und Ideen aus der Schweiz für die kommenden zwei Jahrzehnte noch lebensgefährlicher. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren viele Regionen der Schweiz trotz halsbrecherischer Schmuggeltätigkeit der Schweizer Kaufleute verarmt. Napoleons Wirtschaftsblockade war noch effektiver als seine militärischen Verwüstungen.

Die Französische Revolution brachte nicht nur – wie alle europäischen Revolutionen – innert weniger Jahre Tausende von Flüchtlingen in die Schweiz, sondern auch neue Ideen, die von Schweizer Politikern vertreten und mancherorts freiwillig, mancherorts erst nach dem Einfall französischer Truppen unter Zwang umgesetzt wurden. Im April 1798 löste die Helvetische Republik die Alte Eidgenossenschaft ab. Laut der neuen Verfassung waren alle eidgenössischen Kantone politisch gleichgestellt, und alle über zwanzigjährigen Männer – mit Ausnahme der Juden – erhielten das Aktivbürgerrecht. Die Helvetik, die Umbruchphase zwischen 1798 und der Mediation Napoleons 1803, setzte den vielen verschiedenen, über Jahrhunderte gewachsenen regionalen politischen Abhängigkeiten sowie den unterschiedlichsten Rechtsformen für Einwohner der Schweiz ein radikales Ende. Die Helvetische Republik drohte im Bürgerkrieg zu zerfallen. Die neuste historische Forschung geht davon aus, dass die Mediationsverfassung Napoleons für den Weiterbestand der Schweiz als Staat in Europa verantwortlich ist. Hauptsächlich machte Napoleon die Zentralgewalt in der helvetischen Verfassung rückgängig und verfügte wiederum eine föderale Form, das heisst die Souveränität der Kantone. Es ist somit eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der Föderalismus, das Alleinstellungsmerkmal des Schweizer Staates, von einem der blutigsten Diktatoren der europäischen Geschichte bestimmt wurde.

Subsidiarität, Souveränität, Selbstbestimmung

Der Begriff Subsidiarität ist die juristische Bezeichnung für das Prinzip der Selbstverwaltung auf kleinstmöglicher Ebene. In der Moderne wurde die Theorie der Subsidiarität zunächst in der katholische Soziallehre von Papst Pius XI. im Jahr 1931 formuliert. In diesem Kontext stand Subsidiarität zunächst ethisch-anleitend; der Einzelne sollte für sein Tun Verantwortung übernehmen. Danach wurde die Idee von liberalen Ökonomen wie Friedrich August von Hayek weiterentwickelt, die das Recht des Einzelnen auf Freiheit sowie dessen Bedeutung für ökonomische Effizienz und für die Bewahrung des Marktes als Entdeckungsverfahren hervorhoben. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein zentrales Element des ordnungspolitischen Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft, wie es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt wurde. Das Subsidiaritätsprinzip ist in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union von Maastricht von 1992 sowie in Artikel 5.a in der neuen Schweizerischen Bundesverfassung von 1999 verankert. Souveränität, oder landläufig Selbstbestimmung, bezeichnet die ausschliessliche rechtliche Selbstbestimmung.

Das kaufmännische Directorium St. Gallen-Appenzell

Die mit Abstand älteste Handelskammer der Schweiz ist die Industrie- und Handelskammer St. Gallen-Appenzell. Im ausgehenden Mittelalter schloss sich eine Gruppe St. Galler Kaufleute in der Notenstein-Gesellschaft zusammen, um ihren europaweiten Leinwandhandel zu organisieren. Ein erstes Mitgliederverzeichnis datiert vom 15. August 1466. Die Kaufmannsfamilie Zyli, seit Beginn Mitglied der Notenstein-Gesellschaft, stieg im Laufe des 18. Jahrhunderts ins Bankgeschäft ein. Sitz des Unternehmens war das Haus zum Notenstein beim Brühltor, am Rand der St. Galler Altstadt. In den 1630er-Jahren war die mittelalterliche Gesellschaft zu Notenstein mit ihren wenigen Mitgliedfamilien überholt. Die gesamte städtische Unternehmerschaft konstituierte sich neu in einer Generalversammlung und in den kommenden Jahren entstand die kaufmännische Corporation St. Gallen, die von einem Direktorium geführt wurde. Das kaufmännische Directorium St. Gallen – wie es von da an noch bis in die 1990er-Jahre genannt wurde – nahm lokale markt- und finanzpolitische Aufgaben wahr und vertrat die handelspolitischen Interessen der St. Galler Kaufleute gegenüber den eidgenössischen Orten sowie dem Ausland. Konkurrenz erwuchs den St. Gallern aus dem Appenzell. Im 18. Jahrhundert prägte die reformierte Familie Zellweger den Handel mit Leinwand, später mit Rohbaumwolle und Baumwollgeweben. Die Familie führte erfolgreiche Textilunternehmen mit Filialen in Lyon, Genua und Barcelona. Während der napoleonischen Kontinentalsperre zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzten sich insbesondere die St. Galler und Appenzeller Kaufleute für die Bewahrung des Freihandels ein. Der St. Galler Kaufmann Carl Emil Viktor von Gonzenbach, 1863 bis 1886 Präsident des Directoriums, war massgeblich an der Gründung des Schweizerischen Handels- und Industrievereins beteiligt. Da die kaufmännische Corporation nur Bürger der Stadt St. Gallen zuliess, erfolgte 1875 die Gründung eines kantonalen Handels- und Industrievereins, der 1887 nebst dem Directorium ebenfalls Mitglied des SHIV wurde. Im 20. Jahrhundert war der St. Galler Textilunternehmer Ueli Forster Mitglied des kaufmännischen Directoriums und nach dessen Fusion mit dem Handels- und Industrieverein zur Industrie- und Handelskammer St. Gallen-Appenzell 1991 ihr erster Präsident. 2001 übernahm Forster das Präsidium der neu gegründeten Economiesuisse.

Das Haus der Gesellschaft zum Notenstein neben dem Brühltor in St. Gallen, 17. Jahrhundert.

Die napoleonische Kontinental­sperre (1803–1813)
Die Schweiz im globalen Wirtschaftskrieg

Die napoleonischen Kriege kosteten nicht nur Millionen Menschen das Leben, die Zeit der napoleonischen Herrschaft war auch ein über Jahre andauernder Wirtschaftskrieg, insbesondere gegen England, der den europäischen Kontinent verarmen liess. Während zehn Jahren hatten nach der Französischen Revolution 1789 in Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht, sodass die Herrschaft Napoleons in der Geschichtsschreibung oft in positivem Licht erscheint. Napoleon trat 1799 als einer von drei Konsuln an die Spitze Frankreichs, 1804 liess er sich zum Kaiser krönen, 1815 verbannten ihn die Alliierten auf die britische Insel Elba.

Während die einstmalige Wirtschaftsmacht Frankreich im 18. Jahrhundert unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. und seinen Nachfolgern stagnierte und Staatsschulden anhäufte, hatten sich England und die Niederlande in der Neuen Welt, in Amerika und Asien, ein Imperium aufgebaut. Die Schweiz und manche deutsche Regionen profitierten wirtschaftlich von dieser politischen Expansion, indem sie mit dem Handel und der industriellen Verarbeitung von Kolonialwaren zu Wohlstand gelangten. Dies war bereits der Führungselite Frankreichs während der Revolution ein Dorn im Auge gewesen. Nach seiner Machtübernahme machte sich Napoleon als Erstes daran, der wirtschaftlichen Übermacht Englands entgegenzuwirken. Die Vormacht der Niederlande brach Napoleon, indem er es einfach annektierte und seinen Bruder Louis als König der Niederlande einsetzte. Von den restlichen Ländern auf dem europäischen Kontinent verlangte Napoleon, dass sie in einem sogenannten «système continental» jeglichen Kontakt mit England abbrachen. Nicht nur die Einfuhr englischer Ware war verboten, kein Engländer sollte mehr einen Fuss auf den Kontinent setzen. Napoleon war sich im Klaren, dass er nicht die militärischen Mittel hatte, um die überseeischen Kolonien der Engländer und Holländer zu erobern. Nach der Annexion der Niederlande versuchte er daher, die Handelsströme aus den Kolonien sowie den gerade erst unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika nach England zu kappen. Dass die Kontinentalsperre für Millionen von Einwohnern in Europa die Verarmung bedeuten würde, nahm Napoleon hin, opferte er doch gleichzeitig Hunderttausende Soldaten in Feldzügen. Von der Schweiz hielt Napoleon ohnehin nicht viel, bereits 1802 beschied er Schweizer Gesandten: «Vous ne pouvez avoir de grandes finances. Vous êtes un pays pauvre.» Den beschlagnahmten Berner Staatsschatz benutzte er trotzdem gerne für seinen Ägyptenfeldzug und ebenso fügte er, nachdem er 1804 Kaiser geworden war, seiner Titulatur 1806 offiziell den Titel «Médiateur de la Confédération suisse» hinzu. 1810, nach dem Frieden von Wien, nannte Napoleon sich zudem noch «Herr von Rhäzüns», da die Österreicher ihm die Herrschaft und Schloss Rhäzüns abgetreten hatten.

Die Briten verstanden ihren Sieg in der Seeschlacht von Trafalgar 1805 zu nutzen. Die britischen Seestreitkräfte konnten Frankreich von dessen Überseekolonien komplett abschneiden. Die Briten kontrollierten fortan auch neutrale Schiffe, konnten sich auf See vor Freibeutern schützen, und so erschloss die britische Handelsflotte als Folge der Kontinentalsperre erst recht neue Überseemärkte. Das Binnenland Schweiz zog im Fahrwasser Grossbritanniens mit. So zeichnete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die starke, künftige geopolitische und wirtschaftliche Rolle Grossbritanniens ab. Und dies, obwohl Napoleons Frankreich auf dem Kontinent als Grossmacht zunächst unbesiegbar schien. In der Schweiz, die nach der Helvetik und der Mediation von 1803 einen tiefgreifenden politischen Umbruch durchlief, hatte nun die Stunde der kantonalen kaufmännischen Direktorien geschlagen. Das Staatswesen der Alten Eidgenossenschaft war aufgelöst worden, und ab 1798 wurden der Schweiz laufend neue staatliche Organisationsformen oberflächlich übergestülpt. Währenddessen existierten jedoch kaufmännische Organisationen wie etwa das kaufmännische Directorium St. Gallen weiter und reagierten auf die Anliegen der Schweizer Kaufleute und der Industrie. 1798 blieben zwar nur die Handelskammern St. Gallen und Zürich offiziell bestehen, in den anderen Orten bildeten sich aber sogleich neue Kammern. Faktisch beaufsichtigten die kantonalen Handelskammern die Schmuggeltätigkeit der Kaufleute, während der Vorort Bern mit dem Berner Landammann Niklaus Rudolf von Wattenwyl als Vorsitzender der eidgenössischen Tagsatzung den französischen Botschafter in der Schweiz zu besänftigen suchte und über die Senkung von Zöllen verhandelte. Obwohl Napoleon gegen die Schweiz laufend Zollerhöhungen und Einfuhrbeschränkungen aussprach und Frankreich schliesslich, nachdem es während drei Jahrhunderten wichtigster Handelspartner der Schweiz gewesen war, de jure als Absatzmarkt wegfiel, wurde die Schweiz de facto zur Rohstoffdrehscheibe des Kontinents. Dass sich die Schweizer Kaufleute nicht an die Kontinentalsperre hielten, ärgerte den französischen Botschafter in der Schweiz ausserordentlich, er nannte sie «contrebande» und «fraudulent», Schmuggler und Betrüger. Gleichzeitig aber hob Napoleon ein 8000 Mann umfassendes Söldnerheer in der Schweiz aus, dessen letzte Überlebende beim Russlandfeldzug 1812 die Brücken über den Fluss Beresina in Weissrussland hielten. Das seit dem Ewigen Frieden von 1516 fragile Gleichgewicht zwischen Frankreich und der Schweiz – französische Handelsprivilegien gegen Söldner – hing trotz des Einsatzes der Schweizer an der Beresina buchstäblich am rohseidenen Faden. Im Fürstentum Neuenburg, das in einer rechtlich bizarren Doppelstellung sowohl zur Eidgenossenschaft wie auch zu Preussen gehörte, mussten 1810 britische Waren verbrannt werden. Damit war der Tiefpunkt der Kontinentalsperre erreicht.

Schon vor der Einsetzung der Kontinentalsperre war die Eidgenossenschaft von den protektionistischen Massnahmen Frankreichs betroffen. Im Oktober 1803 setzte der Wirtschaftskrieg jedoch richtig ein, indem Frankreich Importe von Baumwollwaren aus der Schweiz durch hohe Zölle erschwerte. Im Februar 1806 verbot Frankreich den Import von Baumwollwaren sowie den Transit schweizerischer Manufakturprodukte nach Spanien komplett. 1804 untersagte Napoleon den Export von Hanf und Flachs aus Belgien und dem Elsass in die Schweiz, 1805 denjenigen von piemontesischer Rohseide. Unter aussenpolitischem Druck übernahm die Tagsatzung im Juli 1806 das Importverbot für britische Handelsgüter. Einzig die Einfuhr von Maschinengarn, dem Basisprodukt der schweizerischen Textilfabrikation, war mit Billigung der französischen Regierung weiterhin möglich. Der Vollzug wurde den Grenzkantonen übertragen und der Handelsverkehr an der Nord- und Ostgrenze auf 13 Zollstationen beschränkt. Die für das Fortbestehen der Textilindustrie entscheidende, rohe Baumwolle gelangte in den folgenden Jahren praktisch nur noch aus der Levante, etwa aus Ägypten, in die Schweiz.

Mit dem Dekret von Trianon im August 1810 wurden sämtliche Kolonialwaren – ausgenommen der französischen – mit einem Zoll von bis zu fünfzig Prozent ihres Werts belastet. Sondergerichte wurden eingesetzt, um den Schmuggel zu bekämpfen. Napoleons Inspektoren erstellten schwarze Listen der Schweizer Unternehmen, die angeblich schmuggelten, und wollten deren Warenlager konfiszieren. Den Grenzstaaten befahl man, gegenüber der Schweiz eine vollständige Sperre einzurichten. Die Konfiskation von Kolonialwaren und britischen Manufakturprodukten und ein von Italien, Baden, Württemberg und Bayern verhängtes Exportverbot von Kolonialwaren und levantinischer Baumwolle in die Schweiz führten in der Ostschweiz zu Arbeitslosigkeit und trieben Handelshäuser in Basel und Zürich in den Ruin. Italienische Truppen besetzten im Oktober 1810 mit der Billigung Napoleons und unter dem Vorwand der Bekämpfung von Schmuggelumtrieben das Tessin. Landamman von Wattenwyl erreichte mittels eines dringlichen Appells, in dem er auf die prekäre wirtschaftliche Lage der Kantone hinwies, dass Napoleon Ende Dezember 1810 den Import von levantinischer Baumwolle wieder zuliess und die Rheinbundstaaten 1811 ihre Transitsperre aufhoben. Bis zur Völkerschlacht von Leipzig 1813 und dem Ende der napoleonischen Herrschaft gab es in der Schweiz Bankrotte, Hunger, Arbeitslosigkeit. Der Niedergang der Stickereiindustrie war absehbar.

Auf globaler Ebene vollzog sich zur Zeit der Kontinentalsperre ein tiefgreifender Wandel: nicht nur bezüglich der Beschaffenheit des Welthandels, sondern auch der Ideen, die das Weltbild der europäischen Bevölkerung prägten – was wiederum den Welthandel beeinflusste. 1807, mitten im napoleonischen Handelskrieg, verfügte das britische Parlament das Verbot des transatlantischen Sklavenhandels. Damit nahm der Dreieckshandel, die Grundstruktur des Welthandels im 18. Jahrhundert, ein Ende. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts galten Sklaven als Kolonialware, ähnlich wie Baumwolle, Rohrzucker, Tee, Gewürze oder Tabak. Mit der sogenannten Abolition von 1807 wurden Sklaven zu Menschen. Die Arbeitsbedingungen, unter welchen Kolonialprodukte hergestellt wurden, ja überhaupt die Lebensbedingungen von Menschen in Übersee drangen ins Bewusstsein der Bevölkerung Europas. Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau, Sohn eines hugenottischen Uhrmachers, hatte sich bereits im 18. Jahrhundert scharf gegen die Sklaverei ausgesprochen und mit seiner Philosophie auch die Französische Revolution vorgespurt. Nun, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, floss die von Rousseau und anderen Philosophen vorgedachte Aufklärung in konkrete Gesetze ein, die den Welthandel in eine andere Richtung lenkten.

Napoleon setzt Schweizer Kaufleute auf eine schwarze Liste. Brief des französischen Gesandten Rouyer an die eidgenössische Tagsatzung, 11. Oktober 1810

Monsieur le Landamman,

Sa Majesté l’Empereur a reçu de nouveaux renseignements sur les nombreuses expéditions de marchandises anglaises et de denrées coloniales qu’on dirige habituellement sur la Suisse. Tous les capitalistes anglais qui avaient par eux-mêmes ou par leurs correspondants des entrepôts dans les villes hanséatiques, dans le Holstein, en Hollande et dans plusieurs parties de l’Allemagne, se sont efforcés de transporter en Helvétie leurs magasins, depuis que partout ailleurs des tarifs ou des lois prohibitifs sont uniformément établis. Toutes les routes d’Allemagne sont encombrées de ces marchandises, qu’on fait passer en Suisse, et les expéditionnaires vont jusqu’à doubler et tripler les prix de transport pour augmenter le nombre des envois.

On a particulièrement remarqué que les cotons d’Amérique, les «Twists» ou «Fils de coton» débarqués dans les premiers mois de cette année ou jetés en contrebande sur les côtes de la Baltique, ont été successivement dirigés vers la Suisse, que les commissionnaires établis dans les principales villes d’Allemagne, craignant le séquestre des marchandises de fabriques anglaises et des denrées coloniales, font prendre la même direction à celles qu’ils avaient déjà dans leurs magasins, qu’ils les adressent principalement à Bâle, Berne, Zurich, Winterthour et Schaffhouse. La maison des frères Mérian de Bâle s’occupe avec plus d’activité que toutes autres de ces expéditions. Je joins ici la liste qui m’a été envoyée par mon gouvernement, des négociants suisses auxquels des envois de coton anglais, de marchandises et denrées coloniales continuent d’être habituellement expédiés par leurs correspondants d’Allemagne, surtout par ceux de Leipzig et de Francfort. Toutes ces marchandises ne proviennent pas de prises faites par les corsaires et de ventes de cargaisons confisquées. On regarde la plupart de ces expéditions comme le résultat d’un concert frauduleux entre les négociants, et ceux-ci recueillent en dernier résultat les principaux avantages de cette contrebande, qui se fait en Suisse avec plus d’activité que partout ailleurs, quoi qu’elle y soit prohibée par les lois.

Il n’est pas possible que cet ordre de choses subsiste plus longtemps. La Suisse doit marcher dans le sens des pays qui l’environnent, et les mêmes mesures doivent y être mises à exécution.

[…]

Agréez, Monsieur le Landamman, etc.

Le chargé d’affaires de France en Suisse, Rouyer

Schweizer Kaufleute hatten sich im 18. Jahrhundert in ähnlichem Masse wie andere europäische Handelsleute an sogenannten «négriers» beteiligt. Dies waren Schiffe, die mit Waffen, Textilien und Schmuck beladen nach Westafrika fuhren, die europäischen Waren gegen Sklaven tauschten, die Sklaven nach Amerika transportierten und sie dort gegen Rohstoffe, insbesondere Baumwolle, eintauschten. In der wirtschaftshistorischen Forschung wurde in den vergangenen Jahrzehnten debattiert, ob der Dreieckshandel die industrielle Revolution in Europa und damit erst recht in der Schweiz, einem sehr früh sehr stark industrialisierten Land, überhaupt erst ermöglicht habe. Die jüngste Forschung macht allerdings die technologische Innovation als Haupttriebfeder der industriellen Revolution aus und beziffert Investitionen mit Gewinnen aus dem Dreieckshandel mit lediglich 15 Prozent. Zudem sei mit der Entwicklung der neuen technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften auch die Entwicklung eines neuen Menschen- und Weltbildes einhergegangen. Dieses neue Menschen-und Weltbild sah Freiheit und gleiche Rechte für alle Menschen vor und räumte dem einfachen Mann eine ganz neue Bedeutung ein. Der Metzger, der Bäcker oder der Bierbrauer würden die Menschheit wie von einer unsichtbaren Hand geleitet mit Fleisch, Brot und Bier versorgen, stellte der schottische Philosoph Adam Smith am Ende des 18. Jahrhunderts fest. Während Napoleon versuchte, sich mit Gewalt ganz Europa untertan zu machen, begann mit der Abolition des Sklavenhandels gleichzeitig eine neue Ära des Welthandels. Mit Haiti, wo die militärische Intervention Napoleons zuerst noch einer halben Million Menschen das Leben gekostet hatte, erklärte sich 1804 erstmals eine Nation für unabhängig, die aus ehemaligen Sklaven bestand. Gemäss dem sich langsam durchsetzenden, aufklärerischen Gedankengut sollte nicht nur der Handel mit Menschen verboten werden, alle Menschen sollten auch frei handeln können.

Während Gelehrte in England und Schottland die Theorie des Freihandels und der freien Marktwirtschaft entwickelten, praktizierten Schweizer Kaufleute und Handelsgremien den Freihandel sowohl im modernen wie auch im mittelalterlichen Sinne. Bis zum Ende der napoleonischen Kontinentalsperre handelten die Schweizer Kaufleute im wahrsten mittelalterlichen Sinne «frei», nämlich ausserhalb der von Napoleon diktatorisch erklärten Handelssperren, als Schmuggler. Danach konnte die Eidgenossenschaft ihre Aussenwirtschaftspolitik wieder souverän gestalten. Mit der Mediationsverfassung von 1803 bekam die Tagsatzung auch das Recht, Handelsverträge mit anderen Ländern abzuschliessen. Im Dezember 1813 gab sich die Schweiz erstmals einen eigenen Grenzzolltarif, hauptsächlich, um geringe Steuern zu erheben. Dieser hielt aber nur gerade acht Monate. Gegen ihn hatte sich eine Volksbewegung gerichtet, an deren Spitze das kaufmännische Directorium St. Gallen stand. Es wollte für Rohbaumwolle gar keine Zölle bezahlen und fühlte sich stark genug, auch gegen englische Manufakturkonkurrenzprodukte zu bestehen. Als die europäischen Grossmächte am Wiener Kongress 1815 ein weiteres Mal die Souveränität der Schweiz bestätigten, war diese eine Insel des modernsten Freihandels in Europa. Die Tagsatzung erhob lediglich einen «Grenzbatzen» auf maschinengesponnenes Baumwollgarn und Tücher, der so tief war, dass er keine abschottende Wirkung entfalten konnte.

4 214,54 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
318 стр. 65 иллюстраций
ISBN:
9783039199686
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают