Читать книгу: «Mama, ich höre dich», страница 4

Шрифт:

Überall im besetzten Europa begingen Deutsche zahllose Massenmorde. Daran erinnert auch das Mahnmal (Teilansicht) für die in Kaunas (Litauen) getöteten Kinder. Allein 1,5 Millionen jüdische Kinder wurden ermordet. Der israelische Schriftsteller David Grossman schreibt: »Jedes Kind stand am Anfang eines Lebens. Jedes einzelne war eine ganze Welt.«

In das Ghetto hatten die deutschen Besatzer vor allem die Juden Warschaus eingesperrt, aber auch jüdische Kinder, Frauen und Männer aus anderen Teilen Polens sowie unter anderem aus der Tschechoslowakei und aus Deutschland.28 Im März 1941 befanden sich zwischen 445.000 und 490.000 Juden in dem abgeriegelten Ghetto.29 Darunter waren im Januar 1942 etwa 100.000 Kinder unter 14 Jahren.30 Damit war Warschau das größte Zwangs-Ghetto im von Deutschland besetzten Europa.31

Die Eingeschlossenen hungerten und mussten pausenlos um ihr Leben bangen. Fast 100.000 Juden starben an den unmenschlichen Bedingungen bis zum 21. Juli 1942. Anschließend wurden aus dem Warschauer Ghetto ungefähr 329.000 Juden allein in das Vernichtungslager Treblinka transportiert. Und zwar zwischen dem 22. Juli und 2. Oktober 1942 sowie von Januar bis Mitte Mai 1943. Nahezu alle hierher verschleppten jüdischen Babys, Kinder, Frauen und Männer wurden meist innerhalb weniger Stunden in den Gaskammern von Treblinka ermordet.32

Als die SS Mitte Januar 1943 mit der zweiten Deportationswelle begann, stellten sich ihnen bewaffnete jüdische Kämpfer entgegen. Dieser erste Aufstand in der polnischen Hauptstadt, der Aufstand im Warschauer Ghetto, das Symbol des jüdischen Widerstandes, mündete schließlich Mitte April 1943 in eine jüdische Volksrevolte. Die Kämpfe dauerten fast einen Monat, viele Tausend Juden fielen ihnen zum Opfer. Mehrere Zehntausend wurden wiederum festgenommen und erschossen, in »Arbeits-« und vor allem in Vernichtungslager transportiert.33

Von Beginn an hatte es im Warschauer Ghetto vielfältige Formen des Widerstandes gegeben, die schließlich in den bewaffneten Aufstand münden sollten. Eine Form des Widerstandes ist ganz eng verknüpft mit dem Historiker Emanuel Ringelblum. Er war der Leiter des Untergrundarchivs »Oneg Schabbat« im Warschauer Ghetto. Ab 1940 hatte er zusammen mit einer kleinen Gruppe von Freunden und Kollegen begonnen, Material über das Schicksal der polnischen Juden zu sammeln: amtliche Dokumente, Berichte, Briefe, Befragungen, Tagebücher, persönliche Testamente, Untergrundzeitungen und Dokumente der jüdischen Widerstandsgruppen. 1946 und 1950 wurden Teile des Untergrundarchivs in den Ruinen des Warschauer Ghettos gefunden.34

Bei Konservierungsarbeiten der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau wurde noch 2020 dieser Kinderschuh mit Notizen entdeckt. Dieser Schuh gehörte Amos Steinberg. Dieser wurde am 26. Juni 1938 geboren, überlebte und ist 1949 aus Prag nach Israel ausgewandert.

Erhalten geblieben ist zum Beispiel ein Bericht der vereinten Untergrundorganisationen des Ghettos an die polnische Exilregierung in London vom 15. November 1942. In dem von Emanuel Ringelblum mitverfassten Text heißt es: »Im Leuchten des unvergleichlichen polnischen Herbstes glitzert und schimmert eine Schicht Schnee. Dieser Schnee ist nichts anderes, als Federn und Daunen aus dem jüdischen Bettzeug, das zusammen mit dem ganzen Gut, mit Schränken, Taschen, Koffern voller Wäsche und Kleidung, Schüsseln, Töpfen, Tellern und anderen Haushaltsgegenständen von den 500.000 nach ›Osten‹ evakuierten Juden übrig geblieben ist. Die Sachen, die niemandem mehr gehören, Tischtücher, Mäntel, Deckbetten, Pullover, Bücher, Wiegen, Dokumente, Fotografien liegen durcheinander in den Wohnungen, auf den Höfen, auf den Plätzen, zu Stößen zusammengesammelt, bedeckt mit jenem Schnee aus der Zeit des vielfachen deutschen Mordes an den Juden Warschaus, den herausgerissenen Eingeweiden des jüdischen Bettzeugs. […]

Ausgestorbene oder sterbende Häuser, mit Stacheldrahtverhauen versperrte Straßen, Holzzäune, die die einzelnen Wohnblocks voneinander abtrennen und vor allem das vollständige Fehlen der Menschen, die noch vor zwei Monaten die Hauptarterien des Ghettos füllten, die zu ihren alltäglichen Beschäftigungen eilten, etwas kauften und verkauften, arbeiteten, eine Entvölkerung, wie sie nicht einmal die Jahrhunderte des Schwarzen Todes, der Pest, kannten – das ist das Bild des jüdischen Wohnbezirks in Warschau vom September 1942.«35

Emanuel Ringelblum, seine Frau Yehudit und ihr 12-jähriger Sohn Uri wurden gemeinsam mit anderen Juden im März 1944 in den Ruinen des Warschauer Zwangs-Ghettos erschossen.36

Zwischen Juli 1942 und September 1944 war Westerbork das zentrale Durchgangslager für Juden, die aus den Niederlanden vor allem »nach dem Osten« deportiert wurden.37 Ausbau und Unterhalt des Lagers wurden aus den Mitteln des von der jüdischen Bevölkerung beschlagnahmten Vermögens finanziert.38 Insgesamt wurden mehr als 100.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer aus den Niederlanden deportiert. Über sechzig Züge mit mehr als 57.000 Menschen »gingen« direkt nach Auschwitz-Birkenau. Mit dem Transport vom 19. Mai 1944 wurden auch 245 Sinti und Roma verschleppt. Darunter befanden sich 147 Kinder, von denen kein Mädchen und kein Junge am Leben bleiben sollten. Nicht einmal ein Prozent der aus Westerbork nach Auschwitz-Birkenau verschleppten Juden sowie Sinti und Roma würden die Befreiung erleben.39

GERHARD DURCHLACHER war neun Jahre alt, als er und seine Familie aus Baden-Baden 1937 zu Verwandten in die Niederlande flüchteten. Anfang Oktober 1942 wurde die Familie ins Lager Westerbork verschleppt. Von hier ging es im Januar 1944 zunächst in das Lagerghetto Theresienstadt und später nach Auschwitz-Birkenau. Als Einziger blieb Gerhard Durlacher am Leben. Über das Konzentrationslager schrieb er: »In der Hölle gibt es keine Sprache, die auszudrücken vermag, was ich sehe, höre, rieche oder schmecke. Bedrohung und Angst haben meine Gefühle mit einem Kordon umgeben. Ich rieche den Verwesungsgestank und den fetten Rauch, aber ich begreife nichts. Ich sehe und höre die Züge, die stolpernden Menschenmassen auf ihrem Weg in die Flammen, die dumpfen Schläge, die nackten kahlgeschorenen Frauen mit unbedeckter Scham, zu dritt unter einem grauen, von Regenwasser triefenden Fetzen gekrümmt, aber ich begreife nichts. Tag und Nacht registrieren meine Sinne, was jenseits des Stacheldrahtes, hinter den Wachtürmen an der Rampe und in den angrenzenden Lagerabteilungen geschieht, aber ich begreife nichts.«40

Mütter mit kleinen Kindern

Kleine Kinder wurden in Auschwitz fast immer sofort getötet. Hielt eine Mutter während der Eingangs-Selektion ihr Kind im Arm, wurden beide vergast. Die Mutter mochte noch so jung, gesund und »arbeitsfähig« sein. Es spielte keine Rolle. Trug jedoch zufällig die Großmutter anstatt der Mutter das Kind, wurde diese mit dem Kind ermordet, die Mutter – falls sie für vorläufig »arbeitsfähig« befunden wurde – in das Lager »eingeliefert«. Wie sie wollten, verfügten der deutsche Nazi-Staat und seine willfährigen Diener über Eigentum, Freiheit und das Leben von Babys, Kindern, Frauen und Männern. Der auch schon damals allgemein geltende Grundsatz von Schutz für Kinder, Kranke und alte Menschen wurde hier ins Gegenteil verkehrt: Wer als Arbeitskraft nicht missbraucht werden konnte, hatte keine Daseinsberechtigung. Die Chance für Babys und kleine Kinder, überhaupt ins Lager zu gelangen, tendierte gegen null.

JAN SEHN, Direktor des Instituts für gerichtliche Expertisen in Krakau und Mitglied der Hauptkommission für Naziverbrechen in Polen, hat – aufgrund der Erkenntnisse im Warschauer Höß-Prozess (März 1947) und im Krakauer Verfahren gegen vierzig SS-Männer und -Frauen (November/Dezember 1947)1 – eine frühe und präzise Studie zu den »Ereignissen« in Auschwitz vorgelegt. Darin enthalten ist eine genaue Beschreibung des fabrikmäßigen Ablaufes der Vernichtung von Kindern, Frauen und Männern:

»Die Menschen aus diesen Transporten wurden unmittelbar von der Ausladerampe auf das Gelände, wo sich die Gaskammern befanden, getrieben. Wer nicht fähig war, den Weg zu Fuß zurückzulegen, wurde mit Lastwagen dorthin gebracht.« Auf der zu den Bahngleisen parallel verlaufenden Straße seien unablässig Lastwagen verkehrt: Mit Kindern, Kranken und alten Menschen. »Zu der auf einem kleinen Platz vor der Gaskammer zusammengetriebenen Menschengruppe hielt einer der SS-Männer eine Ansprache, in der er den Versammelten versicherte, dass sie jetzt, da sich unter ihnen schmutzige und verlauste Personen befänden und in solch einem Zustand keiner ins Lager aufgenommen werden könne, in die Bade- und Desinfektionsanstalt geführt würden.« Sie sollten sich merken, an welcher Stelle sie ihre Kleidung zurückgelassen hatten. »Nachdem sich die Juden ausgezogen hatten, gingen sie in die Gaskammern. Hier waren Duschen sowie Wasserleitungsrohre eingebaut, so dass die Kammer den Eindruck eines richtigen Baderaumes machte. Gewöhnlich gingen Frauen mit Kindern zuerst hinein, und dann die Männer, die immer die kleinere Zahl bildeten.« In eine Kammer seien »unter Knüppelschlägen und Hundegehetz« ungefähr 3.000 Menschen hineingepresst worden. Danach wurden die Türen der Gaskammer zugeschraubt und das Giftgas »Zyklon-B« gelangte durch »besondere Einwurf-Zerstäuber, die ein schnelles und maximales Wirken des Giftes herbeiführten, in die Gaskammern.«

Nach etwa einer halben Stunde wurden die Türen geöffnet. »Sofort begann man mit dem Herausziehen der Leichen, die mit einem Aufzug nach oben zu den Öfen gebracht wurden. Nach Eintritt in die Kammer fand man die Leichen in sitzähnlicher Stellung vor. Sie hatten eine rosa Körperfarbe und wiesen an verschiedenen Stellen dunkelrosa und grünliche Flecken auf. Einigen stand Schaum auf den Lippen, anderen lief Blut aus der Nase. Viele Leichen hatten geöffnete Augen und sehr viele waren im Todeskampf miteinander verkrampft. Der größte Teil zusammengepresster Körper lag in der Nähe der Tür. Weniger Opfer befanden sich in der Nähe der Einwürfe, durch die das Zyklon geschüttet wurde. Aus der Lage der Körper war ersichtlich, dass die Menschen aus der Umgebung der Einwürfe flohen und zur Tür gelangen wollten.«2

Unzählige Säuglinge und Kinder starben bereits während der entbehrungsreichen, oft mehrere Tage dauernden Fahrt nach Auschwitz. Das bekam auch der Berliner Jude SIEGBERT LÖFFLER mit. Er war Zahntechniker von Beruf, wurde am 27. Februar 1943 verhaftet und einige Tage später nach Auschwitz deportiert, wo er die Nummer 105675 eintätowiert bekam. Eines Tages hieß es, »acht starke Häftlinge« würden gebraucht. »Wozu?« Ein SS-Mann antwortete: »Möbel verladen.« Mit Lastwagen ging es zum Güterbahnhof der Stadt Oświęcim, die jetzt Auschwitz hieß. Da standen zwei oder drei Waggons, in denen sich »94 oder 97, ich weiß es nicht genau«, tote Mädchen im Alter »von zwei, drei und vier Jahren« befanden. »Und da hat man an seine eigenen Kinder gedacht und nahm sie langsam hoch und wollte sie immer [vorsichtig] rausreichen.« Da habe er von einem SS-Mann ein paar mit dem Gummiknüppel über den Rücken bekommen. »Und da haben wir sie genommen an den Haaren, an den Armen, wo wir nur fassen konnten, haben sie nur immer rausgeschmissen.«3

Der 16-jährige GEDALIA BEN ZVI aus Bratislava, dem Kinderalter kaum entwachsen, wurde im Mai 1942 in Auschwitz eingeliefert. Er wurde auch beim »Entladen« der ankommenden Züge »eingesetzt«. Eines Tages traf ein Transport aus dem 45 Kilometer entfernten polnischen Będzin im Lager ein. Es gab keine Selektion. Die SS wollte alle sofort ermorden. Auch die Kinder. Es seien ungefähr 150 Menschen in einen einzigen Waggon gepfercht gewesen. Fast alle waren tot. Und da saß noch »ein kleiner Junge, mitten auf dem Weg, in all dem Durcheinander. Ganz still saß er da. Er war halb nackt. Wahrscheinlich hatte man ihm wegen der Hitze in dem Waggon die Kleider ausgezogen.« Einer der SS-Männer »wollte ihm einen Genickschuss geben. Aber das Kind drehte sich plötzlich um und es gelang ihm noch, den ersten Satz einen Gebetes zu rufen: ›Schma Jisrael, adonoj elauhenu, adonoj echod.‹ [›Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.‹] Dann warf der SS-Mann ihn auf den Lastwagen.«4

Yehuda Bacon: In Erinnerung an die Frauen in Auschwitz. – Mit 14 Jahren war der Junge in das Vernichtungslager deportiert worden. Nach seiner Befreiung zeichnete und malte er die Krematorien, die Verbrennungsöfen, Bilder der Erinnerung an die Kinder und Frauen …

Auch die jüdische Ärztin LUCIE ADELSBERGER, Nummer 45171, sah viel im Lager. Sie war am 17. Mai 1943 mit dem »38. Osttransport« von Berlin nach Auschwitz deportiert worden. In ihrem 1945/46 in Amsterdam verfassten Auschwitz-Bericht, der erstmals 1956 in Deutschland erschien, schreibt sie: »Nach den Richtlinien der SS brachte jedes jüdische Kind automatisch seiner Mutter den Tod. Das Lager nahm, abgesehen von einzelnen Zufällen, keine Judenkinder an. Sie gingen sofort nach der Ankunft lebend oder gegast ins Feuer und nicht die Kinder allein, sondern mit ihnen die Mutter. Jede Frau, die ein Kind bei sich hatte, auch wenn es nicht ihr eigenes war, sondern ein fremdes, das sie zufällig führte, war dem Tode geweiht.«5

SIMON GOTLAND wurde im Juli 1942 von Frankreich nach Auschwitz deportiert. Häftlingsnummer 53908. Unter anderem musste er zusammen mit anderen Häftlingen das Gepäck der nach Auschwitz deportierten jüdischen Kinder, Frauen und Männer einsammeln.6 »Die Häftlinge wurden sofort auf der Rampe selektiert, d.h. diejenigen, die nicht arbeitsfähig erschienen, kamen in die Gaskammer, die anderen in das Lager. Die Kinder kamen sämtlich in die Gaskammer. Wenn sie von ihren Müttern begleitet waren, kamen auch die Mütter mit in die Gaskammer.«7

SEWERYNA SZMAGLEWSKA, polnische Autorin, die mit der Häftlingsnummer 22090 von Oktober 1942 bis Januar 1945 in Auschwitz inhaftiert war, sah auch das, was »üblicherweise« Alltag war im Lager: Mütter mit Kindern auf den Armen oder an der Hand wurden ermordet. Sie berichtete 1946: Während der Eingangsselektion »wurden die jüngsten und gesündesten jüdischen Frauen in sehr geringer Zahl ins Lager eingeliefert. Die Frauen aber, die Kinder auf dem Arm trugen oder Kinderwagen schoben […], wurden zusammen mit diesen Kindern ins Krematorium geschickt. Die Kinder wurden vor den Krematorien von den Eltern getrennt und gesondert in die Gaskammern geführt.«8

Mütter mit Babys oder kleinen Kindern hatten diese in den Zwangstransporten teilweise noch im Kinderwagen mitnehmen dürfen. Diese wurden nach der Ermordung weiterverwendet. So schoben SS-Männer mehrmals in der Geschichte des Vernichtungslagers eine endlose Reihe von Kinderwagen die Straße entlang, die zum Bahnhof in Auschwitz führte. Es fuhren immer fünf Wagen nebeneinander. Sie nahmen die ganze Breite der Straße ein. Der Abtransport dauerte in der Regel mehr als eine Stunde. Kurze Zeit vorher hatten diese Wagen schon einmal die Straße passiert, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Sie kamen vom Bahnhof. Die Kinderwagen waren, soweit das den Müttern möglich war, vorsichtig und behutsam geschoben worden. In ihnen hatten Beinchen gestrampelt, erstaunte Kinderaugen in die Welt geschaut. Die Babys und ihre Mütter kamen aus Belgrad, Berlin, Bratislava, Brüssel, Budapest, Lublin, Minsk, Miskolc, Paris, Prag, Thessaloniki, Warschau … Jetzt schoben Männer in SS-Uniform sie auf der Straße zum Bahnhof zurück: weiße, elfenbeinfarbene, hellgrüne, dunkelblaue, größere und kleinere Kinderwagen. Leer waren sie. Kurz zuvor hatte in jedem Wagen noch ein rosiges, gesundes Baby gelegen. Das Glück und die Zukunft seiner Eltern. Ab jetzt waren die Kinderwagen bestimmt für die Säuglinge der Mörder und die ihrer Landsleute.9

MAGDA SZABO, als Jüdin aus Ungarn nach Auschwitz deportiert (Häftlingsnummer A-11937),10 kam mit ihrer Schwägerin und deren Kind im Alter von zwei Jahren im Juni 1942 in Auschwitz an. Weil die Frau ihres Bruders noch jünger und schwächer war, hatte Magda Szabo das Kind auf dem Arm. Als sie in der Selektions-Reihe warteten, kam ein Häftling zu ihr und fragte sie, »ob das Kind mir gehört?« Sie verneinte die Frage. Der Entrechtete, der sich offenbar schon länger im Lager befand, forderte sie auf, das Kind der Schwägerin zu geben. Magda Szabo dachte: »Vielleicht wird sie leichtere Arbeit« bekommen. Und sie gab der Verwandten das Kind. Zu ihrer leiblichen Mutter, die mit zur Selektion anstand, meinte sie: »Mutter, sage, dass du alt bist.« Magda Szabo verband damit die Hoffnung, dass ihre Mutter, während ihre Schwägerin arbeiten musste, das Kind versorgen konnte. Und die junge Frau wurde, nachdem sie der Schwägerin das Kind zurückgegeben hatte, aus »der Reihe herausgezogen« und dachte: »Vielleicht gehen sie in ein anderes Lager.« Doch Magda Szabo sollte ihre Mutter und ihre Schwägerin mit ihrem Kind nie mehr wiedersehen.11

NORBERT LOPPER, in Wien geboren, wurde von Brüssel, wohin er geflohen war, zusammen mit seiner Frau Ruth und ihrer 16-jährigen Schwester Sonja Ende August 1942 nach Auschwitz verschleppt. Er bekam im Lager die Nummer 61983 eintätowiert. Ruth und Sonja sah er nie wieder.12 Eines Tages war »ein französischer Transport gekommen«. Da war eine »achtzehn, zwanzigjährige Frau mit einem Baby« im Arm. Er sagte sich: »›Vielleicht kann man da irgendetwas machen.‹ Und die Frau hat das Kind nicht hergegeben.« So ging sie mit dem Kind ins Gas.13

ROLF WEINSTOCK aus Emmendingen bei Freiburg, dem in Auschwitz die Nummer 59000 eintätowiert wurde, hielt bald nach seiner Befreiung das im Lager Gesehene in einer Art Tagebuch fest, das 1948 veröffentlicht wurde. Nach der Ankunft in Auschwitz mussten die Verschleppten die Eisenbahnwaggons verlassen und »zur Besichtigung« antreten: »Ein Pfiff ertönte. Und schon stürzte die blutgierige SS-Soldateska auf die Herausgetretenen und schlug mit Peitschen darauf ein. Ich sah Jungen im Alter von acht und neun Jahren, sie riefen: ›Mama – Papa!‹ Auch auf sie hieben die Bestien ein.« Sie waren »dem Tode und dem Verderben ausgeliefert.« Auch die Mädchen und älteren Frauen mussten »heraustreten und wurden gleich auf einen bereitstehenden Lastwagen« verladen, der sie zu den Gaskammern brachte.14

Eine Form des Widerstands der »Sonderkommando«-Häftlinge bestand darin, dass sie persönliche Aufzeichnungen über das, was sie im Lager sahen und erlebten, anfertigten und diese – gewissermaßen als Zeugenaussagen für später – im Areal der Krematorien in Auschwitz-Birkenau vergruben, darunter die von SALMEN GRADOWSKI.15 Henryk Porębski, ein überlebender Häftling des »Elektriker-Kommandos«, der aufgrund seiner »Funktion« überall im Lager herumkam, berichtete nach seiner Befreiung: »Nicht weniger als 36 Büchsen« seien vergraben worden.16 Acht Behälter mit versteckten Handschriften wurden bis heute in Auschwitz-Birkenau gefunden. Darunter zwei von Salmen (Zalmen) Gradowski. Er stammte aus dem polnischen Łuna bei Grodno (heute Lunna bei Hrodna in Belarus), wurde am 8. Dezember 1942 in Auschwitz eingesperrt. Alle seine Familienangehörigen wurden noch an diesem Tag ermordet. Er blieb zunächst am Leben und konnte viele seiner Beobachtungen unter Lebensgefahr zu Papier bringen. Eine seiner Handschriften trägt den Titel: »In harz fun gehinem« – »Im Herzen der Hölle«:

»Das Herz blutet, wenn man auf seine erschöpfte, teure Frau mit den Kindern auf dem Arm blickt. Wenigstens mit irgendetwas möchte man ihnen helfen, aber jeder Versuch stößt auf sofortigen Widerstand. Gleich bekommst du eins mit etwas Hartem, Stumpfem über den Kopf, so dass du sofort deine Absicht vergisst, dich der zweiten Gruppe zu nähern. Die Frauen sehen, was im Falle eines Versuchs, ihnen zu Hilfe zu kommen, mit ihren Männern geschieht. […] Die Männer stehen an der Seite und schauen, wie ihre Nächsten mit den Lastautos davonfahren. Der Blick eines jeden ist an den Ort, den Punkt geschmiedet, wo sich seine Frau mit dem Kind auf dem Arm bewegt.«17

Gesehen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau: aus Stein gehauener und bemalter Kinderschuh zum Gedächtnis an die dort ermordeten Kinder, hinterlassen von einer Besucherin oder einem Besucher.


Furchtbar waren für alle die Latrinen in Auschwitz-Birkenau. In roh gegossenen Zement reihte sich Sitzöffnung an Sitzöffnung. Ohne jeden Sichtschutz, dazu stank es erbärmlich und im Winter war es unerträglich kalt.

In Auschwitz gab es kaum eine Regel ohne Ausnahme. Nichts war berechenbar. Was heute bedeutete, vorläufig am Leben zu bleiben, konnte schon morgen den Tod bringen. So beobachtete OTTO SCHWERDT, wie Mütter – entgegen der üblichen Vorgehensweise – gezwungen wurden, sich bei der Ankunft im Lager von ihren Kindern zu trennen, obwohl sie bei ihnen bleiben wollten: »SS-Männer reißen die Kinder aus ihren Händen. Ich kann mit Worten nicht beschreiben, was in mir vorgeht, als ich das sehe. Die Nazis sind keine Menschen mehr. Sie reißen den Müttern ihr Herz aus dem Leib. Sie zeigen keine Regung, wenn sie in die angstvollen, bittenden Kinderaugen sehen. Sie hören die Schreie und zerren weiter an den Kindern. Die Tränen schnüren mir den Hals zu. Es ist, als fühlte ich die Welt untergehen, als stürbe jeder Glaube und jede Hoffnung in diesem Moment. Doch nicht die Kinder, nicht die kleinen Kinder! Kein Flehen, kein Bitten, kein Widerstand helfen.«18 – Otto Schwerdt, in Braunschweig geboren, war als 13-Jähriger 1936 zusammen mit seiner Familie nach Polen geflohen. Alle wurden 1943 nach Auschwitz deportiert. Seine Mutter Eti, seine Schwester Meta und sein Bruder Sigi wurden vergast. Nur er und sein Vater Max sollten am Leben bleiben.19

Die 15-jährige JANDA WEISS aus dem tschechischen Brno wurde in Auschwitz-Birkenau als »Läuferin« eingesetzt. So bekam sie einiges mit und kam auch in Kontakt mit Männern des »Sonderkommandos«. In ihrem Bericht aus dem Jahre 1945 heißt es: »Und wenn der Raum [die Gaskammer] voll war, wurden noch die kleinen Kinder durch ein Fenster hineingeworfen. Säuglinge packte [SS-Mann] Moll bei den Beinchen und zerschlug ihnen an der Wand den Schädel. Dann wurde Gas in die Kammern gelassen. Den Opfern wurden dadurch langsam die Lungen zerrissen, und drei Minuten war lautes Wehklagen zu hören. Dann wurden die Kammern geöffnet und diejenigen, die noch ein Lebenszeichen von sich gaben, totgeschlagen.«20

So manches an der Rampe selektierte Baby oder Kind erreichte die Gaskammer gar nicht. Deutsche SS-Männer schlugen bereits vorher die Kinder gegen Wände, erschossen sie, warfen sie lebendig ins Feuer. Eines Tages musste Simon Gotland, der jetzt dem »Aufräumkommando« zugeteilt war, beim Ausladen eines Transports aus Belarus helfen: »Die waren zehn oder zwölf Tage unterwegs, und alle waren tot.« Einer der Toten, wahrscheinlich der Vater, habe sein Kind im Arm gehabt. »Und das Mädchen lebte noch.« Es sei etwa sieben Jahre alt gewesen. »Dort im Krematorium war ein Chef des Krematoriums, Unterscharführer Moll. Er hat das Mädchen entzweigerissen.«21

DOV PAISIKOVIC wurde zusammen mit seinen Eltern und sieben Geschwistern im Mai 1944 aus dem von Ungarn annektierten Mukačevo (ungarisch Munkács) in den Karpaten nach Auschwitz-Birkenau transportiert. Nur er und sein Bruder sollten Auschwitz überleben. Der erst Zwanzigjährige kam zusammen mit seinem Vater Isaak ins »Sonderkommando«. Schon in den ersten Tagen wurden sie als »Leichenschlepper« eingesetzt. »Ein Mann pro Leiche«, befahl ihnen ein SS-Mann. Als Dov Paisikovic beim 1. Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main vom vorsitzenden Richter gefragt wurde, wie die Kinder in die Gaskammern gebracht wurden, berichtete er: Wenn der Vergasungsraum schon voll war, habe man die Kinder »über die Köpfe weg geworfen«. Auch seien Kinder »anders« als durch Gas umgebracht worden: »Ein SS-Mann nimmt das Kind der Mutter (weg) und gibt ihm ein ›Zuker‹, ein Bonbon. Und er hat das Kind an den Händen genommen. Und unter den Augen der Mutter hat er es gegen die Wand geklappt [geschlagen].«22

NINA GUSIEWA, Häftlingsnummer 65781, aus dem russischen Smolensk, wurde im Oktober 1943 ins Lager verschleppt.23 Sie schrieb in ihren Aufzeichnungen: »Ich kann mich an eine junge Frau mit einem dreijährigen Kind auf dem Arm erinnern, ein bildhübsches Mädchen mit blondem Kraushaar und einer blauen Schleife. Das Kind hielt eine Puppe mit abstehenden Zöpfen in der Hand. Die Frau wurde ins Lager geführt. Die SS-Leute versuchten, ihr das Mädchen zu entreißen. Die Mutter verteidigte mit weit aufgerissenen, vor Verzweiflung irren Augen ihre Tochter. Zwei Schüsse aus nächster Nähe, und beide fielen auf der Stelle nieder. Dem Täter, SS-Mann Traube, zitterte nicht einmal die Hand.«24

Babyflaschen, Puppen, Schnuller von Kindern wurden in großen Stückzahlen nach der Befreiung in Auschwitz gefunden.

ZDZISŁAW SOLESKI (Häftlingsnummer 96244) aus Krakau beobachtete, wie »SS-Männer den Kindern, die aus Angst, ins Krematorium zu kommen, schrien, die Köpfe an einem Baum zerschmetterten«. Und »wenn die Leichen aus den Waggons mit Lastwagen« weggefahren wurden, »waren zwischen den Toten noch lebende Menschen«: »Denn wenn sie in die Grube mit den brennenden Leichen geschüttet wurden, hörten wir jedes Mal sekundenlang ein entsetzliches Geschrei.«25

Entsetzliches berichtete auch der Wiener HERMANN REINECK (Nummer 63387). Der 23-Jährige war am 24. September 1942 in das Lager »eingeliefert« worden. SS-Mann Emil Hantl, der unter anderem Selektionen vornahm, erzählte ihm eines Tages: »Ja, weißt du, die Kinder bis sechs Jahre, die wurden nicht in die Gaskammern geschickt. Da standen Lastkraftwagen, da wurden diese Kinder aufgeladen. Damit fuhren wir diese Kinder zu diesen Scheiterhaufen. Und da mussten wir diese Kinder, runter von dem LKW und mussten sie auf den Scheiterhaufen werfen. Einer packt bei den Beinen und ein anderer bei den Schultern, und haben einen Schwung gegeben – und rein in den Scheiterhaufen. Und mussten wir diese Kinder lebend da verbrennen. Also vom Neugeborenen angefangen, vom Säugling bis zu sechs Jahren.«26

Sofort ermordet wurden auch jene Kinder und deren Eltern, die vom Polizei-Standgericht der Gestapo aus Katowice abgeurteilt worden waren. Dieses tagte seit Anfang 1943 in Abständen von mehreren Wochen im Block 11 im »Stammlager« Auschwitz I. Hier wurden zeitweise auch die Vernehmungen und Ermittlungen durchgeführt. Abgeurteilt wurden Polen, die sich zum Beispiel gegen die deutsche Besatzung ihres Landes gewehrt hatten. Tausende Neugeborene, Kinder, Frauen und Männer wurden ohne vorherige Registrierung sofort nach ihrer Ankunft im Lager an der »schwarzen Wand«, auch »Todeswand« genannt, im Hof von Block 11 erschossen.27

JAN SZPALERSKI aus Warschau, Lagernummer 119468, der am 29. April 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, musste im »Kommando Zimmerei« Sklavenarbeit leisten. So sah er viele Abschnitte des Riesenlagers mit eigenen Augen.28 Eines Tages, im Sommer 1944, musste er zusammen mit anderen Häftlingen in der Nähe des Krematoriums IV eine Baracke errichten. Als er beim Dachdecken war, beobachtete er, wie Häftlinge des »Sonderkommandos« nackte tote Menschen mit Schmalspur-Loren von der Gaskammer des Krematoriums zu den nahegelegenen Verbrennungsgruben transportieren mussten. Zu diesem Zeitpunkt erwies sich, aufgrund der zahlreichen aus Ungarn kommenden Zwangstransporte, die Kapazität der Auschwitzer Krematorien wegen der höchsten Intensität der Judenausrottung »als zu gering«. Daraufhin wurden »Tausende von Leichen unter freiem Himmel in speziell zu diesem Zweck ausgehobenen Gruben« verbrannt. Dann kamen drei Lastwagen: »Mit lebenden Kindern beladene Kipper, [die] in den Bereich der Gruben einbogen. Die Lastkraftwagen fuhren rückwärts an den Rand der Gruben, hoben die Ladekästen an und schütteten die herbeigeschafften Kinder direkt ins Feuer. […] Einige größere Kinder sprangen von den Wagen und wandten sich, aufs äußerste entsetzt, blindlings zur Flucht. Die Unglücklichen wussten nicht, dass es keine Rettung für sie gab. Die SS-Leute fingen sie mühelos ein oder töteten sie mit Schüssen, um sie lebendig oder tot in die Gruben zu werfen. Damals überzeugte ich mich, dass es die Hölle auf Erden gibt.«29

Leichenverbrennungen ermordeter Juden im Freien in Auschwitz-Birkenau.

KALMAN BAR ON, der zusammen mit seiner Zwillingsschwester Yehudit aus Ilok im damaligen Jugoslawien (heute Kroatien) mit 14 Jahren in die Hände des SS-Arztes Mengele fiel,30 beobachtete, wie Rollstuhlfahrer und Babys lebendig ins Feuer geworfen wurden: »Es gab da einen kleinen Wald, gleich neben dem Krematorium. Dort war eine große Feuerstelle. Wer im Rollstuhl saß und deshalb nicht in die Gaskammer gehen konnte, der wurde dort hineingeschmissen und verbrannte bei lebendigem Leib ebenso wie viele Babys. Zehn Wochen hörte ich das Gebrüll der Verbrennenden, vom Juli bis September [1944].«31

Weil Mitte des Jahres 1944 Gasmangel in Auschwitz-Birkenau herrschte, befahl Höß, der Kommandant des Lagers, weniger Gas in die Gaskammern zu leiten. HERMANN LANGBEIN (Häftlingsnummer 60355) aus Wien, der als »Häftlingsschreiber beim SS-Standortarzt«32 vieles sah und mitbekam, verfasste nach seiner Befreiung mehrere Bücher zum Thema »Auschwitz«. In seiner Publikation »Die Stärkeren« heißt es zum Gasmangel von 1944: »Viele werden nur betäubt, nicht mehr getötet, kommen also noch lebend auf den Loren zu den Öfen der Krematorien und werden so verbrannt. Und noch einen Befehl gibt Höß, um Gas zu sparen: Vor den Krematorien werden im Freien Holzstöße errichtet. In das Feuer werden die Kinder der ungarischen Juden geworfen. Die Kinder deshalb, weil sie das geringste Gewicht haben. Aus jedem Transport werden starke Männer ausgesucht, die müssen die Kinder – also auch ihre eigenen Kinder – lebend in die Flammen werfen. Als letzte werden diese Männer vergast.«33

Бесплатный фрагмент закончился.

860,87 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
348 стр. 97 иллюстраций
ISBN:
9783958299450
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
177