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Hauptformen der Individualbeschwerde
Direkte Beschwerdemöglichkeit (= Verfassungsbeschwerde, recurso de amparo) Indirekte Beschwerdemöglichkeit (= konkrete Normenkontrolle)
gegen Gesetze Belgien, Deutschland, Polen, Spanien, Ungarn, Schweiz (kantonale Gesetze) Frankreich, Italien, Portugal
gegen Urteile Deutschland, Spanien, Ungarn, Schweiz Portugal (eingeschränkt)

3. Gegenstand und Prüfungsmaßstab der Individualbeschwerde

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Hinsichtlich des Verfahrensgegenstands der Individualbeschwerde lassen sich zwei Grundansätze unterscheiden. Bei der ersten Form der Individualbeschwerde steht das Schutzobjekt im Vordergrund: das Verfahren dient dem umfassenden Schutz der in der Verfassung geschützten Individualrechte. Mit der Individualbeschwerde können daher alle Akte und Maßnahmen angegriffen werden, die geeignet sind, die freie Ausübung der geschützten Rechte zu beeinträchtigen, unabhängig von ihrer rechtstechnischen Einkleidung oder Qualifizierung. Generell-abstrakte Rechtsakte wie Gesetze und Verordnungen sind damit prinzipiell ebenso zulässiger Angriffsgegenstand im Rahmen der Individualbeschwerde wie konkret-individuelle Rechtsakte, insbesondere Verwaltungsakte, Gerichtsurteile, Beschlüsse und Verfügungen. Aber auch Realakte und selbst Unterlassungen können, sofern sie die ungestörte Ausübung von Grundrechten erschweren oder unmöglich machen, Prüfungsgegenstand im Rahmen der Individualbeschwerde sein. Dieser Ansatz ist in Deutschland und in Spanien verwirklicht. Nach der weiten Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a) GG kann die Verfassungsbeschwerde gegen jedes Verhalten der öffentlichen Gewalt erhoben werden, das geeignet ist, die Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte des Beschwerdeführers zu verletzen. Eine bestimmte rechtliche Form des Eingriffsakts ist nicht erforderlich, ja es muss sich überhaupt nicht um einen Rechtsakt handeln. Die Formulierung des Art. 161 Abs. 1 lit. b) der spanischen Verfassung ist ähnlich weit („[p]or violación de los derechos y libertades referidos en el artículo 53, 2, de esta Constitución […]“[162]), verweist indes im Unterschied zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a) GG auf die Möglichkeit einer einschränkenden Regelung durch das LOTC („[e]n los casos y formas que la ley establezca“[163]). Von dieser Möglichkeit macht das LOTC aber gerade keinen Gebrauch, sondern nimmt ausdrücklich in Art. 41 Abs. 2 LOTC die vorstehend beschriebene weite Bestimmung des Angriffsgegenstandes auf:

El recurso de amparo constitucional protege, en los términos que esta ley establece, frente a las violaciones de los derechos y libertades a que se refiere el apartado anterior, originadas por las disposiciones, actos jurídicos, omisiones o simple vía de hecho de los poderes públicos del Estado, las Comunidades Autónomas y demás entes públicos de carácter territorial, corporativo o institucional, así como de sus funcionarios o agentes.“[164]

Ähnlich weite Definitionen des Angriffsgegenstandes werden in § 72 Abs. 1 lit. a) des tschechischen und § 49 des slowakischen Verfassungsgerichtsgesetzes zugrunde gelegt.

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Der alternative Ansatz schränkt hingegen den Angriffsgegenstand der Individualbeschwerde auf Rechtsakte ein. So kann nach Art. 24 Abs. 2 lit. c), d) des ungarischen Grundgesetzes im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde sowohl die Verfassungsmäßigkeit der Anwendung einer Rechtsnorm im konkreten Fall als auch die Vereinbarkeit gerichtlicher Entscheidungen mit der Verfassung überprüft werden. An die Rechtsform des angegriffenen Aktes gebunden ist die Individualbeschwerde auch im österreichischen Verfassungsrecht. Neben der 1975 eingeführten Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze ist seit 2012 auch die Möglichkeit der Beschwerde gegen Erkenntnisse (Urteile) und Beschlüsse der Verwaltungsgerichte im Bundesverfassungsrecht verankert (Art. 144-Abs. 1 B-VG).

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In anderen Ländern ist die Beschwerdemöglichkeit hingegen auf die Rechtssatzverfassungsbeschwerde beschränkt. Dies gilt etwa für Polen, wo die Verfassungsbeschwerde auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen gerichtet sein muss (Art. 79 Abs. 1, 2 polnische Verfassung). Elemente der Rechtssatzbeschwerde enthält auch die Nichtigkeitsklage (abstrakte Normenkontrolle) vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof, da hier auch natürliche und juristische Personen unmittelbar vor dem Verfassungsgerichtshof auf die Nichtigkeit einer der in Art. 141 genannten Normen – die föderalen Gesetze, die von der französischen und flämischen Gemeinschaft beschlossenen Regelungen mit Gesetzeskraft (Dekrete) und die von den Regionen erlassenen rechtlichen Bestimmungen – klagen können, sofern sie ein ausreichendes Interesse nachweisen.[165]

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Auf der anderen Seite hat in der Türkei die Beschränkung der Individualbeschwerdemöglichkeit auf Einzelakte der Behörden und Gerichte das bereits erwähnte Ziel, die Zahl der Verurteilungen vor dem EGMR zu reduzieren, indem ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verteidigung der EMRK-Rechte im innerstaatlichen Recht zur Verfügung gestellt wird.[166] Da der Straßburger Gerichtshof sich in der Praxis regelmäßig auf die Prüfung der EMRK-Konformität der Anwendungsakte konzentriert, sah der Gesetzgeber offenbar auch nur insoweit die Notwendigkeit zur Schaffung einer innerstaatlichen Abhilfemöglichkeit.

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Eine unmittelbare Folge der großzügigen Definition des Angriffsgegenstandes ist die Gefahr einer Überschwemmung des Verfassungsgerichts mit einer Flut von Beschwerden, eine Gefahr, die auch durch die Beschränkung der Beschwerdebefugnis auf die durch den fraglichen Akt unmittelbar Betroffenen und das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (dazu sogleich 5. und 6.) nicht beseitigt werden kann. Sowohl das BVerfG als auch das spanische Tribunal Constitucional[167] haben mit einer ständig wachsenden Anzahl von Verfassungsbeschwerden zu kämpfen gehabt, welche die Arbeitsfähigkeit des Gerichts lahmzulegen drohten. Organisatorische Gegenmaßnahmen, insbesondere die Verlagerung der Entscheidung über die weniger schwierigen Fälle auf Kammern,[168] haben hier nur begrenzt Abhilfe schaffen können. In beiden Ländern ist daher schon seit längerem über weitergehende Reformmaßnahmen diskutiert worden, insbesondere über die Einführung eines Annahmeermessens nach dem Vorbild des US Supreme Court. In Spanien führte diese Debatte 2007 zu einer erheblichen Einschränkung der Zulässigkeitsvoraussetzungen von Verfassungsbeschwerden: nach Art. 50 Abs. 1 b) LOTC sollen sie jetzt vom Tribunal Constitucional nur noch zur Entscheidung angenommen werden, wenn ihre „besondere verfassungsrechtliche Bedeutung“ (especial trascendencia constitucional) eine Entscheidung in der Sache rechtfertigt. Diese „besondere Bedeutung“ der Sache kann sich auf die Interpretation der Verfassung, ihre Anwendung oder allgemeine Wirksamkeit, aber auch auf die Bestimmung des Anwendungsbereichs und des Inhalts der Grundrechte beziehen. In einer Entscheidung des Plenums vom 25. Juni 2009[169] hat das Tribunal Constitutional eine – nicht abschließende – Aufzählung der Fälle vorgenommen, in denen davon auszugehen ist, dass eine Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf ihre besondere verfassungsrechtliche Bedeutung eine Entscheidung in der Sache rechtfertigt. Danach ist ein Eingreifen des Verfassungsgerichts insbesondere dann geboten, wenn eine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bisher völlig fehlt oder eine bestehende Verfassungsrechtsprechung abgeändert werden soll, aber auch dann, wenn es um die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder ihrer Auslegung durch die Gerichte geht.[170] In jedem Fall räumt die verfassungsgerichtliche Generalklausel dem Tribunal Constitucional einen weiten Spielraum bei der Steuerung seiner Annahmepraxis ein.

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In den Fällen, in denen die Möglichkeit einer Urteilsverfassungsbeschwerde vorgesehen ist, stellt sich die Frage nach der Abgrenzung der Zuständigkeiten von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit/ordentlicher Gerichtsbarkeit, zumal letzterer, oft genug in der Verfassung selbst, der Schutz der Rechte und der gesetzlich geschützten Interessen der Bürgerinnen und Bürger anvertraut ist.[171] Zwar ist die Anrufung des Verfassungsgerichts regelmäßig erst nach Abschluss des ordentlichen Rechtswegs zulässig. Dessen ungeachtet ist mit der dem Verfassungsgericht mit dem außerordentlichen Rechtsbehelf der Urteilsverfassungsbeschwerde eröffneten Möglichkeit zur Beeinflussung und sogar zur Korrektur der fachgerichtlichen Rechtsprechung im Namen der Verfassung ein erhebliches Konfliktpotenzial verbunden. Das deutsche BVerfG hat der Möglichkeit, die Verfassungs- und insbesondere die Grundrechtauslegung der Fachgerichte mit Hilfe des Instruments der Urteilsverfassungsbeschwerde bis ins Detail zu steuern, regen Gebrauch gemacht: Urteilsverfassungsbeschwerden machen über 90% aller Verfassungsbeschwerden aus.[172] Die in der Literatur gelegentlich geäußerte Kritik an einer zu weitgehenden Ingerenz des BVerfG in die Tätigkeit der Fachgerichte[173] hat sich in der Praxis jedoch nicht in institutionellen Konflikten zwischen BVerfG und Fachgerichtsbarkeit niedergeschlagen.

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Dies gilt indessen bei weitem nicht für alle Länder, in denen die Urteilsverfassungsbeschwerde in der Verfassung verankert worden ist. In Russland hat der Oberste Gerichtshof sich wiederholt geweigert, eine Rechtssache im Lichte der Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts neu zu verhandeln, und dies selbst in Fällen, in denen das Verfassungsgericht die Neuverhandlung ausdrücklich angeordnet hatte. In anderen Fällen hat er die erfolgreichen Beschwerdeführer darauf verwiesen, ihren Fall für eine neue Verhandlung und Entscheidung vor das Prozessgericht zu bringen, unter gleichzeitigem Verweis darauf, dass das Prozessgericht an die Anordnungen des Verfassungsgerichts nicht gebunden ist.[174] Noch heftigere Formen haben die Auseinandersetzungen über die Kompetenzabgrenzung im Bereich des Grundrechtsschutzes zwischen dem Obersten Gerichtshof Spaniens und dem Tribunal Constitucional angenommen. In einer spektakulären Entscheidung vom 23. Januar 2004 verurteilte die Zivilkammer des Obersten Gerichtshofs elf Richter des Tribunal Constitucional wegen außervertraglicher Pflichtverletzung zum Schadensersatz mit der Begründung, dass sie zu Unrecht und fahrlässig eine Verfassungsbeschwerde verworfen hätten. Die verurteilten Verfassungsrichter sahen sich daraufhin gezwungen, ihre Rechte – und die Autorität „ihres“ Gerichts – durch die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zu verteidigen, der das Tribunal Constitucional – nach dem Ausscheiden der fraglichen Mitglieder aus dem Gericht – schließlich stattgab. Der Grundkonflikt zwischen dem Verfassungsgericht und dem höchsten spanischen Zivil- und Strafgericht ist damit freilich nicht gelöst.[175]

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Primärer Prüfungsmaßstab im Individualbeschwerdeverfahren sind regelmäßig die von der Verfassung geschützten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte.[176] Teilweise ist der Prüfungsmaßstab weiter eingegrenzt. So kann mit der Verfassungsbeschwerde in der Türkei nur die Verletzung derjenigen verfassungsmäßigen Grundrechte gerügt werden, mit denen die Verpflichtungen der Türkei aus der EMRK und den ratifizierten Zusatzprotokollen umgesetzt werden.[177] Einen anderen Ansatz verfolgt die belgische Verfassung, die den im Rahmen der Nichtigkeitsklage gewährleisteten Grundrechtsschutz zunächst auf die im Grundrechtskatalog der Verfassung enthaltenen Antidiskriminierungsgarantien und Rechte im Bildungswesen beschränken wollte, die für das Verhältnis zwischen den Gemeinschaften besonders relevant sind. Diese föderale Beschränkung hat der Verfassungsgerichtshof jedoch faktisch ausgehebelt mit der Begründung, dass prinzipiell jedes Grundrecht in gleichheitswidriger bzw. diskriminierender Weise entzogen oder verletzt werden kann. So unterliegen alle Grundrechte seinem Schutz, unabhängig davon, ob diese durch die Verfassung gewährleistet werden oder durch internationale Menschenrechtsverträge.[178]

4. Beschwerdebefugnis

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Die Zulässigkeit der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde wird in den Verfassungen und Verfassungsgerichtsgesetzen regelmäßig von dem Vorliegen einer Beschwerdebefugnis abhängig gemacht, unabhängig davon, ob es sich um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde oder eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Einzelakt, insbesondere eine Urteilsverfassungsbeschwerde handelt. Der Beschwerdeführer muss geltend machen können, dass er durch die fragliche Regelung oder Maßnahme unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist.[179] Dieses Erfordernis der subjektiven Betroffenheit entspricht der gemeineuropäischen Konzeption der Individualbeschwerde als Instrument primär zur Verteidigung individueller Rechtspositionen, wie sie sich in Art. 34 EMRK widerspiegelt. Handelt es sich um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde, so muss zusätzlich dargetan werden, dass der Beschwerdeführer bereits von der Norm selbst in seinen Grundrechten verletzt worden ist, und nicht erst durch deren Vollzug.[180]

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Eine nennenswerte Ausnahme von dem subjektivrechtlichen Ansatz stellt vor allem das belgische Verfassungsprozessrecht dar, das für die Nichtigkeitsklage von privaten Klägerinnen und Klägern gegen Rechtssätze unter Rückgriff auf das entsprechende Institut des französischen und belgischen Verwaltungsprozessrechts lediglich ein „Klageinteresse“ (intéret à agir) fordert. Die klagende Person muss darlegen, dass die mit der Nichtigkeitsklage angegriffene Bestimmung auf sie anwendbar ist, aber auch aufzeigen, inwiefern sie sich nachteilig auf sie auswirkt oder ihr einen Schaden zufügen könnte. Ob dieser Maßstab wirklich weniger streng ist als die von den meisten Verfassungsgerichtsgesetzen geforderte Glaubhaftmachung der Verletzung eigener Grundrechte erscheint zweifelhaft, zumal die vom belgischen Verfassungsgerichtshof zur Konkretisierung dieses Maßstabs herangezogenen Kriterien sich kaum von denen zu unterscheiden scheinen, die andernorts bei der Prüfung der Beschwerdebefugnis im Verfassungsbeschwerdeverfahren Anwendung finden.[181]

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Hingegen ist die echte Popularklage (Bürgerklage) gegen Gesetze auch in Ungarn aus dem Arsenal der Verfassungsgerichtsbarkeit verschwunden und durch die Urteilsverfassungsbeschwerde ersetzt worden. Zwar ist nach der Neuregelung eine Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung auch dann zulässig, wenn die Verfassungswidrigkeit nicht auf der fehlerhaften Auslegung und Anwendung der Norm durch das Gericht, sondern unmittelbar auf der Norm selbst beruht. Allerdings muss der Beschwerdeführer auch in diesem Fall, anders als früher bei der actio popularis, darlegen, dass er in seinen Grundrechten verletzt ist.[182]

5. Rechtswegerschöpfung

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Bei der Individualbeschwerde spielt das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung anders als bei der Normenkontrolle und den Organstreitverfahren eine große Rolle. Denn beim Schutz der Individualrechte handelt es sich im Unterschied zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von (Parlaments-)Gesetzen und die Beilegung von Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen um eine Aufgabe, die auch im System der zentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit traditionell von den ordentlichen Gerichten mit wahrgenommen wird. Schon vom reinen Umfang her ist dies eine Aufgabe, die sich im modernen Verfassungsstaat, in dem die Grundrechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern den Alltag der Bürgerinnen und Bürger prägen, nicht von einem einzelnen Gericht, sondern nur von einem voll ausgebauten Gerichtssystem einigermaßen erfolgreich bewältigen lässt. Hier wandelt sich daher die Rolle des Verfassungsgerichts faktisch von derjenigen der ersten und letzten Entscheidungsinstanz in Normenkontroll- und Organstreitverfahren zur Revisionsinstanz in Grundrechtsverfahren.[183] Das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung stellt sicher, dass das Verfassungsgericht seine Ressourcen auf diejenigen Fälle konzentrieren kann, in denen seiner Einschätzung nach der einfachgerichtliche Rechtsschutz der Grundrechte unzureichend ist und daher Impulse für seine Weiterentwicklung erforderlich sind. Wie die Beispiele Deutschlands und Spaniens zeigen, reicht die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde allein allerdings längst nicht mehr aus, um die Arbeitsfähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit angesichts der Flut von Individualbeschwerden zu gewährleisten.

6. Entscheidungswirkungen

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Soweit es sich bei der Individualbeschwerde um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde handelt, sind die Vorschriften über die Form und die Rechtswirkungen von Entscheidungen im Verfahren der Normenkontrolle regelmäßig unmittelbar oder entsprechend anwendbar.[184] Bei der Urteilsverfassungsbeschwerde stellt sich hingegen die heikle Frage, ob das Verfassungsgericht darauf beschränkt sein soll, die Unrichtigkeit der vom Gericht in der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Verfassungsauslegung festzustellen oder ob ihm die Befugnis zugesprochen wird, die fehlerhafte Gerichtsentscheidung aufzuheben und die Neuverhandlung der Rechtssache anzuordnen. Es liegt auf der Hand, dass die zweite Lösung einen erheblich weitergehenden Eingriff in die Autonomie der ordentlichen Gerichtsbarkeit darstellt und das Verfassungsgericht auch formell zu einem Revisionsgericht macht. Es ist daher nicht überraschend, dass sie nur in Deutschland explizit Aufnahme in die Verfassungsgerichtsordnung gefunden hat (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). In anderen Ländern sind hingegen Bemühungen, den bindenden Charakter verfassungsgerichtlicher Entscheidungen im Verfahren der Urteilsbeschwerde für die Fachgerichte gesetzlich zu verankern, am Widerstand der Fachgerichte gescheitert.[185] Das spanische LOTC, das sich sonst weitgehend am deutschen Modell der Verfassungsbeschwerde orientiert, bestimmt seit 2007 ausdrücklich, dass sich das Verfassungsgericht für den Fall, dass einer Urteilsverfassungsbeschwerde stattgegeben wird, auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die Wiederherstellung der verletzten Rechte beschränkt „und sich jedweder weitergehenden Erwägung über das Verhalten der Rechtsprechungsorgane enthält“[186].

V. Schlussbemerkung

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Die Normenkontrolle in ihren unterschiedlichen Formen bildet nach wie vor die Kernkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit auch im europäischen Rechtsraum. Sie wird in unterschiedlichen Formen praktiziert, wobei die konkrete Normenkontrolle den kleinsten gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Systeme darstellt. Ein Gericht, das eine Kompetenz zumindest zur inzidenten konkreten Normenkontrolle nicht besitzt, kann weder im engeren noch im weiteren Sinne als Verfassungsgericht qualifiziert werden.

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Das Organstreitverfahren ist demgegenüber in den meisten Ländern des europäischen Rechtsraums nur von untergeordneter Bedeutung. Obwohl in den letzten Jahrzehnten mehr Staaten dieses Verfahren in ihre Verfassungen oder zumindest Verfassungsgerichtsgesetze aufgenommen haben, ist seine Normierung in den meisten Fällen knapp und fragmentarisch. Dieser zurückhaltenden Regulierung entspricht die sehr begrenzte Relevanz des Organstreitverfahrens in der verfassungsgerichtlichen Praxis. Nur in zwei Ländern des europäischen Rechtsraums ist dieses Verfahren näher entfaltet und zum Schutz hochrangiger Verfassungsgüter (Schutz der Integrität der rechtsprechenden Gewalt, demokratischer Minderheitenschutz) effektiv eingesetzt worden.

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Während Verfassungsgerichte im Organstreitverfahren durchweg und im Normenkontrollverfahren überwiegend exklusive Zuständigkeiten ausüben, teilt die Verfassungsgerichtsbarkeit die Aufgabe eines wirksamen Individualrechtsschutzes mit der ordentlichen Gerichtsbarkeit bzw. der Fachgerichtsbarkeit. Der Grundrechtsschutz überformt nicht nur in Deutschland den klassischen Individualrechtsschutz, der den Gerichten im europäischen Rechtsraum schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist, und lässt deren zentrale Rolle bei der Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Grundrechte als Kernstück der verfassungsmäßigen Ordnung im juristischen Alltag hervortreten. Das Verfassungsprozessrecht hinkt dieser Entwicklung allerdings zum Teil noch hinterher. Besonders deutlich ist dies in Ländern, in denen die Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem Aufschwung des verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutzes eingeführt wurde, wie in Italien und Frankreich. Wichtige Funktionen des Individualbeschwerdeverfahrens, insbesondere der verfassungsgerichtliche Schutz vor Grundrechtsverletzungen unmittelbar durch Gesetz, werden in diesen Ländern im Rahmen ursprünglich stärker objektivrechtlich konzipierter Verfahren, namentlich der konkreten Normenkontrolle wahrgenommen. In einem Kontext, in dem der Grundrechtsschutz immer stärker als Kernaufgabe der gesamten Gerichtsbarkeit begriffen wird, wandelt sich die Funktion des Verfassungsgerichts von einer Beschwerde- zu einer Aufsichtsinstanz über die ordentlichen Gerichte bzw. Fachgerichte, die diesen Schutz im Alltag primär gewährleisten müssen. Dementsprechend kommt der Urteilsverfassungsbeschwerde als Instrument zur Steuerung der Grundrechtsinterpretation durch die Fachgerichte heute eine zentrale Bedeutung zu. In vielen Ländern ist sie aber entweder im Verfassungsgerichtsgesetz gar nicht vorgesehen oder führt in der Praxis nur ein Schattendasein. Denn selbst dort, wo die Urteilsverfassungsbeschwerde gesetzlich geregelt ist, sehen die Verfassungsgerichte im Hinblick auf eine latente oder offene Rivalität mit den Fachgerichten und deren hierarchischer Spitze nicht selten von einer aktiven Wahrnehmung dieser Kompetenz ab.

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9783811488137
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