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b) Hinweis auf die Verfassung interpretierende Gerichtsentscheidungen

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Um dem Verfassungstext Bedeutung zuzuweisen, kann man auch auf frühere Gerichtsentscheidungen verweisen, in denen die Verfassung interpretiert wurde.[84] Dabei stellt sich die Frage, ob bereits einzelne Entscheidungen oder nur eine ständige Rechtsprechung (eine Serie früherer Entscheidungen, eine jurisprudence constante) als Argument für eine spezifische Auslegung herangezogen werden können/kann.[85] Eine andere Frage ist, ob im Fall einer inkonsistenten Rechtsprechung die früheren oder die späteren Entscheidungen Vorrang haben sollten.[86] In einigen Staaten haben einzelne Gerichtsentscheidungen als Präzedenzfälle formelle normative Kraft (common law),[87] in anderen nur (manchmal sehr starke) Überzeugungskraft.

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Die argumentative Relevanz früherer Gerichtsentscheidungen lässt sich daraus begründen, dass ähnliche Fälle ähnlich entschieden werden sollen.[88] Fraglich ist jedoch, was „ähnlich“ bedeutet. Ordentliche Gerichte definieren „ähnlich“ normalerweise mit Bezug auf einen vergleichbaren Tatbestand. Im Fall der Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet dies, dass die zu interpretierende Rechtsvorschrift den gleichen verfassungsrechtlich relevanten Inhalt haben sollte.[89] Ist dies nicht der Fall, dann muss der früheren Entscheidung nicht gefolgt werden, denn der vorliegende Fall unterscheidet sich vom früheren Fall (distinguishing, manchmal auch als „Distinguieren“ oder „Unterscheidung der Sachverhalte“ ins Deutsche übersetzt). Wenn ohne distinguishing der gleiche relevante Sachverhalt zu einer anderen Gerichtsentscheidung (desselben oder eines höhergeordneten Gerichts) führt, spricht man von overruling („Aufhebung“ oder „Außerkraftsetzen“).[90]

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Die Rechtssicherheit beschränkt die Möglichkeit des Abgehens von Präzedenzfällen. Um die Stabilität des Rechtssystems zu gewährleisten, sollte sich ein Verfassungsgericht nur über seine früheren Entscheidungen hinwegsetzen, wenn es gewichtige Gründe dafür gibt.[91] Dies gilt zum Beispiel in Fällen, in denen sich die gesellschaftlichen Umstände stark verändert haben, beispielsweise neue Tatsachen bekannt geworden sind, die vom Gericht nicht berücksichtigt werden konnten,[92] oder wenn eine frühere Entscheidung per incuriam getroffen wurde. Letzteres bedeutet im Kontext der Verfassungsgerichtsbarkeit, dass eine relevante Gerichtsentscheidung oder eine Verfassungsbestimmung vom Verfassungsgericht fälschlicherweise nicht einmal berücksichtigt wurde.[93] Es reicht nicht, dass die Norm einfach falsch interpretiert worden ist: Die rechtlichen Grundlagen müssen völlig außer Acht gelassen worden sein.

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Doch auch wenn man früheren Interpretationsentscheidungen folgt, gibt es einen gewissen Spielraum: Frühere Gerichtsentscheidungen (wie Normtexte selbst) legen einen Rahmen für juristische Interpretationstätigkeit fest, bedingen jedoch zumeist kein konkretes Ergebnis. Gerichtsentscheidungen müssen selbst interpretiert werden – dementsprechend werden also die Auslegungen selbst ausgelegt.

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Ronald Dworkin vergleicht die Entwicklung der Rechtsprechung mit dem Schreiben eines „Kettenromans“, worin jedes Kapitel von einem anderen Autor verfasst wird.[94] Der bisherige Verlauf der Geschichte muss dabei im Auge behalten werden, es besteht also keine absolute Freiheit. Wie sich die Geschichte jedoch weiterentwickelt, ist von den früheren Entscheidungen nicht vollständig präjudiziert.

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Es gibt verschiedene Rechtfertigungen, warum Gerichte früheren Entscheidungen folgen sollten:[95] (a) Folgt man seiner früheren Entscheidung, so zeigt dies, dass die Entscheidung nicht willkürlich, sondern rechtlich begründet getroffen wurde und damit rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Allerdings sagt Konsistenz alleine nichts über die Qualität der zu folgenden Entscheidung aus. War die erste Entscheidung willkürlich, so gibt es kaum Gründe, ihr zu folgen. (b) Dasselbe gilt für Gerechtigkeitserwägungen: Es ist gerecht, ähnliche Fälle ähnlich zu entscheiden.[96] Dieses Argument setzt aber voraus, dass das letzte Mal eine richtige Entscheidung getroffen wurde und dass ein Fehler nicht wiederholt wird.[97] Es kann nicht gerecht sein, jemanden ungerecht zu behandeln, nur weil ein anderer ebenso ungerecht behandelt wurde. Auch die Begründung, dass früheren Entscheidungen gefolgt werden sollte, da es eine entsprechende Erwartung gibt, ist wenig überzeugend. Eine solche Annahme beruht auf einem Zirkelschluss: Man muss früheren Gerichtsentscheidungen folgen, weil es eine entsprechende Regel (z.B. stare decisis) gibt. Deshalb kann die Regel selbst nicht auf diese Weise gerechtfertigt werden. (c) Eine wichtige Begründung ist Effizienz. Konsistentes Entscheiden spart Zeit.[98] Zumeist trifft dies auch zu, jedoch nicht immer, zum Beispiel wenn ein Präzedenzfall rechtlich nicht überzeugt. Dann muss ein großer Aufwand betrieben werden, um zu erklären, warum diesem nicht zu folgen ist. Effizienzerwägungen erklären deshalb nicht den großen Aufwand, der manchmal betrieben wird, um die Einschlägigkeit von Präzedenzfällen zu diskutieren. (d) Ein weiteres und wahrscheinlich das überzeugendste Argument ist der Bedarf an lückenausfüllender Gesetz- oder Verfassunggebung.[99] Nach diesem Argument hält man frühere Entscheidungen für maßgebend, weil dies ermöglicht, verfassungsrechtliche Verhaltensnormen, deren Inhalte nach dem Wortlaut unklar sind, für die Zukunft berechenbarer zu machen. Dies ist auch von Bedeutung, weil der jeweilige Verfassunggeber möglicherweise keine Zeit oder Macht hat, den mühsamen Prozess der Verfassungsänderung durchzumachen.[100] Wird letzteres nicht als Rechtfertigung, sondern als eine politische Motivation betrachtet, dann kann gesagt werden, dass sich die Richterschaft durch das Befolgen der Präzedenzfälle selbst ermächtigt, neues Recht zu schaffen.[101]

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Dieses Phänomen, das Befolgen früherer Entscheidungen, spiegelt sich auch im Konzept der „unsichtbaren Verfassung“ wider, das das ungarische Verfassungsgericht unter László Sólyom oft benutzte.[102] Die Idee der unsichtbaren Verfassung beruht zum einen auf einem widerspruchsfreien Begriffssystem, das sich aus den Entscheidungen des Verfassungsgerichts ergibt, und zum anderen aus neuen Normen, die das Verfassungsgericht aus dem Verfassungstext abgeleitet hat, die aber nicht explizit im Verfassungstext enthalten sind, wie beispielsweise das Verhältnismäßigkeitsprinzip.[103] Die Gemeinsamkeit dieser Normen besteht darin, dass sich ihr Inhalt aus den Entscheidungen des Verfassungsgerichts verstehen lässt und dass sie immerhin eine mögliche (und, wie das ungarische Verfassungsgericht auch meint, verbindliche) Interpretation der Verfassung geben. Die unsichtbare Verfassung ist im Grunde das System der Entscheidungen des Verfassungsgerichts: Jede neue Entscheidung ist ein weiterer Baustein im Gebäude der unsichtbaren Verfassung.[104]

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Einige Verfassungsgerichte kennen keinen Unterschied zwischen der Bindungswirkung der ratio decidendi (den Gründen der Entscheidung, d.h. dem Teil der Begründung, in dem sich die zur Entscheidung nötigen Argumente befinden, ohne welche die Entscheidung nicht in jener Form getroffen worden wäre)[105] und den obiter dicta (weiteren Überlegungen, die nicht entscheidungserheblich sind). Demzufolge lehnen sie kein Argument aus ihren vorherigen Entscheidungen mit der Begründung ab, dass es nur ein obiter dictum gewesen sei.

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In Deutschland ist die Situation nicht völlig eindeutig:[106] Es ist unklar, ob nur die tragenden Gründe der Entscheidung verbindlich sind, ob diese zu einem gewissen Grad auch das BVerfG selbst binden und wann sich das BVerfG über seine früheren Urteile hinwegsetzen kann.[107] Diese Unklarheit ist natürlich für die Gerichte vorteilhaft, denn sie können diejenige Lösung wählen, die ihren eigenen (moralischen) Präferenzen entspricht.

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Die Verbindlichkeit früherer Entscheidungen hängt vom jeweiligen Rechtssystem ab.[108] In einigen Staaten gibt es die Erwartung, dass erklärt wird, warum einem früheren Präzedenzfall nicht gefolgt wird, in anderen gibt es eine solche Erwartung nicht. Auch wenn die eigenen Urteile eines Gerichts nicht als streng verbindlich für dasselbe Gericht erscheinen (d.h. der Präzedenzfall nur Überzeugungs- und keine Bindungskraft hat),[109] kann man zwischen den verschiedenen Präzedenzargumenten nach ihrem Gewicht unterscheiden. Ist es ein Urteil aus einem früheren Verfassungsregime oder die Rechtsprechung ausländischer Gerichte, dann hat es weniger Gewicht. Letzterer Fall, mit seinen spezifischen Problemen, wird später getrennt besprochen (rechtsvergleichende Argumente, siehe unten Rn. 94 ff.).

c) Verfassungsinterpretation im Lichte ungeschriebener Grundprinzipien oder Grundbegriffe

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Es gibt ein anderes mögliches Argument dafür, dass ein bestimmter Begriff im Text x bedeutet, nämlich weil dies aus einem rechtlichen Grundbegriff (wie z.B. „Organ“ oder seiner Beschreibung als solches)[110] oder einem Grundprinzip (z.B. das Prinzip nemo plus iuris, wenn es um Übertragung der Kompetenzen auf die EU geht) folgt. Wird es durch den Hinweis auf eine andere explizite Rechtsregel definiert, so geht es um ein harmonisierendes Argument; durch den Hinweis auf z.B. einen Präzedenzfall, ist es ein Hinweis auf eine frühere Gerichtsentscheidung. „Verfassungsinterpretation im Lichte ungeschriebener Grundprinzipien oder Grundbegriffe“ im engen Sinne heißt aber, dass keiner dieser Hinweise gebraucht wird, um den Inhalt des gegebenen Generalbegriffs zu begründen, sondern die Bedeutung des Begriffs als offensichtlich betrachtet wird.

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Da solch eine begriffliche Definition ohne Grundlage in einer Rechtsvorschrift oder früheren Gerichtsentscheidung normalerweise nicht für verbindlich gehalten wird,[111] kommen Hinweise auf rechtliche Grundbegriffe sehr selten vor. Noch rarer sind Hinweise auf Grundprinzipien ohne eine bestimmte Verfassungsnorm aufzuzeigen. In der spanischen Rechtsprechung wird so die verfassungskonforme Interpretation aller Gesetze für ein vom Verfassungsrecht gebotenes, aber nicht explizit im Verfassungstext erwähntes Grundprinzip gehalten.[112]

d) Auf Stillschweigen gegründete sprachlich-logische Formeln

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Juristische Argumentation kann sich nicht nur auf einen Text stützen, sondern kniffligerweise auch auf dessen Fehlen. Typische Formen dieser Methode sind Grundsätze wie expressio unius exclusio alterius („das eine auszudrücken, heißt, das andere auszuschließen“), qui de uno dicit, de altero negat („das eine festzustellen, heißt, das andere abzulehnen“),[113] argumentum a contrario (etwas über A festzustellen, heißt, über nicht-A festzustellen, dass dasselbe nicht gilt)[114] oder enumeratio ergo limitatio (d.h. „eine Aufzählung ist vermutlich erschöpfend“, üblich bei bundesstaatlichen Kompetenzaufzählungen). Formallogisch handelt es sich dabei um ungültige Schlüsse. Dementsprechend werden sie von einigen Gerichten, wie z.B. dem EuGH, explizit zurückgewiesen.[115] In der Regel werden sie dennoch akzeptiert, da sie auf impliziten, der juristischen Argumentation eigenen Prämissen beruhen – wie insb. der Prämisse, dass der Verfassunggeber eine explizite Regelung getroffen hätte, wenn er dies gewünscht hätte.

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Zwei Beispiele des ungarischen Verfassungsgerichts sollen hier genannt werden. Im ersten Fall bestand das Argument im Fehlen eines einzigen Wortes, welches zeigen sollte, wie ein anderer Text die Kompetenz des ungarischen Verfassungsgerichts rechtfertigen würde: „Wenn Art. 32/A das Wort ‚alle‘ enthielte [dann hätte das ungarische Verfassungsgericht die Kompetenz zur Überprüfung von Akten, mit denen internationale Verträge umgesetzt werden].“[116] Im zweiten Fall stützte sich das Argument auf das Fehlen einer Regel, in dem das Fehlen von Unterordnungsregeln einen bestimmten rechtlichen Status der Unabhängigkeit bedeutete: „Die Verfassung enthält keine Bestimmungen über die Unterordnung der Staatsanwaltschaft unter das Parlament oder irgendein anderes Organ (z.B. die Regierung oder den Justizminister). […] Daher ist der Generalstaatsanwalt keinem anderen Organ untergeordnet.“[117]

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In Spanien gründet sich das Kernargument der Entscheidung bezüglich der verfassungsrechtlichen Möglichkeit der gesetzlichen Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe auf das Fehlen eines expliziten verfassungsrechtlichen Verbots.[118]

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In einem Beispiel aus dem Vereinigten Königreich taucht das Argument ganz explizit auf:[119]

„Abschnitt 5, der durch einen Zusatz in einem späten Stadium der Erlassung des Parlamentsgesetzes hinzugefügt wurde, führt tatsächlich eine weitere Ausnahme ein, indem er „öffentlichen Gesetzesentwurf“ so definiert, dass er keinen Gesetzesentwurf einschließt, der eine einstweilige Verfügung bestätigt. Die Wirkung der Abschnitte 2(1) und 5 liegt daher darin, jeden Finanzgesetzentwurf, jeden Gesetzesentwurf, der eine Vorschrift zur Ausdehnung der maximalen Dauer der Legislaturperiode des Parlaments auf über fünf Jahre enthält und jeden Gesetzesentwurf, der eine einstweilige Verfügung bestätigt, vom Anwendungsbereich des Ausdrucks „öffentlicher Gesetzesentwurf“ auszuschließen. Expressio unius exclusio alterius oder exclusio unius inclusio alterius. Da das Parlament ausdrücklich diese drei Typen von Gesetzesentwürfen aus dem Anwendungsbereich von Abschnitt 2(1) ausgeschlossen hat, ohne dass es einen Hinweis auf das Gegenteil gibt, würde ich diese Vorschrift als anwendbar auf einen öffentlichen Gesetzesentwurf zur Abänderung von Abschnitt 2(1) selbst lesen.“

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Ähnlicher Art sind Argumente a maiori ad minus und Argumente a minori ad maius (die beide zusammen nennt man argumentum a fortiori oder Größenschluss). Im ersten Fall wird etwa aus der Tatsache, dass der Verfassunggeber etwas explizit gestattet hat, geschlossen, dass auch eine andere weniger weitreichende Handlung auch gestattet ist (obwohl sie nicht explizit erwähnt ist). Wenn also z.B. die zentrale Regierung die Autonomie bestimmter lokaler Selbstverwaltungen zur Gänze suspendieren darf, dann darf sie auch nur einige spezifische Kompetenzen bestimmter lokaler Selbstverwaltungen suspendieren. Letzteres heißt hingegen, dass, wenn z.B. der Verfassunggeber etwas explizit untersagt hat, auch ein anderer, noch schwerwiegender Eingriff (obwohl nicht explizit) untersagt ist. Wenn es also verboten ist, mit Notstandsverordnungen Gesetze außer Kraft zu setzen, dann ist es sicherlich auch verboten, mit Notstandsverordnungen die Verfassung selbst außer Kraft zu setzen. Welche dieser beiden Argumente gebraucht werden kann, lässt sich manchmal nur durch teleologische Überlegungen entscheiden.[120] Ein konkretes Beispiel ist die Entscheidung des österreichischen VfGH, in der er mit Hilfe eines „Größenschlusses [hier konkret: a maiori ad minus] die Anwendbarkeit des Vorbehaltes [zu Art. 5 EMRK] ausgedehnt hat, da [Geldstrafen] gemeinsam mit einer Ersatzarreststrafe verhängt werden und es widersinnig wäre, für Geldstrafen höhere Verfahrensgarantien zu gewähren als für Freiheitsstrafen.“[121] Ein berühmter gegenteiliger (d.h. a minori ad maius) Größenschluss wurde vom EuGH im Fall Murphy benutzt:[122]

„Es trifft zu, daß Artikel 119 EWG-Vertrag nach seinem Wortlaut die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen nur für den Fall gleicher oder nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes gleichwertiger Arbeit und nicht für den Fall nicht gleichwertiger Arbeit vorschreibt. Wenn es dieser Grundsatz jedoch verbietet, Arbeitnehmern eines bestimmten Geschlechts, die eine der von den Arbeitnehmern des anderen Geschlechts ausgeübten Tätigkeit gleichwertige Arbeit verrichten, aufgrund des Geschlechts ein niedrigeres Entgelt zu zahlen, so steht er einem solchen unterschiedlichen Entgelt erst recht entgegen, wenn die niedriger entlohnte Gruppe von Arbeitnehmern eine höherwertige Arbeit verrichtet.“

3. Wertende Argumente

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Die verschiedenen „wertenden Argumente“ werden zusammen besprochen, weil sie nicht auf die eigentliche Verfassungsbestimmung oder auf deren rechtlichen Kontext verweisen, sondern auf ihren (subjektiven oder objektiven) Zweck, oder sogar auf nichtrechtliche (beispielsweise moralische oder ökonomische) Überlegungen. Solche Argumente beinhalten mehr – oder wenigstens offensichtlichere – wertende Elemente als die zwei vorigen Gruppen.

a) Der Zweck der Norm (objektiv-teleologische Auslegung)

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Objektiv-teleologische Argumente beruhen auf dem Zweck der Norm.[123] Der Zweck kann entweder direkt, z.B. aus dem Titel oder der Präambel, oder indirekt aus dem Normtext abgeleitet werden.[124] Wenn der Zweck auch explizit im rechtlichen Kontext vorkommt, dann kann – abhängig von der Formulierung – dasselbe Argument entweder ein systematisch-harmonisierendes, ein objektiv-teleologisches oder beides gleichzeitig sein.

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Der Zweck selbst wird allgemein als ein gesellschaftlicher Zweck (le but social) oder ratio legis verstanden.[125] Auf Deutsch heißt diese Methode objektiv-teleologische Auslegung,[126] in der anglo-amerikanischen Rechtswissenschaft purposive interpretation[127] und französischsprachige Autoren nennen sie méthode téléologique.[128] Es handelt sich hierbei nicht um eine neue Idee, sie war schon den Römern bekannt: Scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim ac potestatem. [Die Gesetze zu kennen heißt nicht, sich an ihren Wortlaut zu halten, sondern an ihren Sinn und Zweck.] (Celsus, Dig. 1,3,17). Der Zweck der Rechtsvorschrift wird manchmal als „Wert“ konzeptualisiert, so spricht z.B. das BVerfG von der Wertordnung der Verfassung.[129]

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In deutschsprachigen Werken werden solche Argumente manchmal unter dem Titel Natur der Sache geführt.[130] Auch das in der österreichischen Rechtsprechung verbreitete Prinzip des Antwortcharakters der Verfassung kann hier erwähnt werden.[131] Zwei Sonderfälle dieses Arguments sind das europarechtliche Prinzip des effet utile und das Prinzip der implied powers im Völkerrecht, die auf die Effektivität der Normen zielen. Auch das common law-Prinzip magis est ut res valeat quam pereat („die Sache soll eher effektiv sein als untergehen“), folgt der Idee einer Auslegung, die auf die tatsächliche Wirksamkeit der Normen abstellt.[132]

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Es gibt Auslegungsgrundsätze, die auf den ersten Blick keinen objektiv-teleologischen Charakter haben, allerdings eng damit verbunden sind. Ein Beispiel dafür ist das österreichische Konzept der intrasystematischen Fortentwicklung, wonach Kompetenzbestimmungen weiter verstanden werden müssen als durch die Verfassunggeber ursprünglich gedacht (zur Versteinerungstheorie siehe oben Rn. 52). Das gilt besonders in Bezug auf neue Technologien: Z.B. werden unter dem Begriff „Telegraph“ alle Arten von Fernübertragungen verstanden, also z.B. Schriftübertragung und Bildübertragung, auch wenn es solche Techniken in den 1920er Jahren noch nicht gab.[133] Ein weiteres Beispiel ist das Konzept des living tree, wie es in Kanada verwendet wird. Es beruht auf der Idee, dass die Auslegung des Verfassungstexts sich Veränderungen anzupassen hat, da die Verfassung sich organisch, wie ein lebender Baum, auf die Umgebung und die sozialen Gegebenheiten einstellt.[134] Diese Argumente setzen voraus, dass es einen dem Text innewohnenden Zweck gibt, der darüber hinausgeht, was in dem Text explizit geschrieben steht, und dass diesem Zweck sogar der wortwörtlichen Bedeutung des Texts zuwider gefolgt werden kann.

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In einigen Staaten – etwa Deutschland – werden solche Argumente stark befürwortet, in anderen, wie Österreich und besonders Ungarn, sind sie traditionell viel schwächer. Ihre Kraftlosigkeit in Ungarn geht auf den Sozialismus zurück, der die richterliche Kreativität zu minimieren versuchte (denn Kreativität erschien wegen ihrer ungesteuerten Natur als gefährlich für die Diktatur).[135] Die österreichische anti-teleologische Einstellung stammt teils aus dem traditionellen österreichischen Positivismus des 19. Jahrhunderts, teils aus dem Einfluss Hans Kelsens.[136] Allerdings gewannen in den letzten Jahrzehnten objektiv-teleologische Argumente auch in Ungarn und Österreich an Bedeutung. Dies begründet sich zum einen im Einfluss der deutschen Rechtskultur und zum anderen in der Rechtsprechung des EGMR.[137]

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Die häufigsten Einwände gegen die objektiv-teleologischen Argumente sind folgende: (a) Derselbe Text kann mehrere Zwecke haben, was zu widersprechenden Interpretationen führen kann (und die Wahl unter ihnen ist unklar), und (b) sogar eine klare ratio legis zeigt manchmal nicht, welche Auslegung sie hinsichtlich der Konsequenzen am besten begründen kann (z.B. wenn es eine empirische Untersuchung benötigen würde, die der Interpretierende nicht durchführen kann).[138] Diese Einwände sind zwar relevant, aber sie besagen nicht, dass man teleologische Argumente im Allgemeinen nicht mit Erfolg gebrauchen könnte, nur dass sie nicht immer das erwünschte Ergebnis bringen können.

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Man kann auch sagen, dass der Text keinen Zweck hat: Nur Personen können Zwecke haben. Natürlich haben Texte keine Zwecke, aber ebenso wie man sagen kann, dass es die Funktion/der Zweck eines Hammers ist, Nägel einzuschlagen (anstatt zu fegen), können auch den Bestimmungen der Verfassung Funktionen/Zwecke zugeschrieben werden.

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Es kann als Argument gegen eine spezifische Form der objektiv-teleologischen Argumente, die mit dem Hinweis auf die Intention eines hypothetischen abstrakten Verfassunggebers anstatt mit dem Zweck des Textes arbeiten, eingewendet werden, dass es keine „abstrakten Autoren“, sondern nur wirkliche gibt. Das ist wahr und deshalb ist es besser, vom Zweck des Textes zu sprechen als von der Intention eines abstrakten Autors.[139]

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