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Читать книгу: «Die Schäferin von Yorkshire», страница 5

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Auf einer Farm, auf der ich anheuerte, hatte die Frau des Farmers gar nichts mit Landwirtschaft im Sinn und war sehr misstrauisch, als ihr Mann eine Frau einstellte. Er nahm mich deswegen zur Seite und erklärte: »Egal, was du tust, immer lustlos und traurig gucken, okay? Ich will nicht hier aus dem Fenster gucken und seh’n, dass du lächelst.«

Ein anderer Farmer rief mich auch mal sonntagsmorgens an, um zu fragen, ob ich später am Tag bei ihm aushelfen könnte. Das erste Mal war ich natürlich sehr überrascht, denn ich kam aus einer frommen, religiösen Familie, für die der Sonntag Kirche, Ruhe und innere Sammlung bedeutete. Nur das Allernotwendigste durfte getan werden. Der Rest seiner Familie dachte, er würde die Kühe und Schafe füttern und all die anderen notwendigen Tagesgeschäfte auf der Farm erledigen. In Wahrheit jedoch übernahm ich das alles, während er sich zum Nachbarn schlich, um Fußball zu gucken.

Während der zwei Jahre, die ich in Crosby arbeitete, hütete ich mich davor, irgendeine ernsthafte romantische Beziehung einzugehen. Obwohl ich viele Freunde hatte und zu Partys eingeladen wurde, fühlte ich mich manchmal aber auch unglaublich einsam. Ich liebte meine Arbeit, sehr sogar, doch es ist unbarmherzig, morgens um fünf zum Kühemelken aufzustehen und tagein tagaus zu arbeiten, ohne Pause. Es war nicht immer leicht – gerade die Zeiten ohne Arbeit und ohne Geld setzten mir zu –, doch nicht eine einzige Sekunde habe ich meine Berufswahl bedauert. Ich lernte eine Menge über das Leben, über den Selbsterhaltungstrieb und mir wurde klar, dass man viel Entschlossenheit und Zielstrebigkeit braucht, um seinen Traum zu verwirklichen.

Ich lernte auch, dass man nie weiß, was einen an der nächsten Ecke erwartet.

4
Nur Ravenseat

Ich war ziemlich beschäftigt, denn ich hatte viele regelmäßige Jobs, wie zum Beispiel bei Martin Dent. Martin war keiner von den typischen Farmern, mit denen ich sonst zu tun hatte. Die Zahl der Farmer, die E-Bass in einer Rockband spielten und in einem alten Jaguar die Weiden abfuhren, konnte man mit der Lupe suchen. Ich gewöhnte mich daran, kurzfristig zum Melken bestellt zu werden, weil Martin als verschollen galt oder zumindest zur Melkzeit vermisst wurde. Oftmals hatte ich eine verworrene Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, im Hintergrund hämmerte Born To Be Wild.

Martin hatte auch ein Viehtransport-Unternehmen, und es gab Zeiten im Jahr, wo er länger unterwegs war. Dann übernahm ich die komplette Leitung seiner kleinen Kuh- und Schafherden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Farmer noch einen Nebenerwerb haben, der ihnen hilft, den unsicheren Verdienst im Farmbetrieb auszugleichen. Wie ich es liebte, die Zügel selbst in die Hand zu nehmen und so zu tun, als ob dies meine eigene Farm und meine eigenen Tiere wären.

Martin hatte hauptsächlich Rough Fell-Schafe4, eine widerstandsfähige Rasse, die man nur in South Cumbria und rund um den Lake District findet, heute scheint diese Sorte aber aus der Mode gekommen zu sein. Außerdem gab es auf der Farm noch ein paar Swaledale-Schafe, eine sehr beliebte und äußerst lukrative Rasse. Vernünftigerweise sah Martin die Swaledale-Schafe als Zukunftsinvestition und war bestrebt, die Qualität und Quantität seiner Herde beständig zu erhöhen. Deswegen lieh er sich auch jedes Jahr einen Swaledale-Bock aus. Und genau dafür rief er seinen alten Kumpel Clive an. Sie kannten sich, seitdem sie 16 waren, Farmer mit Leib und Seele auf der einen Seite und Partygänger auf der anderen (Martin immer noch).

Ende Oktober war es, kurz vor der Deckzeit, als ich auf meine Mission geschickt wurde: »Holst du für mich einen Schafbock von einem Kumpel ab? Ist ein richtig feiner Swaledale-Züchter und er leiht mir jedes Jahr einen Bock.«

Die Dunkelheit brach schon an, als ich mit Melken und Füttern der Kühe fertig war. Ich machte den klapprigen Holzanhänger hinten an Martins Pickup fest und schloss die Beleuchtung an (ging aber nicht – funktioniert nie, nicht mal mit einem Spritzer Vielzweck-Spray WD-40). Martins Wegbeschreibung war dürftig: erst nach Kirkby, dann rechts nach Nateby, dem Schild Richtung Swaledale folgen und immer geradeaus, bis der Hinweis Ravenseat kommt.

Mittlerweile bin ich diesen Weg unzählige Male gefahren und kenne ihn wie meine Westentasche, aber damals war es eben das erste Mal. Ich hatte zu jener Zeit schon meine Erfahrungen mit Nebenstraßen und Feldwegen gemacht, doch diese Straße hier war noch einmal anders. Als ich Ash Fell verließ, wurde es gerade dunkel und begann zu regnen. Es lag eine scharfe Kälte in der Luft. Recht schnell erreichte ich das kleine Dorf Nateby, ich fuhr langsam und war unsicher, wie es weiterging. Dann fanden meine Scheinwerfer ein Schild: NÄCHSTE TANKSTELLE 22 MEILEN. Ich schaute auf die Tankanzeige. Zum Glück war der Tank gut gefüllt.

Bei Tageslicht gibt es hier von der Straße aus fantastische Ausblicke: schroffe, zerklüftete Anhöhen und imposante Felsen. Wenn man die Grenze von Cumbria nach Yorkshire passiert, tauchen die mysteriösen Nine Standards Rigg am Horizont auf, eine Reihe von Säulen aus trocken aufeinandergeschichteten Steinen. Niemand kennt ihre Geschichte: Vielleicht dienten sie als Wachtürme, um die Schafe und Frauen im Swaledale vor den plündernden Stämmen aus dem Norden zu schützen oder sie stammen aus neuerer Zeit und sind vor ein paar hundert Jahren als Grenzmarkierungen zwischen dem Westmoreland und Yorkshire errichtet worden.

All dies konnte ich in der Dunkelheit natürlich nicht sehen. Im Scheinwerferlicht erkannte ich lediglich die enge, einspurige Straße vor mir, das Schimmern der Metallabsperrungen am Rand, die mir zeigten, wo es steil abwärts ging, und Holzpfähle, die bei hohem Schnee als Straßenmarkierung dienen. An ihrer Höhe konnte ich ablesen, wie viel Schnee dort im Winter lag. Die Straße schlängelte sich achterbahnmäßig kreuz und quer, hoch und runter. Martin hatte mir nicht gesagt, wie weit ich fahren musste: Ich fragte mich, ob ich die Farm vielleicht schon verpasst hatte, denn ich wusste, dass viele Farmer lediglich handgeschriebene Pappschilder aufstellen oder Richtungsangaben auf Steinblöcke sprühen. Doch ich konnte mich an keinen Wegweiser erinnern. Ab und zu sah ich Steinruinen am Straßenrand, die die Hoffnung in mir aufkeimen ließen, dass ich mich bewohnten Gefilden näherte, doch dann wieder Achterbahn, enge Kurven, totale Einsamkeit, mein Holzanhänger klapperte hinter mir her. Das Licht der Scheinwerfer spiegelte glitzernd-silbrig die Augen der Schafe wider, und ich musste sehr langsam fahren, weil die Tiere wie angewurzelt stehen blieben, bis sie in die Dunkelheit davonsprangen.

Endlich, nach stundenlanger Fahrt unter höchster Anspannung, sah ich es: ein großes, gut sichtbares Straßenschild mit der Aufschrift NUR RAVENSEAT, 1 ¼ MEILEN. Ein Gefühl der Erleichterung überflutete mich: Ich musste nicht zurückfahren, um das Schild zu suchen. Jedes Mal, wenn mein Anhänger über ein in der Straße eingelassenes Viehgitter (cattle grid) ratterte, dachte ich, er würde auseinanderfallen, aber nein, er war noch da. Die endlose Weite, die steilen Schluchten, zerfallenen Steinscheunen und bizarren Felsen um mich herum, all dies zeigten mir meine Scheinwerfer nicht – nur die holprige Straße und Schafe. Schafe über Schafe, die verschreckt vor mir wegsprangen.

Ich kam an einem hübschen Farmhaus vorbei, doch das war es noch nicht, ich war erst ein paar Yards von der Hauptstraße entfernt und das Haus war auch zu sauber und ordentlich für einen bewirtschafteten Hof. Noch ein cattle grid und dann erfassten meine Scheinwerfer eine bucklige, kleine und sehr enge Steinbrücke. Ich musterte sie genau: mit Pickup und Anhänger da rüber? Im letzten Moment machte der Weg eine Kurve nach links und ich war dankbar, dass er nicht über die Brücke führte. Na ja, dafür musste ich durch den Fluss.

Im schlammigen Hof angekommen, wurde ich zuerst von einem bellenden Hund empfangen, dann kam der Farmer aus dem alten Steinhaus.

Es war Clive!

»Immer herein Mädel, ich mach uns ’n Tee.«

Ich war erleichtert, dass ich mein Ziel mit Pickup und Anhänger unbeschadet erreicht hatte und wollte auf keinen Fall zu lange bleiben, aber ein Tee hörte sich gut an, bevor ich wieder die Kurve kratzte. Ich folgte Clive ins Haus und stieß zuerst mal meinen Kopf am Türbalken. Die Türen alter Häuser sind für die kleineren Menschen damals konstruiert, viel niedriger also. Ich lernte aber schnell, den Kopf einzuziehen, und bin mittlerweile sehr geübt darin, nur selten erwischt es mich noch. Mein erstes Treffen mit Clive stand also nicht gerade unter einem guten Stern.

Überhaupt war das Haus nicht wirklich ein Renner. Niemand kann sagen, ich hätte es auf Clives tolle Farm abgesehen, ganz und gar nicht. Clive war schon einmal verheiratet gewesen, und seine Frau hatte ihn ein Jahr zuvor verlassen. Auf den Teppichen waren noch die Abdrücke der Möbel zu sehen, die sie mitgenommen hatte, an den Wänden grüne Tapeten mit einem gelben Schimmer – Clive rauchte wie ein Schlot – und der hübsche große Wohnraum, in dem heute unser großer, alter Herd steht, war durch eine Holzwand vom Eingangsbereich abgetrennt. Sicher hat sich vor langer Zeit ein alter Farmer beklagt: »Macht einen ganz krank, dieser verdammte Zug hier, eiskalter verdammter Zug.« Also holten sie Hammer und Nägel und schusterten eine Wand mit Nut-und-Feder-Verbindung zusammen. Nichts Kunstvolles, einfach aus einem Raum zwei gemacht.

Mitten im Wohnzimmer hing eine nackte Glühbirne, und außer einem abgewetzten Sofa sah ich dort nur eine Sammlung von Herdbüchern und allerlei Bücher über Schäferei verstreut im Raum. Herdbücher sind für einen Schafzüchter das wertvollste Gut, denn sie erzählen die Geschichte seiner Herde. Ich befürchte, wenn Clive eine Wahl treffen müsste zwischen mir und seinen Herdbüchern, wäre das ein Kopf-an-Kopf-Rennen …

Auf dem Boden lag ein grüner Teppich, der sich beim Gehen wie Moos anfühlte: Er war weich und feucht und quatschte unter den Füßen. Die Heizkörper waren nicht fest an die Wand geschraubt, sondern lehnten nur dagegen. Das Wohnzimmer wurde als Vorratsraum für Tierfutter genutzt, der ganze Raum war also eine einzige Katastrophe. Clive war den ganzen Tag draußen bei der Arbeit, drinnen schlief und aß (und rauchte) er nur. Aber sollte ich das wirklich kritisieren? Bei mir sah es doch genauso aus, vom Rauchen mal abgesehen.

Clive machte uns einen Tee und wir unterhielten uns, ich weiß aber nicht mehr worüber. Sicher über das Wetter: Wetter und Schafe, darüber unterhalten sich die Leute hier. Schafe sind ihre Hauptbeschäftigung. Es heißt, wenn man seinen Ehemann vermisst, ist er ganz sicher nicht bei einer anderen Frau und auch nicht Kartenspielen oder im Pub, sondern draußen bei den Schafen.

Wir gingen wieder raus und Clive führte mich zu einer schäbigen, klapprigen Box hinter dem Farmhaus, wo der Schafbock untergebracht war, den ich holen sollte. Clive ging zuversichtlich an die Arbeit, doch der Bock hatte anderes im Sinn. Später erzählte mir Clive, er habe mich mit der Aktion beeindrucken wollen, doch das Tier war eindeutig unbeeindruckt. Es entwischte ihm immer wieder und rannte wild umher. Clive versuchte, den Bock zu packen, doch der rannte immer schneller und schneller, bis er fast die Stallwand hochlief, so wie ein Motorrad beim Steilwandfahren. Ich konnte nicht mehr vor Lachen, Clive fluchte, wurde rot und heiß und zornig – und wirkte äußerst unprofessionell. Endlich bekam er das Biest zu packen, ein Schulterwurf und nach einer außerplanmäßigen Fallschirmrolle lagen beide am Boden. Clive hievte das Tier aus der Box, wir zogen es beide zusammen über die Brücke zurück auf den Hof und schafften es, das Schaf irgendwie in den Anhänger zu bugsieren. Tiefes Aufatmen. Clive zündete sich erst mal eine an, der Schafbock warf uns böse Blicke zu.

Als ich mich wieder auf den Heimweg machen wollte, bat Clive mich um meine Telefonnummer, und ich gab sie ihm gerne. Ich habe allen Farmern meine Nummer gegeben, die vielleicht einen Job für mich hatten, mehr Gedanken machte ich mir darüber nicht, obwohl ich merkte, dass ich Clive mochte. Dieser wilde Ort, dessen Magie ich in der Dunkelheit nur erahnen konnte, faszinierte mich, genauso wie dieser lässige, lustige Typ, der dort lebte. Und doch machte ich mir auf dem Rückweg mehr Gedanken darüber, wie ich den angriffslustigen Bock sicher über die verschlungenen Pfade zurück nach Ash Fell bringen konnte. Da ich mein Ziel kannte, war der Heimweg allerdings bedeutend einfacher.

Clive hat mir später erzählt, dass er sich beim ersten Anblick schon in mich verliebt hatte und dass seine Absichten nicht gerade ehrenhaft waren: »Hab dich so raffiniert angemacht, dass du’s gar nicht gemerkt hast«, prahlte er, »du kamst so daher, tolle Blondine mit tollen langen Beinen und sofort wusste ich, was Sache war. Ging nur darum, wie beißt du an, wie krieg ich dich rum?«

Träumer.

Er rief am nächsten Tag an und hinterließ eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter.

»Hier Clive, du weißt schon wer, du hast den Bock hier geholt.«

Ich rief ihn nicht zurück. Ich ignorierte auch alle weiteren Anrufe, einerseits weil ich ahnte, dass er mich mochte und ich es ihm nicht zu leicht machen wollte, andererseits weil ich zu dem Zeitpunkt kein Interesse an einer Romanze hatte. Clive war hartnäckig und nach einer Woche hinterließ er eine Nachricht, bei der er hundertprozentig wusste, dass ich antworten würde: »Hilfe, Katastrophe! Beim Zusammentreiben der Schafe hat sich eins von meinen besten Mutterschafen das Bein gebrochen. Kann ich nicht allein behandeln, kannst du kommen und sie halten?«

Er erklärte dann noch, dass beim Heruntertreiben der Schafe vom Moor eine steile Schlucht zu durchlaufen ist und dass die Tiere unten eine provisorische Brücke aus Eisenbahnschwellen passieren müssen. Irgendwie war dieses unglückselige Schaf mit einem Huf zwischen die maroden Schwellen gerutscht und hatte sich das Bein gebrochen.

Clive wusste sehr wohl, dass er mich damit kriegen konnte. Sofort machte ich mich auf den Weg, und zusammen versuchten wir, das Bein zu richten. Es war ziemlich weit oben gebrochen, eine schwierige Stelle, um den Gipsverband anzulegen. Wir mussten das Schaf auf sein Hinterteil setzen und dann irgendwie das ausgestreckte Bein eingipsen. Sie wurde wieder gesund, behielt aber ihr Leben lang ein schräg gestelltes Bein, das mich noch häufig zu Fall bringen sollte. Sie selbst behinderte es nicht, doch jeder, den sie überholte, wurde ausgeknockt. Wir behielten sie noch viele Jahre bei uns, bis sie mit etwa zehn Jahren starb. All diese Zeit sprachen uns immer wieder Wanderer an: »Wisst ihr, dass da draußen ein Schaf mit einem schiefen Bein rumläuft?«

Ich erklärte ihnen jedes Mal, dass dies ein ganz besonderes Schaf war: Dieses Schaf war nämlich der Grund dafür, dass Ravenseat meine Heimat wurde.

Der Tag, an dem wir das Bein verarzteten, war ein schöner Herbsttag und ich konnte die Farm und Clive endlich in Ruhe betrachten.

»Gibt noch ’ne Menge zu sehn, was du noch nicht kennst. Musst einfach noch mal kommen«, lächelte er.

Und das tat ich … Ich besuchte ihn immer dann, wenn er Hilfe brauchte, und er schenkte mir dafür einen Heuballen für meine Schafe. Es war Freundschaft, noch keine Liebesgeschichte, doch nach und nach fanden wir immer häufiger einen Grund, warum ich auf Ravenseat dringend gebraucht wurde. Unsere Beziehung wurde enger. Wieder kann ich nicht genau sagen, wann ich wusste, dass er der Richtige war. Manche Erkenntnisse brauchen etwas Zeit.

Meine Besuche auf Ravenseat wurden länger, was im ganzen Tal für viel Gesprächsstoff sorgte. Man könnte meinen, hier oben wäre man weit weg von allem, weit weg von den Nachbarn und von der übrigen Bevölkerung. Aber ehrlich gesagt, hat man in einer großen Stadt viel mehr Privatsphäre. Hier oben schlagen sie gleich die Buschtrommeln, sobald etwas Ungewöhnliches passiert. Schnell verbreitete sich die Nachricht, Clive bekäme ab und zu Besuch von einer jungen Dame.

Um nach Ravenseat zu kommen, kann man nur einen Weg fahren, genau den, den ich auch beim ersten Mal genommen hatte: 25 Meilen von meinem Häuschen bis zur Grenze von Cumbria und dann rein nach Yorkshire. Im Winter ist diese Straße Niemandsland, kein Schneepflug und auch kein Winterdienst sind je dort zu sehen. Die Verwaltung von North Yorkshire hat kein Interesse daran, eine Straße zu räumen, die nach Cumbria hineinführt. Sie räumen genau bis zum Ende unserer Straße, denn wir sind die letzten Bewohner vor der Grenze. Und andersrum genauso: Cumbria räumt auch nur bis zu den letzten Häusern auf der anderen Seite der Grenze und ignoriert das restliche Stück. Es gibt also einen Straßenabschnitt von sieben oder acht Meilen, der im Winter jedes Mal durch den Schnee blockiert ist. Das weite, offene Moor sorgt dafür, dass der Westwind den Schnee vor sich her peitschen kann und fast arktische Gefühle aufkommen lässt. Ich bin diesen Weg oft gefahren und eines Nachmittags winkte mich ein Farmer auf einem Traktor raus, als ich mit meinem kleinen blauen Subaru Pickup vorbeikam (ich hatte den Hilux – oder was davon übrig geblieben war – gegen diesen kleineren, sparsameren Truck getauscht). Da ich dachte, der Farmer hätte mir etwas Wichtiges mitzuteilen, hielt ich an. Doch alles, was er sagte, war: »Aufgepasst mit dem Tempo, Straße ist verdammt glatt.«

Als ob ich das nicht schon gewusst hätte. Er wollte sicher nur einen Blick auf die mysteriöse Frau in dem Subaru werfen, die so regelmäßig nach Ravenseat fuhr. Aber nicht nur ich war für die Einheimischen von Interesse. Die Farmer in diesem Tal kennen sich untereinander sehr gut, sie stammen aus alteingesessenen Familien, und Clive war noch immer ein Neuankömmling, obwohl er schon einige Jahre hier gelebt hatte, bevor ich auf der Bildfläche erschien. Wir waren also natürlicherweise eine Quelle großen Interesses und wurden sehr genau unter die Lupe genommen. Und es war nicht nur unsere Beziehung, die die Leute interessierte. Die Farmer hier haben schon immer traditionelle Landwirtschaft betrieben, immer mit denselben Methoden, in derselben Art und Weise. Über einen Newcomer mit neuen Ideen und Vorschlägen konnte man im Swaledale nur die Stirn runzeln. Das hieß für Clive: beobachten, zuhören und lernen. Und auch als er schon einige Jahre in den Dales lebte, achteten die Einheimischen darauf, dass er die alten, traditionellen Gebräuche und Gepflogenheiten fortführte.

Die Leute sahen mich kommen und gehen, mehr nicht. Denn wenn man wissen möchte, was wirklich auf Ravenseat geschieht, muss man direkt dorthin fahren. Es ist eine Sackgasse – der Weg führt nirgendwo anders hin. So mussten die Neugierigen eine Entschuldigung dafür finden, warum sie zu uns heraufkamen. Einige dieser erfundenen Gründe waren ziemlich leicht durchschaubar: Anstatt Clive telefonisch zu informieren, er müsse ein verirrtes Schaf einfangen, brachten die Leute es selbst hoch zur Farm. Einige Farmer kamen, um Dinge mit ihm zu besprechen, die sie leicht auf einer der vielen Auktionen und Märkte hätten besprechen können, andere kamen, um ihm ein Glas Marmelade zu schenken. Alles nur Tricks, um zu schauen, was auf Ravenseat so vor sich ging.

Wir hatten beide viel zu tun, Clive mit dem täglichen Farmbetrieb und ich mit meinen Aushilfsjobs beim Schafehüten und Melken, doch eines Abends unternahmen wir tatsächlich den Versuch, zusammen auszugehen. Ich legte mich schwer ins Zeug, raus aus Gummistiefeln und Overall, mein Kleid aus dem Schrank – mein einziges Kleid – und dann los zum Red Lion, einem Pub im Arkengarthdale. Ich glaube, es war das erste Mal, das Clive mich so hübsch angezogen und geschminkt gesehen hat und ich denke, er war auch beeindruckt, aber er ist eben ein typischer Yorkshire-Mann: Sie hören alles, sehen alles und sagen nichts … Bei einer anderen Gelegenheit fuhren wir zusammen zum Tan Hill, dem höchstgelegenen Pub in England. Er ist nur drei Meilen von Ravenseat entfernt, Luftlinie, doch die Straßen in den Dales und im Lake District machen daraus eine halbe Weltreise. Einmal lud ich Clive sogar zu mir nach Hause zum Essen ein. Rückblickend hätte das aber richtig schiefgehen können … Ich hatte zu jener Zeit vom Kochen keinen blassen Schimmer, dachte aber, dass ein Shepherd’s Pie5 genau richtig wäre. Wenn ich heute sage, ich hatte keine Ahnung vom Kochen, dann meine ich gar keine Ahnung. Bis dahin hatte ich mich von Pasta und Tütensuppen ernährt und ich hatte eigentlich auch nicht vor, das zu ändern. Um meinen Plan, einen ordentlichen Shepherd’s Pie zuzubereiten, zum Erfolg zu führen, versorgten meine alten, liebenswerten Nachbarn mich sowohl mit der entsprechenden Einkaufsliste als auch mit den notwendigen Töpfen und Pfannen. Als ich mein kulinarisches Meisterwerk fast vollendet hatte, blieb allerdings noch eine Frage: »Wie macht man eigentlich Kartoffelbrei?«

Heute kann ich es nicht mehr glauben, dass ich das wirklich nicht wusste.

»Eine Gabel hast du, oder? Mehr brauchst du nicht«, erklärte Ruth.

Clive sagt, das sei der schlechteste Shepherd’s Pie gewesen, den er je gegessen habe. Wäre unsere Beziehung von diesem Pie abhängig gewesen, so hätte sie ein Ende gefunden, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Clive war genauso ein schlechter Koch wie ich, er war allein und überlebte mit Cornflakes, gekauften Pies und Zigaretten, Silk Cut Extra Mild. Zum Glück entwickelte ich meine Shepherd’s Pie-Kochkünste weiter, lernte viel durch Herumprobieren und bin jetzt Expertin darin, in großen Töpfen zu kochen. Clive dagegen ist immer noch völlig hilflos in der Küche und würde allein sofort wieder in seine alten Gewohnheiten mit Cornflakes und Pies zurückfallen. Noch immer weiß er nicht, wie man einen Grill anzündet.

Clive hatte, genau wie ich, seine Kindheit in der Stadt verbracht. Er wurde in Doncaster geboren, wo sein Vater, ein Schreiner, für die Familie einen Bungalow gebaut hatte. Der Vater fand dann Arbeit in einem Kraftwerk und die Familie zog nach Gaisgill, in der Nähe von Tebay, Cumbria, als Clive sieben oder acht war. Der Vater verkaufte den Bungalow für 3000 Pfund an einen Metzger, der das Geld beim Pferderennen in Doncaster gewonnen hatte. Gaisgill ist eine kleines, landwirtschaftlich geprägtes Dorf, und Clives Schulfreunde kamen alle aus Farmerfamilien. Sehr bald verbrachte Clive seine gesamte Freizeit bei einem Farmer namens Edward Metcalfe, genannt Ebby, einem bekannten Schafzüchter und Hundetrainer.

»Ich war eins von den Kindern, die immer wissen wollten, was hinter dem nächsten Hügel kam und was hinter dem übernächsten«, so Clive. »Ich hatte praktisch zwei Zuhause: mein Elternhaus, wo ich schlief und die Farm, wo ich den ganzen übrigen Tag verbrachte. Ich war infiziert! Ebby war ein guter Farmer, ein großartiger Züchter und ein toller Kerl. Er begeisterte mich. Und es gab nie einen Zweifel daran, was ich später einmal werden würde.«

Zu Clives Elternhaus gehörten eine Weide und ein Schuppen, und seit Clive 12 ist, hat er Kälber gekauft und gezüchtet. Für seine Arbeit bezahlten ihn die Leute mit einem Kalb oder einem ›mickrigen‹ Schwein, das per Hand aufgezogen werden musste (es hieß bei den Farmern recklin oder runt und war das kleinste und schwächste Schwein in einem Wurf, ein Kümmerling). An einem Weihnachtstag mistete Clive die Ställe bei einem Farmer im Dorf aus und sollte das nächstgeborene Kalb dafür bekommen. Unten in Kendal gab es zu jener Zeit eine Babymilch-Fabrik und einige Frauen aus dem Dorf arbeiteten dort. Oft brachten sie Clive und seinem Bruder Malcolm, der diesen kleinen Betrieb mit ihm zusammen führte, Milchpulver für ihre Tiere mit, das die Kunden reklamiert hatten.

Clive war viel jünger als ich, als er in den Farmbetrieb einstieg. Mit 14 verließ er Schule und Familie und heuerte auf einer Farm in Arnside an der Küste von Lancashire an. Die Farmer nahmen ihn zwar freundlich auf, aber weil er noch so jung war, hatte er oft Heimweh. Nach einem Jahr zog er wieder zurück und arbeitete auf einer Farm in der Nähe seiner Familie. Immer träumte Clive von seiner eigenen Farm, er wollte nicht für andere schuften. Er wusste aber auch, dass er dafür Geld brauchte, und darum hieß es, zuerst einmal Geld verdienen. Er baute und reparierte Steinmauern und Zäune, er arbeitete im Straßenbau und in den Sommermonaten als Schafscherer, während er nebenbei seine eigene Herde züchtete. Dafür verpachtete ihm ein alter Farmer Land und Ställe.

Clive konnte es nicht erwarten, eigenständig und hauptberuflich Farmer zu sein. Er bemühte sich um Pachtverträge, was für einen so jungen Mann schwierig war, denn man brauchte dazu nicht nur einen guten Ruf, sondern auch einen beträchtlichen Batzen Geld. Unbeirrbar und mit felsenfester Entschlossenheit verfolgte er seinen Weg, sparte jeden Penny und konnte sich schließlich seine erste eigene kleine Bergfarm leisten, oben in Stainmore, Cumbria, nah an der Grenze zu Yorkshire und County Durham.

Bergfarmen haben ihre eigenen Gesetze: Die Schafe dort sind fest mit ihrer Heimatfarm verbunden. Durch jahrhundertelange Züchtung ist den Schafen ein ›Heimfindevermögen‹ angeboren, sie sind ›ortstreu‹. Das bedeutet, dass sie auf ihrem Stück Land bleiben, obwohl es keine Begrenzungen gibt, keine Einzäunungen. Eine außergewöhnliche Situation: Die Schafe gehören zu einem ganz bestimmten Stück Land. Selbst Schafe von derselben Farm werden jedes Jahr in einzelnen Gruppen ihr eigenes Moor- oder Weidegebiet aufsuchen. Sie kennen es, und sie würden meilenweit laufen, um genau dorthin zu kommen. Sie lehren ihre Lämmer, dass dies auch ihr Land, ihre Heimat, ist. Das Fachwort dafür ist heafing und die Schafe sind mit ihrer Weidefläche heafed (hefted, hoofed) und zwar ein Leben lang. Diese Beobachtung ist um so erstaunlicher, weil das Moor karg und baumlos ist, eine unbegrenzte, unendliche Heidefläche, mit verstreuten, windgepeitschten Grasbüscheln und Halmen, dazwischen Torfmoor – keinerlei Orientierungspunkte, und doch kennen die Schafe ihr Gebiet ganz genau, gerade so wie jemand aus der Stadt den Stadtteil kennt, in dem er wohnt.

Benachbarte Farmer können ihre Herden auf riesige Flächen Land treiben, tausende Quadratkilometer, und die Schafe bleiben ohne äußere Begrenzungen innerhalb ihrer eigenen Herde und auf ihren angestammten Flächen. Natürlich gibt es hier und da mal einen Ausreißer und an den ›Rändern‹ der Herden auch schon mal leichte Vermischungen, aber aus einem tiefen Urinstinkt heraus sind die Schafe mit ihrem Land verwurzelt. Wenn Touristen durch die herrlichen Weiten des Swaledale fahren, fragen sie sich oft, wie der einzelne Farmer seine Schafe auf diesen unbegrenzten Flächen auseinandersortieren kann. Die Antwort ist einfach: Die Schafe tun es für ihn. Sie bleiben ja auf ihrem eigenen Land. Wenn die Schafe zusammengetrieben werden, arbeiten die Farmer Hand in Hand. Sie treiben ihre eigene Herde zusammen und schicken die verirrten Schafe hinüber zu den Nachbarn. Unsere Weideflächen haben alle eigene Namen. In Ravenseat haben wir vier davon: Black Howe, Side Edge, Robert’s Seat und Midtown, drei davon liegen auf Ravenseatgebiet, das vierte (Black Howe) gehört zu Birkdale Common und wird von fünf oder sechs Farmern geteilt. Die Schafe haben unterschiedliche Fellmarkierungen, die zeigen, von welchem heaf sie kommen.

Die Farm in Stainmore war nicht ganz so wie Clive sie sich erträumt hatte, aber es war ein Anfang, mit einer Herde von 120 Mutterschafen und vierzig weiblichen Jungschafen, sowie 20 Milchkühen. Clive heiratete und lebte dort mit seiner Frau und zwei Kindern, Robert und Rosie. Robert ist ebenfalls vom Farm-Virus infiziert und arbeitet mit uns zusammen.

1989 wurde Ravenseat als Pachtland freigegeben. Es befindet sich mitten in einem 130 Quadratkilometer großen Moorhuhn-Jagdgebiet von Gunnerside. Dieses und viele Quadratkilometer Land rundherum gehören heute dem Multimillionär Robert Miller, der als Mitbegründer der ersten Duty-Free-Läden zu seinem Reichtum kam. Er ist von Geburt aus Amerikaner, hat als Englandliebhaber aber auch einen britischen Pass. Auf der Sunday-Times-Liste der wohlhabendsten Personen rangiert er auf Platz 91, mit einem geschätzten Vermögen von 967 Millionen Pfund. Seine große Leidenschaft ist die Moorhuhnjagd. Für dieses Hobby muss man schon sehr reich sein, denn anders als Fasane können Moorhühner nicht in Gefangenschaft gezüchtet werden, da sie sich von wildem Heidekraut und den darin lebenden Insekten ernähren.

Zu jener Zeit, als Clive sich als Pächter von Ravenseat bewarb, gehörte das Land Lord Peel. Ravenseat war genau die Farm, von der Clive geträumt hatte, eine richtige Bergfarm mit einer anständig großen Schafherde. Solche Farmen wurden nicht sehr häufig zur Pacht angeboten. Clive schickte seine Bewerbung ab, hatte nach drei Wochen aber immer noch nichts gehört. Er rief an, und es hieß, sein Name wäre nicht in der engeren Wahl. Clive war sehr enttäuscht.

Am selben Tag, an dem er erfahren hatte, dass er nicht auf der Auswahlliste stand, traf er den Farmer Johnny Beckwith, der ihn fragte: »Und … hast du die Farm?«

Clive erzählte ihm, dass er keine Chance mehr habe. Darauf Johnny: »Da ruf ich mal an heut’ Abend.«

Später an jenem Abend bekam Clive einen Anruf von John Porter, einem hochangesehenen Swaledale Farmer.

»Ich werde mal mit Lord Peel sprechen. Er hört zwar nicht immer auf mich, aber …«

Das war alles. Schon am nächsten Tag rief Lord Peels Verwalter an und lud Clive zu einem Vorstellungsgespräch ein. Schon vor diesem Treffen machte sich Clive auf den Weg nach Ravenseat und erkundete das Gebiet zu Fuß, einen ganzen Tag lang. Clive sagte, er wolle erst einmal den Ort auf sich wirken lassen, die Atmosphäre spüren. Beim Vorstellungsgespräch stellte sich heraus, dass er der einzige Bewerber war, der so dachte. Und dies war sicher ein Grund – zusammen mit den Empfehlungen der anderen Farmer, die ihn schätzten – warum er den Zuschlag für Ravenseat bekam. Clive nahm seine Kühe mit auf die Farm, er trieb sie sogar zu Fuß hoch, acht oder neun Meilen durch das Moor. Früher haben die Farmer ihre Herden immer von einem Ort zum andern getrieben. In Kirkby Stephen gibt es eine Weide – seit Jahrhunderten Eigentum der Kirche – die den Schäfern auf ihrem mehrtägigen Weg zum Markt noch immer für die Übernachtung ihrer Herden zur Verfügung steht.

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