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Читать книгу: «Die Schäferin von Yorkshire», страница 2

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In meinem Biologie-Kurs im College konnte ich verschiedene Module wählen, eins davon hieß ›Mikrobiologie in der Milchwirtschaft‹ und wurde von der University of Liverpool angeboten. Die meisten Vorlesungen wurden im College abgehalten und beschränkten sich auf theoretisches Arbeiten, ab und zu besuchten wir jedoch auch eine bewirtschaftete Milchfarm und dann war ich sofort gefangen vom Farmalltag mit Kühen und Schafen. Es gab so viele verschiedene Möglichkeiten, auf einer Farm mit Tieren zu arbeiten, auch ohne tierärztliche Ausbildung – mein Traum war noch nicht geplatzt …

Mir kam erstmals der Gedanke, dass ich vielleicht einfach auf irgendeiner Farm anheuern sollte.

Also stieg ich auf mein altes Rad, und zwar wörtlich genommen – es war nämlich dasselbe Mountain Bike, das ich schon mit zwölf hatte –, radelte alle Farmen am Stadtrand ab und bot jedem, der mich möglicherweise brauchen konnte, meine Hilfe an, natürlich zum Nulltarif. Nun, es gibt nichts, was ein Farmer mehr liebt als Leute, die umsonst arbeiten und dabei so richtig ranklotzen, auch wenn sie im Schlamm stecken bleiben oder sich einsauen. Ein paar Farmer schienen etwas misstrauisch, als ich aufkreuzte, denn sie waren es gewohnt, dass männliche Wesen ihre Arbeitskraft anboten. Doch ich zeigte meinen guten Willen, arbeitete hart und, was das Wichtigste war, ich war frei.

Meine Abschlussprüfungen fielen nicht besonders gut aus und ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, wie ich jemals den Job ergattern konnte, den ich gerne wollte. Ich war immer für die Drecksarbeit zuständig. Niemand sprach von Bezahlung oder gar von einem festen Job. Wie konnte ich nur irgendwie vorwärtskommen? Mein nächster Schritt war, mich an der Berufsfachschule in Huddersfield für einen staatlich anerkannten Kurs in Tierpflege einzuschreiben. Dies schien ein Schritt rückwärts in meiner beruflichen Karriere – ich hatte schließlich schon die A-Levels in der Tasche –, aber ich hoffte, dass mir durch die praktische Erfahrung die Möglichkeit eröffnet wurde, auf einer Farm zu arbeiten.

Genau in dieser Zeit entdeckte ich ein Buch, das für mein weiteres Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. Ich ging damals in der Stadtbücherei von Huddersfield ein und aus, um mir Bücher über Tiere und Landwirtschaft auszuleihen, als mir das Buch Hill Shepherd von John und Eliza Forder in die Hände fiel. Man stellt normalerweise sehr schnell fest, ob einen ein Buch ›packt‹ und dieses tat es ganz gewiss. Schon auf den ersten Blick, beim ersten Durchblättern, hat es mich in seinen Bann gezogen: bewegende Fotos von Schäfern und ihren Herden, dazu der spannende Text über die Stationen ihres Lebens. Ich lieh es drei Mal hintereinander aus, bekam dann aber einen Brief von der Bücherei, dass ich das Buch nicht noch einmal ausleihen könne und dass ich Strafe zahlen müsse, wenn ich es nicht zurückbrächte. Ich konnte mir nicht leisten, es zu kaufen, und so brachte ich es – wenn auch widerwillig – zurück. Ich liebte jedes kleine Detail darin: das Foto eines Farmers, der einem toten Lamm das Fell abzieht, die Schafherde, die eine Straße entlanggetrieben wird, dicht dahinter die treuen Hütehunde, ein Schäfer, der seine Schafe im Lake District aus den Bergen holt. Man sieht Schafe, die sich wie kleine, perlende Tropfen ihren Weg durch das Farndickicht hinunter nach Hause bahnen. (Hier schließt sich wieder einmal ein Kreis in meinem Leben: Kürzlich kaufte ich mir im Antiquariat eine alte Ausgabe dieses wundervollen Buches, und auf einem der Fotos, auf einer Schaf-Auktion in Hawes, sieht man Clive, meinen Mann. Wie hätte ich ahnen können …).

Einen großen Teil meiner praktischen Erfahrung am College holte ich mir während der zweiwöchigen Ablammzeit auf einer Farm. Das war eine wahre Feuertaufe. Hätte mich die praktische Arbeit auf der Farm nicht so begeistert, dann wäre dieser Job ganz bestimmt der Auslöser dafür gewesen, mit fliegenden Fahnen zu Marks and Spencer zu stürmen, um ein Bewerbungsformular zu holen. Es waren nur zwei Personen mit dem Ablammen betraut: eine junge Studentin der Tiermedizin und ich. Wir standen in einem furchtbar großen, modernen Stall, vollgestopft mit Schafen kurz vor dem Lammen. Obwohl wir beide viel theoretisches Wissen im Kopf hatten, fehlte uns doch jegliche praktische Erfahrung. Die eigneten wir uns dann notgedrungen Schritt für Schritt in der Realität an. Es wurde ein unglaublich rasanter Lernprozess.

Wir hatten eine kommerzielle Farm vor uns, auf der das Ablammen im Stall und nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, draußen auf der Weide stattfand. Es war eine sehr harte, verantwortungsvolle Arbeit, mit der wir vollkommen allein gelassen wurden. Die Studentin war zum Glück eine zuverlässige Teamkollegin und wir beide zogen ›am gleichen Strang‹. Der Farmer war stets missmutig und unglaublich knauserig. Er konnte uns keine der zum Ablammen notwendigen Gerätschaften und Mittel zur Verfügung stellen: kein Kolostrum-Pulver zum Beispiel, als Ersatz für das lebenserhaltende Vormilchsekret (Biestmilch), das die Mütter in den ersten Stunden nach der Geburt produzieren bevor die Milch einschießt und das die für alle Neugeborenen wichtigen Immunstoffe aufweist.

Wir taten unser Bestes, indem wir hier und dort etwas Biestmilch bei denen stibitzten, die viel hatten, und es an die weitergaben, die nicht genug bekamen. Nach Ansicht unseres Farmers sollten die unterversorgten kleinen Lämmer gleich getötet werden. Das Schlimmste war, dass er dies nicht auf humane Art und Weise erledigte, sondern den Lämmern einfach eins über den Schädel gab und sie dann in eine große blaue Tonne warf. Mir wurde schlecht bei dem Anblick, wie er sie umhaute, und noch dreckiger ging’s mir, als ich sah, dass sich manche Lämmer in der Tonne noch bewegten. Heute würde ich ihm selbst eins über die Rübe geben, aber zu der Zeit war ich einfach noch sehr jung und weniger selbstsicher.

Diese Farm wurde richtig schlecht geführt. Schon sehr früh erkannte ich, dass es gute Farmer und schlechte gab; genauso wie in allen anderen Berufen. Für schlechte Farmer zu arbeiten, war sicher nicht gerade eine positive Erfahrung, aber es prägte mich und zeigte mir, wie man es nicht machen sollte. Ich bekam eine klare Vorstellung davon, wie ich selbst in Zukunft arbeiten wollte, und ich lernte auch, dass ich alle romantischen Vorstellungen vergessen konnte. Nach meinem zweiwöchigen Arbeitseinsatz sollte mir der Farmer 20 Pfund bezahlen, aber – wie ich es eigentlich auch erwartet hatte – tauchte er am Zahltag gar nicht erst auf.

Später nahm ich Gelegenheitsarbeiten auf einem Pferdehof an, wo ich hauptsächlich misten und putzen musste. So sehr ich Pferde auch liebte, wusste ich doch, dass ich nicht den Rest meines Lebens mit Pferden arbeiten wollte. Bei einem anderen Job lernte ich, eine kleine Melkanlage zu bedienen. Auf diesem Hof herrschte eine angenehme Atmosphäre, denn sie hatten eine gute Mischung aus Kühen, Schafen, Pferden und Schweinen. Zu jener Zeit hatte ich meinen Fachhochschulkurs beendet und im Kopf meine Interessen sortiert: Schafzucht war es – das und nichts anderes.

Da kam mir, wie so oft, ein Glücksfall zu Hilfe. Mein Kurs in Tiermedizin hatte auch eine landwirtschaftliche Komponente, sodass ich lernte, Tierärzten bei ihrer Arbeit mit Nutztieren zu helfen. Einer meiner Tutoren hatte gute Kontakte zu Farmen und zufällig kannte er jemanden, der gerade einen Farmhelfer suchte – oder vielleicht auch nur einen Dummen …

2
Flughafer und Wolle

Mein erster Vollzeitjob war Kühemelken auf einer Familienfarm in Wakefield. Sehr bald realisierte ich, dass ich einen schwierigen Kurs zwischen zwei Chefs steuern musste, denn die beiden hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, was meine Aufgaben waren. Genau genommen waren es auch zwei Höfe. Auf dem einen regierte der alte Herr, der Vater, und auf dem anderen sein Sohn, der gerade frisch von der Landwirtschaftsschule kam. Theoretisch hatte eigentlich jeder sein Reich. Die Realität aber sah so aus, dass der Vater mich aufsuchte und mir erklärte, was und wie ich etwas zu tun hatte, was das komplette Gegenteil von dem war, was mir der Sohn ein paar Minuten zuvor aufgetragen hatte. Der alte Knabe wollte alles so haben, wie es schon immer war, ganz traditionell, und der junge Bursche hatte einen Haufen neuer Ideen im Kopf, die sein Vater schlichtweg für Unsinn hielt. Sie stritten über die einfachsten Dinge.

Über Eimer zum Beispiel: Jeden Tag gab es 130 Kühe zu melken und 25 Kälber zu füttern. Der Sohn wollte, dass ich die Eimer auswusch, sie sterilisierte und dann in einer Reihe aufstellte, denn er sah die Gefahr, dass Dreck von einem Eimer zum anderen übertragen würde, wenn man sie aufstapelte. Dann kam der alte Herr und fragte mich, was um Gottes willen ich denn da täte. All die aufgereihten Eimer würden doch dreckig werden und stünden im Weg herum und sollten gefälligst aufgestapelt werden. So wurde ich ohne Pause von dem einen gerügt, weil ich tat, was der andere mir aufgetragen hatte. Man konnte es keinem recht machen, immer hatte einer etwas rumzunörgeln. Außer mir arbeiteten noch zwei Burschen vom YTS (Youth Training Scheme, staatliches Ausbildungsprogramm für Jugendliche) auf dem Hof und wir drei hatte ständig Stress mit einem der Chefs. Dann gab es noch einen alten Farmarbeiter, der schon immer dort war. Es war sozusagen eine richtige Männerwirtschaft, die noch nie durch ein Mädchen gestört worden war.

Gleich am Anfang hieß es: » Und vergiss deine Köderdose nicht.«

Köder?, dachte ich. Was hat Angeln damit zu tun?

Aber schnell merkte ich, dass sie die ›Brotdose‹ meinten. Bei schönem Wetter saßen wir draußen und aßen, aber wenn es regnete – was meistens der Fall war – saßen wir im Schuppen auf Milchkästen und Teekisten. Die Teekisten waren voll mit Männermagazinen. Es war eigentlich abstoßend für mich, mein Brot zu essen, während die drei andern Typen den Playboy lasen, doch irgendwann störte ich mich nicht mehr daran. Wenn man in einer Welt arbeiten möchte, die seit Jahrhunderten männlich ist, dann sollte man sich auch nicht aufregen oder feministisch tun, nur weil man ein bisschen angemacht wird oder die Kerle ungehobelt daherreden.

Es war echt schwere Arbeit. Ich stieg jeden Morgen um sechs aufs Rad und war um sieben Uhr dort, eine Stunde bergauf, bergab. Wenn ich nicht Fahrrad fuhr, musste ich zwei Busse nehmen, was sehr viel länger dauerte. Wenn ich nach einem Tag auf der Farm wirklich mal den Bus nahm, konnte ich mir einer Sache sicher sein:

Ich schaffte es, den ganzen Bus zu räumen, und zwar nur wegen meines üblen Geruchs, normalerweise Silage-Geruch – meine Mitreisenden hatten schnell die Nase voll.

Ich hatte eine 7-Tage-Woche, aber jedes dritte Wochenende bekam ich mein – wie die Farmer es nannten – freies Wochenende. Dies waren aber die schlimmsten aller Wochenenden: Das Melken morgens und abends blieb meine Aufgabe, nur die Stunden dazwischen waren frei. Das bedeutete für mich aber, die Tour mit dem Fahrrad zweimal am Tag zu machen. Ich hatte das Gefühl, den ganzen Tag im Sattel zu sitzen, den ganzen Tag bergauf, bergab zu strampeln. Kein Wunder, dass ich keine Zeit für Freunde oder Verabredungen hatte. Zu jener Zeit gingen meine Schul- und Collegefreunde schon längst ihre eigenen Wege. Einer war eifriger Student in Oxford, ein anderer Auszubildender bei der Lloyds Bank – alle hatten ganz normale, sinnvolle Berufe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich nicht so leistungsfähig war wie sie, aber ich war immer noch nicht im Reinen mit dem, was ich tat. Ich liebte die Arbeit auf der Farm, doch die Arbeitszeit war brutal und ich hatte das Gefühl, mein Leben noch nicht richtig in der Hand zu haben.

Meine Farm war zum großen Teil ein Ackerbaubetrieb, für mich eine ganz neue Erfahrung. Stundenlang schaufelte ich Getreide in Silos und Getreidespeicher oder füllte Säcke mit Gerste. Ich musste auch einen Mähdrescher abschmieren, 130 Schmiernippel jeden Morgen während der Erntezeit. Die Maschine, ein museumsreifer, riemengetriebener Mähdrescher, war der ganze Stolz des Alten, und er machte tatsächlich Stichproben, um zu kontrollieren, ob ich alles richtig geschmiert hatte.

Ich wurde auch mit einem Kartoffelsack auf dem Rücken losgeschickt, um vorsichtig den wilden Hafer auszurupfen, der zwischen der Gerste wuchs. Der Farmer betonte, ich solle auf keinen Fall meine Verpflegung vergessen … Beim Blick über die reifen, goldenen Gerstenfelder konnte man den Flughafer gut erkennen, die grünen Rispen überragten alles. Auf den ersten Blick schien es nur eine Handvoll wilder Gräser zu geben, aber als ich in das Feld hineinkroch, entdeckte ich ihre ungeheure Ausbreitung. Jetzt wurde mir klar, warum ich meine Tagesverpflegung mitnehmen sollte. Der Vorteil dieser langen Tage in den Gerstenfeldern war, dass ich eine goldene Bräune bekam, die man in keinem Sonnenstudio hätte kaufen können, leider reichte sie aber wegen der langen Gummistiefel nur bis zu den Oberschenkeln.

Die Erntezeit war unglaublich arbeitsintensiv: Wenn der Wassergehaltsmesser den erforderlichen Trockenheitsgrad des Getreides anzeigte, hieß es ›alle Mann an Deck‹. Flutlicht wurde rund um die Felder installiert und niemand hörte auf zu arbeiten, bevor nicht das gesamte Getreide sicher eingebracht war. Obwohl die Arbeit sehr hart war, merkte ich, dass ich dabei eine ganze Menge praktischer Erfahrung sammeln konnte. Ich lernte, wie man Gülle auf die Felder verteilt – mit einem langen Schleppschlauch und Traktor oder mit einer Scheibenegge – ich lernte, wie man mit einer Zapfwellenegge Erdklumpen aufbricht, um den Boden für die Aussaat bereit zu machen, ich lernte ein Kalb zu enthornen, und ich lernte Traktorfahren. Autofahren konnte ich schon, damit hatte mein Vater mich mit großer Geduld bereits vertraut gemacht. Eine einzige Fahrstunde mit einem professionellen Fahrlehrer genügte, um die Details für die Fahrprüfung zu lernen. Ich bestand beim ersten Versuch.

Während meiner Zeit auf der Farm haben sich meine Eltern oft gewundert, Was in aller Welt tut sie da eigentlich?, besonders dann, wenn ich verdreckt und stinkend nach Hause kam. Die Antwort war ganz einfach, ich war ganz am Ende der Rangordnung, ich war der Handlanger, der Wasserträger, von dem man erwartete, dass er alles ohne Murren tat. Aber ich war glücklich damit, denn ich konnte arbeiten und lernen. Ich musste ja irgendwie anfangen und außerdem gab es zu jener Zeit bei mir zu Hause Ereignisse, die wichtiger waren als meine Karriere.

Ich war damals 18 Jahre alt, als mein Vater starb. Jahrelang hatte er geglaubt, ein Magengeschwür zu haben, und bekam Gaviscon verschrieben, ein Antazidum gegen Verdauungsstörungen. Als die Schmerzen schließlich unerträglich wurden, veranlasste der Arzt weitere Untersuchungen und es wurde Magenkrebs festgestellt. Zu dem Zeitpunkt war er schon sehr krank und konnte nicht mehr arbeiten. Schließlich kam die Zeit, als er noch nicht einmal mehr an seinen geliebten Motorrädern herumbasteln konnte. Das war das Schlimmste für ihn. Es war herzzerreißend zu sehen, wie er die Räder wegräumte und die Ersatzteile katalogisierte, die Garage, Keller und Dachboden füllten. Ich konnte zwar Kurbelwellen von Pleuelstangen unterscheiden, aber er hatte über viele Jahrzehnte Unmengen an Einzelteilen angehäuft und um zu verhindern, dass wir nach seinem Tod von irgendwelchen skrupellosen Händlern übers Ohr gehauen wurden, machte er eine detaillierte Liste davon. Wir mussten ihm versprechen, niemals seinen Kompressor zu verkaufen, alles andere versuchte er bei Motorradfans loszuwerden. Meine Mutter arbeitete zu der Zeit in der Schulkantine und sie musste ihren Job aufgeben, um für ihn zu sorgen. Katie war damals zwölf Jahre alt und es war für uns alle eine sehr schwere Zeit. Ich war bei ihm, als er starb. Er war zu Hause und stand seit Tagen unter Morphium. Mich verfolgt dieser Moment immer noch, es war solch ein irreales Erlebnis, es war, als ob ich es nicht wirklich selbst erlebte: all die Formalitäten und praktischen Dinge, die geregelt werden mussten, den Arzt und den Bestatter anrufen, und dann das Schlimmste, die Großmutter aufsuchen, um ihr zu sagen, dass ihr Sohn gestorben sei. Ich wollte eigentlich nicht zur Beerdigung gehen, aber meine Mutter bestand darauf. Der zweite Konflikt folgte auf dem Fuß:

»Du gehst nicht in deinen Gothic-Sachen dorthin.«

»Vater kennt mich nur so, und alle gehen in Schwarz. Wo ist das Problem?«

Seitdem habe ich Beerdigungen gehasst, und ich gehe auch nur sehr selten hin.

Was meinen Job angeht, so versuchte ich erst mal, keine Pferde scheu zu machen und alle Zukunftssorgen für mich zu behalten. Meine Mutter hatte schon genug am Hals.

Mir wurde klar, dass mein Wunsch, auf einer Farm zu arbeiten, bedeuten würde, Huddersfield verlassen zu müssen. Ich wollte nicht für die kommerziellen, industriellen Farmen arbeiten, kurz, ich wollte mehr Weiden und weniger Ställe. Natürlich könnte man sagen, ich hätte eine sehr romantische Vorstellung von meinem Arbeitsplatz, aber ich war mir sicher, dass es Stellen gab, wo Hund und Stab die Hauptrolle spielten und nicht elektronische Messgeräte und Trockensubstanzen. Es war allerdings noch nicht die passende Zeit, von zu Hause wegzugehen, so kurz nach Vaters Tod.

An einem typischen, grauen, regenverhangenen Tag im Spätherbst kam ich mit dem Bus von der Arbeit und lief, wie gewöhnlich vor mich hin summend, durch das Zentrum von Huddersfield. In der Haupteinkaufsstraße, wo die Leute wie immer einen großen Bogen um mich machten, kam ich am Strawberry Fair vorbei, einem dreistöckigen Porzellan- und Geschenkeladen an der Ecke Byram Arcade. Ich war schon oft dort vorbeigegangen, um eine Etage höher in einem Vintage-Laden vorbeizuschauen, wo zwei Punkerinnen grunge-style Mode verkauften: alte Kleidungsstücke, die sie secondhand gekauft und dann selbst umgearbeitet hatten. Dies war während meiner Gothic-Zeit mein Lieblingsgeschäft, genauso wie nebenan der Plattenladen Dead Wax Records, wo ich viele Regennachmittage damit vertrödelte, die Plastikkisten voller abgegriffener Alben zu durchwühlen. Strawberry Fair war ein Nobelladen und bis dahin nicht auf meinem Schirm. Im Schaufenster standen polierte Silber- und Glaswaren mit zartem Dekor, in der Verkaufshalle hing ein glitzernder Kristallkronleuchter und smarte Verkäufer schwebten zwischen Waren und Kunden hin und her. An der Tür hing ein Schild: VERKÄUFER/IN GESUCHT. IM GESCHÄFT NACHFRAGEN.

Ein Gedankenblitz schoss durch meinen Kopf: Sollte ich mal etwas ganz anderes ausprobieren, eine konventionellere Arbeit? Dieser Gedanke bekam durch die Kombination verschiedener Faktoren Nahrung: den beginnenden Winter, die unbarmherzige Schufterei auf der Farm, sowie das Gefühl, jetzt nach Vaters Tod mehr Verantwortung übernehmen zu müssen.

Bevor ich auch nur die Chance hatte, meine Gedanken richtig zu ordnen, steckte eine Frau ihren Kopf aus der Tür und sagte: »Sind Sie an der Stelle interessiert? Wenn ja, können Sie sich sofort beim Chef vorstellen. Philip ist gerade im Lager.« Überrascht über mich selbst ließ ich mich hereinbitten, zeigte aber auf meine schlammigen Gummistiefel. Betreten nahm ich den beigefarbenen, dicken Plüschteppich wahr, doch mein Vorschlag, die Stiefel vor der Tür stehen zu lassen, stieß auf taube Ohren. Irene, die Verkäuferin, nahm mich mit nach hinten und eine Treppe hinunter. Ich fühlte mich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, als ich mir – nach Kuhstall riechend – vorsichtig meinen Weg durch die Glasvitrinen mit Lladró-Schmuckstücken und feinem Keramikservice bahnte. Im Gespräch mit Philip antwortete ich ganz ehrlich, dass ich den Job nur vorübergehend brauchte und Verkäuferin keineswegs mein Berufsziel wäre. Ich glaube, er fand mich etwas merkwürdig, ahnte aber, dass ich zuverlässig und hart arbeiten konnte und, wie es aussah, schien er dringend jemanden zu suchen, denn er sagte: »Wenn Sie den Job möchten, haben Sie ihn.«

Am nächsten Tag informierte ich den Farmer, dass ich nicht mehr käme. Er war nicht besonders besorgt, denn es gab eine Menge junger Leute, die Arbeit suchten. Ich war sicher leicht zu ersetzen. Feierlich verbrannte ich die stinkenden Hosen und wurde urplötzlich zum Inbegriff von Frische und Eleganz: in engem Rock, frischer weißer Bluse und den verhassten Barratts-Pumps – jetzt hatten sie mich doch erwischt.

Erstaunlicherweise fand ich Gefallen an dem Job. Meine neuen Kollegen, eine freundliche, respekteinflößende Truppe, duldeten keine Flausen. Schnell lernte ich die wichtigsten Verkaufsfloskeln und Sprüche und wurde schon bald Expertin in der Kunst, Leute zum Kaufen zu bewegen. Noch immer war ich perplex über die Dinge, die ich verkaufen musste. Ich arbeitete in der Haushaltsabteilung, wo gutbetuchte Damen und Herren sich ihre Hochzeitslisten zusammenstellten. Sie zerbrachen sich den Kopf über das Design des Bestecks, die Farbe der Eierbecher und die Frage, ob sie einen Fischkessel brauchten oder doch besser ein Fondue-Set. Ich nickte zustimmend, wenn wir die Vorzüge eines Tellers mit 24 cm Durchmesser gegenüber einem mit 27 cm Durchmesser diskutierten, und ich dachte für mich: Wie verdammt unnütz ist das alles?

Schon die Preise: Hunderte Pfund für gusseisernes Küchengeschirr, Tausende Pfund für die exklusiven Geschenkkisten aus Holz, gefüllt mit glänzend poliertem Besteck. Es gab viele verschiedene Ausführungen von Gabeln, Löffeln und Messern und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wofür einige von ihnen gut waren: Apostellöffel, Salzlöffel, Teemaßlöffel! Ein Besteckhersteller gab mir einmal eine Lehrstunde im Eindecken der Tische bei offiziellen Empfängen, damit ich einen fachkundigen Eindruck machte. Lächerliche Summen wurden für Vasen oder Porzellanfiguren bezahlt. Das alles war ein großes Mysterium für mich. Ein wichtiges Teil aus dem Laden habe ich aber dann doch für mein späteres Leben gebrauchen können.

Es gab in dem Geschäft einen großen, schwarzen, gusseisernen Topf mit Deckel, ganz versteckt in der Ecke; er wog bestimmt eine Tonne und wurde nur ›Gänsetopf‹ genannt. Ich musste ihn regelmäßig abstauben, benutzte ihn zum Draufsteigen, um an die Pfannen oben im Regal zu kommen, und hatte mich damit abgefunden, ihn niemals verkaufen zu können. Ausnahmsweise schien ich einmal recht zu behalten, niemand wollte ihn haben. Doch dann, eines Tages, am zweiten Weihnachtstag, hatten wir einen großen Ausverkauf, und eine Dame aus Jamaica betrat den Laden. Sie kaufte den Topf zu einem deutlich reduzierten Preis und erzählte mir, sie habe eine große Familie und könnte jetzt erfreulicherweise mindestens zwei ganze Hühner darin kochen. Ich habe mir selbst mittlerweile auch solch einen Topf gekauft, für den großen schwarzen Herd mit offener Feuerstelle auf unserer Farm. Ich liebe diesen Ofen im Winter, er ist ökonomisch, wärmt das Haus, trocknet die Wäsche, heizt das Wasser und kocht das Essen. Er lässt uns auch bei Stromausfall nicht im Stich. Das einzige Problem ist, dass der Essensgeruch das ganze Haus erfüllt, den Appetit anregt und die Kinder so hungrig macht, dass sie viel mehr essen als sonst.

Im Geschäft, bei Strawberry Fair, hatte ich ja von Anfang an ehrlich gesagt, irgendwann wieder zurück auf eine Farm zu wollen. Ich genoss meinen kurzen Abstecher in die ›geregelte, zivilisierte Welt‹, ich war da, wenn meine Mutter und Katie mich brauchten, doch das Farmleben war und blieb meine wahre Liebe. Ich kaufte mir die Farmzeitungen Farmers Guardian und Farmers Weekly und brütete über den Stellenanzeigen. Da gerade der Frühling begann, wurden eine Menge Leute fürs Ablammen gesucht, einige im Stall, einige auf der Weide. Die meisten Ablamm-Jobs draußen brauchten einen Schäfer oder eine Schäferin mit Hütehund. Den hatte ich nicht, sodass viel weniger Angebote für mich in Frage kamen. Doch dann, schließlich, fand ich eine Anzeige, die genau zu mir passte:

GESUCHT ab sofort.

Einsatzfreudige junge Person

zum Schafehüten und Ablammen in Salisbury Plain.

Kein Hund erforderlich. Nur die Bereitschaft zu arbeiten und

Eigeninitiative zu entwickeln. Unterkunft vorhanden.

Bitte anrufen.

Zu jener Zeit besaß ich ein Auto, einen Mini Metro für 900 Pfund, die ich mir mühsam zusammengespart hatte. Also fuhr ich an einem Sonntag runter nach Wiltshire zum Vorstellungsgespräch. Noch nie war ich allein so weit gefahren. Ganz früh am Morgen machte ich mich auf den Weg, direkt auf die Autobahn, vorbei an Birmingham und Bristol und kam schließlich mittags in Warminster an. Ich war total angespannt. Es war tatsächlich das erste Mal, dass ich mich von zu Hause losgerissen hatte, der heimischen Sicherheit den Rücken kehrte, aber ich wusste, jetzt war die Zeit gekommen, auf eigenen Füßen zu stehen.

Ich fuhr eine lange Kieseinfahrt hoch und erreichte ein großes modernes Haus, nicht gerade das, was ich mir unter einer Farm vorgestellt hatte. Ein Mann kam heraus, den ich für den Farmer hielt, war mir aber nicht sicher. Normalerweise kann man einen Farmer meilenweit erkennen, doch dieser war irgendwie anders, irgendwie glatter als die Farmer, die ich kannte. Ich stellte mich vor, atmete einmal tief durch und versuchte Selbstbewusstsein auszustrahlen. Ich ließ so viele landwirtschaftliche Fachbegriffe wie möglich aus mir heraussprudeln, um mit meinem enormen Wissen über Schafe und Lämmer Eindruck zu schinden (das Wissen beruhte zwar mehr auf Fachbüchern als auf tatsächlicher Erfahrung, aber das konnte mein Gegenüber ja nicht wissen). Er zeigte keine Reaktion, brachte mich stattdessen zu meinem kleinen Zimmer auf der anderen Seite des Hauses und meinte, ich könne den Job haben. Ich hätte schwören können, er hatte mir gar nicht richtig zugehört, aber egal, ich hatte den Job und das zählte. Ich war wie im Rausch. Zwar war es auch diesmal nicht wirklich die Art von Farm, die ich mir erträumt hatte, aber es gab wohl jede Menge Schafe und das war schon mal ein guter Anfang.

Als ich bei Strawberry Fair kündigte, bot Philip mir an, ich könne den Job jederzeit zurückhaben, egal wann. Das war sehr beruhigend, doch ich wusste, ich würde das Angebot niemals annehmen. Ich bekam auch ein hübsches Abschiedsgeschenk. Eins der teuren Essensservice, die wir verkauften, war mit Schafen und Schäfern verziert, und der Hersteller hatte ein paar kleine Porzellanschafe zur Dekoration des Services mitgeliefert. Ich liebte diese kleinen Schafe und die Kunden liebten sie auch. Immer wieder fragten sie, ob die Schäfchen nicht doch zu verkaufen seien. Nein, waren sie nicht. Zwei davon bekam ich geschenkt, sie stehen immer noch in einem Eckregal in Ravenseat, hoch oben, weit weg von Kinderhänden.

Ich belud mein Auto mit allem, was mir wichtig war, und weg war ich, zuversichtlich und hoffnungsvoll wie niemals zuvor. Als ich ankam, war der Farmer nicht da. Man sagte mir, er sei Wasserskifahren in Amerika. Wie eigenartig, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte mich darauf verlassen, dass er mir alles genau zeigte und mir erklärte, was er von mit erwartete. Später im Pub hörte ich, dass die Einheimischen der Farm den Spitznamen Waco gegeben hatten, in Erinnerung an einen Ort in Texas, wo ein Jahr zuvor über 80 Sektenmitglieder bei einer Razzia getötet worden waren. Die Leute im Dorf hatten beobachtet, dass ein Haufen junger Arbeiter auf der Farm ein- und ausging und der Hof trotzdem vernachlässigt war. So machte das Gerücht die Runde, dass auf der Farm Anhänger einer Sekte lebten. Davon hatte ich bei meiner Ankunft natürlich nicht die leiseste Ahnung.

Mit mir lebten noch zwei andere junge Arbeiter auf dem Hof, ein Mann und eine Frau, die zum Kühehüten angeheuert worden waren, sowie ein älterer Mann, der alles beaufsichtigen sollte. Natürlich tat er das nicht: Er saß vor dem Fernseher oder war einfach gar nicht zu sehen. Niemand war verantwortlich, alles hing an uns.

Am nächsten Morgen gingen meine beiden Kollegen raus zu den Kühen und ich schloss mich ihnen an, um nach den Schafen zu schauen und die Elektrozäune zu reparieren. Das gesamte Land ringsum gehörte zum Verteidigungsministerium, es gab weder Mauern noch Zäune, nur riesige Weideflächen von schlechter Qualität und flaches Gelände mit ein paar kleinen Wäldchen. Ich sah verlassene Dörfer, die von der Armee für Übungen genutzt wurden. Dort herumzulaufen war sehr gefährlich, denn überall lauerten Brandbomben und Gräben, in denen Panzer unter Tarnnetzen verborgen waren. Während meiner Zeit auf der Farm erlebte ich zum Beispiel, dass eine unselige Person dort einen Ausritt machte und ihr Pferd auf eine Test-Mine trat, die mit lautem Knall in einer Rauchwolke explodierte. Der Reiter wurde abgeworfen und das Pferd galoppierte in den Sonnenuntergang. Es wurde eine Woche lang nicht gesehen, dann tauchte seine Silhouette ab und zu am Horizont auf, mit schleifenden Zügeln und dem Sattel unter dem Bauch baumelnd. Das einzig Gute an diesem Gelände war, dass die herumliegenden Sprengköpfe perfekt zu Hundenäpfen umfunktioniert werden konnten – sozusagen eine kleine Entschädigung für das ›In-die-Luft-Fliegen‹.

Ein anderes meiner bemerkenswerten Fundstücke war ein Armeepullover mit dem Abzeichen des Bombenräumkommandos. Er war nicht mehr in perfektem Zustand, aber angenehm zu tragen (ich habe ihn immer noch). Ich fragte mich, ob der vorherige Besitzer tatsächlich auch in die Luft geflogen war und ob dieser Pullover das einzige Überbleibsel von ihm war … Ein gruseliger Ort, um Landwirtschaft zu betreiben.

Mein abwesender Chef verdiente sein Geld damit, Zuchtschafe bei sich überwintern zu lassen. In rauen Klimazonen, hoch oben in der abgelegenen Wildnis (wie es die Yorkshire Dales und der Lake District sind), schicken die Farmer ihre jungen weiblichen Zuchtschafe (gimmer hoggs) im Winter runter in mildere Klimazonen, auf sogenannte Winterweiden. Normalerweise werden sie Anfang November weggebracht und Anfang April wieder zurückgeholt. Auf Ravenseat machen wir das genauso, wie alle Bergschäfer. Die Farm, die den Schafen ein Winterquartier gibt, wird dafür pro Schaf bezahlt, und zwar anständig. Mein damaliger Chef nahm Schafe von verschiedenen Farmen aus dem Lake District auf. Was mir zu denken gab, war, dass er trotz der großen Zahl von Tieren zwischen Weihnachten und Mitte Februar nicht einen einzigen Schäfer eingestellt hatte. Kein Wunder also, dass ich dort draußen ein Horrorszenario vorfand. Die Schafe waren zwar noch alle da, doch sie standen auf kahlem Boden, abgesperrt mit Elektrozäunen. Seit längerer Zeit hatten sie keine frische Weide gesehen, sie mussten geradewegs verhungern. Einige Schafe hatten versucht auszubrechen und waren in den Elektrozäunen hängengeblieben. Sie waren sicher von tieffliegenden Militärhubschraubern oder von freilaufendem Wild erschreckt worden und bei ihrem Fluchtversuch mit den Hörnern im Draht hängengeblieben. Einige waren tot, andere konnte ich retten, doch auch diese waren durch fehlendes Futter und Wasser ausgemergelt und schwach. Die, die sich nicht in den Zäunen verfangen hatten, waren nur noch Haut und Knochen. Niemand hatte sie gefüttert. Meine beiden Farmkollegen waren entsetzt über das, was geschehen war. Sie selbst hatten sich nicht um die Schafe gekümmert, weil sie ja für die Kühe verantwortlich waren, die weit entfernt auf anderen Weiden grasten. Die Kühe sahen sehr gut aus.

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9783955101213
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