Читать книгу: «Mama, ich höre dich», страница 2

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Nachdem der Zug ungefähr 24 Stunden unterwegs war, fanden die Jungen das alles nicht mehr so komisch. Es regnete aufs Dach. Alle waren müde. Es war eng im Waggon. Und immer, wenn der Zug anhielt, sprangen alle auf und drängten sich zu der kleinen mit Stacheldraht verschlossenen Öffnung, die sich nahe des Waggondaches befand. Irgendjemand stieg auf einen Koffer, blickte hinaus und berichtete, was zu sehen war. Und jeder fragte sich: »Sind wir da?« Die Tür wurde aufgerissen. Robert spürte »frische feuchte Luft«. Ein SS-Mann mit einem Totenkopf auf dem Helm »bellte uns an«: »Alles aussteigen! Das Gepäck bleibt im Wagen!« Sie befanden sich »mitten in der Hölle« von Auschwitz-Birkenau: Robert und sein Vater Josef Büchler kamen in eine der Holzbaracken des ehemaligen »Zigeuner-Familienlagers«. Eineinhalb Monate zuvor waren die dort zu diesem Zeitpunkt noch befindlichen letzten 4.200 bis 4.300 Sinti und Roma vergast worden.5

Eva Umlauf (geborene Hecht) wurde am 19. Dezember 1942 im Lager Nováky geboren.

Agi und Imro Hecht waren am 15. Juli 1942 aus dem slowakischen Trenčín, ihrem Wohnort, zunächst in das Lager Žilina und von dort am 17. Oktober ins Lager Nováky deportiert worden. Es war eine der Zwischenstationen für slowakische jüdische Kinder, Frauen und Männer in die Vernichtungslager – unter anderem nach Auschwitz-Birkenau. Agi Hecht war schwanger. An einem bitterkalten Tag, am 19. Dezember 1942, kam ihre Tochter Eva Hecht auf die Welt. Das fast zweijährige Mädchen und ihre Eltern wurden aus dem Lager Sereď, in das sie in der Zwischenzeit »verlegt« worden waren, am 2. November 1944 nach Auschwitz-Birkenau transportiert. Ohne Selektion, die Vergasungen hatte die SS wahrscheinlich gerade eingestellt, wurden sie in das Lager eingewiesen. Eva sah ihren Vater zum letzten Mal. Es folgte die äußerst schmerzhafte Aufnahmeprozedur mit Tätowierung. »Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder regelmäßig atmete und die normale Gesichtsfarbe zurückgekehrt war, brannte auf meinem Arm die Nummer A-26959.«6

»Der oberste Zweck war Vernichtung«

Im Oktober 1939 wurde die von Nazi-Deutschland okkupierte polnische Stadt Oświęcim unter dem deutschen Namen Auschwitz in das Deutsche Reich »eingegliedert«. Zwischen 19 Uhr abends und sechs Uhr morgens durfte sich niemand mehr draußen aufhalten. Bei Zuwiderhandlung drohte Erschießung. Alle Juden, die älter als zehn Jahre alt waren, mussten am linken Arm eine weiße Binde mit dem Davidstern tragen. Die jüdischen Geschäfte und Fabriken wurden gesperrt, von deutschen Truppen völlig ausgeplündert und kurze Zeit später den jüdischen Besitzern weggenommen. Auch alle Wertgegenstände aus Synagogen und jüdischen Haushalten wurden beschlagnahmt. Juden durften ihre Berufe nicht mehr ausüben. Stattdessen mussten sie Zwangsarbeit leisten. Eine der Folgen war die völlige Verarmung der jüdischen Bevölkerung von Oświęcim innerhalb kurzer Zeit.1

Schon lange bildeten Juden die Mehrheit der Bevölkerung von Oświęcim. 1939 lebten zwischen 7.000 und 8.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer in der Stadt, was einem Bevölkerungsanteil von gut 58 beziehungsweise 66 Prozent entsprach.2 – Juden waren seit fast 500 Jahren in Oshpitzin ansässig, wie Oświeçim auf Jiddisch heißt. Zahlreiche Synagogen und Gebetshäuser waren in dieser Zeit entstanden. Die Große Synagoge wurde bereits Ende des 16. Jahrhunderts gebaut. Infolge eines großen Stadtbrandes wurde sie 1863 zerstört, jedoch schon bald noch prächtiger wieder aufgebaut. Mindestens 1.000 Gläubige fanden darin Platz.3 – Deutsche Besatzer brannten die Große Synagoge in der Nacht vom 29. auf den 30. November 1939 nieder. Die den jüdischen Friedhof umgebende Mauer ließen sie abtragen und bauten auf dem Friedhof einen Bunker und einen Luftschutzraum. Einen Teil der Grabsteine schafften die Nazis zum Fluss Soła, damit sie mit ihren Pferden zum Tränken einfacher zum Wasser gelangen konnten. Andere Grabsteine wurden für den Straßenbau verwendet.4

Im April 1940 fiel die Entscheidung der NS-Behörden, am Rande der Stadt, rund zwei Kilometer von der Altstadt entfernt, ein Konzentrationslager für zunächst 10.000 Häftlinge zu installieren. Von Auschwitz aus sollten die dorthin verschleppten Polen auf die bereits bestehenden Konzentrationslager im »Reichsinneren« verteilt werden.5 Auf dem Gelände des zukünftigen Lagers standen bereits sowohl gemauerte Gebäude als auch Holzbaracken, die zuvor unter anderem von der polnischen Armee genutzt worden waren.6

Für die Säuberung des Areals und erste Reparaturen setzten die deutschen Besatzer zunächst rund zwanzig in der Nähe wohnende polnische Arbeiter, insbesondere aber 300 Juden aus der Stadt ein. In der zweiten Maihälfte des Jahres 1940 wurden dreißig als kriminell kategorisierte Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen nach Auschwitz gebracht. Sie erhielten die Nummern 1 bis 30 und sollten in den Arbeitskommandos der Häftlinge als verlängerter Arm der SS fungieren. Einige Tage später trafen weitere 39 von einem deutschen Kapo geführte polnische Entrechtete aus dem Konzentrationslager Dachau in Auschwitz ein. Es handelte sich zumeist um junge Männer, Gymnasiasten, die ursprünglich aus Łódź stammten. Zur Einzäunung des Lagers hatte das »Kommando« einen Waggon Stacheldraht mitgebracht. Auschwitz I, das »Stammlager«, entstand.7

Am 14. Juni 1940 traf der erste große Transport in Auschwitz ein. 728 Polen, politische Häftlinge aus dem Gefängnis in Tarnów, wurden eingeliefert, darunter viele junge Männer.8 Einer von ihnen war KAZIMIERZ ALBIN, Gymnasiast aus Krakau, 17 Jahre. Er wurde Häftling Nummer 118. Bei dem Versuch, über die Grenze in die Slowakei zu kommen, um sich in Ungarn beziehungsweise in Frankreich der sich neu formierenden polnischen Armee anzuschließen, war er von der SS festgenommen worden. Es folgten Verhöre, Schläge und blutige Folter. Viele der Häftlinge waren Studenten und Oberschüler. Sie hatten sich wie Kazimierz Albin dem polnischen Widerstand gegen die deutschen Okkupanten angeschlossen.9

Mit unheimlichem Gebrüll und Schlägen wurden sie in Auschwitz »empfangen«. Zum Beispiel SS-»Hauptsturmführer« Fritsch ließ keinen Zweifel daran, was der eigentliche Zweck des Konzentrationslagers Auschwitz war: »Junge und Gesunde haben hier nicht länger als drei Monate zu leben, Priester einen Monat, Juden zwei Wochen. Der Weg aus dem Lager führt nur über den Schornstein des Krematoriums.«10 – Nach dem Transport von Mitte Juni 1940, in dem sich Kazimierz Albin befand, folgten in den nächsten Wochen weitere Verschleppungsaktionen aus den südlichen Gebieten Polens nach Auschwitz. Weitere große Transporte mit 1.666 beziehungsweise 1.705 Entrechteten trafen am 15. August und 22. September aus Warschau in Auschwitz ein.11

Jerzy Adam Brandhuber: »Eine Schüssel Suppe.« In Auschwitz »wusste man am Morgen nicht, ob man am Abend noch leben, und abends wusste man nicht, ob man noch den nächsten Morgen erleben würde.«

Bevor Auschwitz zu der Mordstätte der europäischen Juden durch Deutsche wurde, war es ein Konzentrationslager vor allem für Polen.12 Bei den zunächst hier festgesetzten Menschen handelte es sich oft um Angehörige der Eliten der polnischen Gesellschaft: um Anwälte, Ärzte, Künstler wie Bronisław Czech, Xawery Dunikowski oder Mieczysław Kościelniak, Lehrer, Offiziere, Pfadfinder, Politiker, Wissenschaftler …13 – Menschen also, die in der Lage waren, Widerstand gegen die deutschen Okkupanten zu organisieren.

Die Lebensbedingungen für die Häftlinge waren bereits in der Frühphase des Lagers so angelegt, dass keiner der Verschleppten Auschwitz lebend wieder verlassen konnte. Der polnische Historiker und langjährige Mitarbeiter der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Franciszek Piper, fasst seine jahrzehntelangen Forschungsergebnisse mit den Worten zusammen: »Der oberste Zweck und das primäre Ziel des Konzentrationslagers Auschwitz von seiner Errichtung im Frühjahr 1940 bis zum letzten Tag seines Bestehens im Januar 1945 war Vernichtung. Alle anderen Aufgaben und Ziele, wie etwa die Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge, der Raub der Habe der Opfer, die Nutzung der Leichen oder die Durchführung von medizinischen Experimenten, waren demgegenüber von sekundärer Bedeutung.«14

Im Verlauf des Jahres 1941 beschlossen die Nazis, Auschwitz I für 30.000 Menschen zu erweitern. Außerdem sollte rund drei Kilometer vom »Stammlager« entfernt auf dem Gebiet des Dorfes Brzezinka, jetzt Birkenau genannt, Auschwitz II, ein Lager für 100.000 Menschen entstehen. Spätere Planungen sahen für Auschwitz-Birkenau einen Ausbau für 200.000 Menschen vor.15 Die Errichtung von Auschwitz I hatte zur Folge, dass die in der Umgebung lebende polnische Bevölkerung, darunter viele Juden, »ausgesiedelt« wurde. Dieser Prozess fand mit der Errichtung von Auschwitz-Birkenau seine gewaltsame Fortsetzung: Mehrere Dörfer wurden komplett entvölkert.16

JOSEF JAKUBOWICZ, 13-jähriger Spross einer ortsansässigen jüdischen Familie, wurde zwangsverpflichtet. Er musste beim Abriss des eigenen Dorfes helfen, in dem seine Familie ein Haus besaß. In Brzezinka hatten zuvor rund 1.500 Einwohner gelebt. Der Ort bestand aus Bauernhöfen und der Schule. Vor der Aussiedlung war es »üblich, dass die jüdischen Kinder neben der regulären Schule auch noch die jüdische Schule besuchten. Vormittags hatten wir normalen Unterricht und nachmittags von drei bis sieben Uhr hebräische Schule, also Religion und hebräische Sprache. […] In Auschwitz gab es auch ein jüdisches Gymnasium, eine Privatschule. Sie umfasste vier Klassen, man konnte sie bis zum Lyzeum besuchen. Die Oberstufe musste man dann in Kattowitz oder Krakau ablegen, wo man das Abitur machen konnte.«17

Holzbaracke vom Typ »Pferdestall« in Auschwitz-Birkenau. Diese war ursprünglich für 52 Pferde konzipiert worden. Bis zu 1.000 Kinder, Frauen und Männer, manchmal auch mehr, mussten darin hausen.

Anfang April 1941 wurden über 5.000 Juden von Oświęcim zwangsweise in Transporte gesteckt, die sie nach Sosnowiec, Będzin und Chrzanów brachten. Hier mussten sie in Ghettos hausen. Von dort wurden im Verlaufe vor allem der Jahre 1943 und 1944 die bis dahin noch am Leben gebliebenen Juden unter anderem in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Sehr wenige der ehemaligen jüdischen Einwohner der Stadt sollten die Shoah überleben. Die Eltern von Josef Jakubowicz, ein Großvater, seine drei Schwestern – zwei von ihnen verheiratet –, deren Männer und Kinder wurden alle ermordet. Nur Josef Jakubowicz wurde im April 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit.18

Auch waren katholische Polen von der Deportation bedroht. Die Einwohnerzahl der Stadt halbierte sich infolge der Verschleppungen im Frühjahr 1941 auf ungefähr 7.600 Einwohner. Davon waren etwa neunzig Prozent Polen sowie zehn Prozent Deutsche und »Deutschstämmige«. Bis Oktober 1943 sollten mehr als 6.000 »Reichsdeutsche« ihren Wohnsitz nach Auschwitz verlegen. Durch Industrialisierung einhergehend mit »Germanisierung« sollte die Bevölkerung im »Idealplan« vom Januar 1943 gar auf 70.000 bis 80.000 Menschen anwachsen. Das entvölkerte und beschlagnahmte Gebiet umfasste eine Fläche von vierzig Quadratkilometern. Das »Interessengebiet« wurde zum »Sperrgebiet« erklärt.19

Ungefähr 10.000 sowjetische, als »Kriegsgefangene« deklarierte Jugendliche und Männer sollten das Lager Birkenau bauen. Ab Juli 1941 wurden sie nach Auschwitz deportiert und im »Stammlager« ab Oktober in einem abgetrennten Areal untergebracht. Unter diesen Gefangenen befanden sich 18 Jugendliche im Alter von 16, 17 und 18 Jahren sowie ein 15-jähriger Junge und zwei im Alter von elf Jahren. Die sowjetischen »Kriegsgefangenen« wurden fast alle ermordet. Am 1. März 1942 waren nur noch 945 von ihnen am Leben. Insgesamt kamen bis Ende Januar 1942 infolge von Erschießungen, Hunger, Erhängen, unmenschlich schwerer Arbeit, Krankheiten, Prügel, Erfrierungen und »Probevergasungen« mit dem Giftgas Zyklon B in Block 11 (zu diesem Zeitpunkt Block 13) und im Krematorium I des »Stammlagers« insgesamt 20.500 im Konzentrationslager Auschwitz registrierte Menschen ums Leben.20

Auschwitz-Birkenau wurde zu dem Ort der zentralen Vernichtung der europäischen Juden durch Deutsche. Jüdische Kinder und ihre Familien wurden hierher seit den ersten Monaten des Jahres 1942 aus einem einzigen Grund verschleppt: Sie waren Juden. Schon in den ersten Transporten nach Auschwitz befanden sich Kinder, vor allem in den Transporten aus der Slowakei. 656 jüdische Jugendliche und Kinder wurden allein im Zeitraum vom 17. April bis 17. Juli 1942 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Und in den weiteren Transporten aus der Slowakei waren viele Mädchen und junge Frauen. So trafen am 25. März 999 Jüdinnen aus Poprad im Lager ein: 116 im Alter von 16 und 17 und ein Mädchen im Alter von 14 Jahren.21

Die Massenvergasungen mit Giftgas begannen im Frühjahr 1942 – in Auschwitz-Birkenau zunächst in zwei umgebauten Bauernhäusern mit Gaskammern: Bunker 1 (wegen der Ziegelsteinwände von den Entrechteten das »Rote Häuschen« genannt) und Bunker 2 (der wegen der verputzten Außenwände das »Weiße Häuschen« hieß). – Jüdische Häftlinge, das »Sonderkommando«, mussten zunächst die Leichen in Massengräbern verscharren, später diese wieder ausgraben und sie auf Holzstößen beziehungsweise in dafür ausgehobenen Gruben verbrennen. Dabei wurde das Leichenfett aufgefangen und zur Entfachung des Feuers verwendet. Mehr als 100.000 Leichen wurden von September bis Ende November 1942 ausgegraben. Die Asche der verbrannten Menschen wurde abgefahren und in die Weichsel und Soła gekippt. Die Spuren der Massenvernichtung sollten verwischt werden.22

Yehuda Bacon: »Muselmann«. So wurden die halb verhungerten Menschen im Lager genannt. Sie waren dem Tod näher als dem Leben.

Schließlich nahmen zwischen März und Juni 1943 vier weitere für den Massenmord errichtete Krematorien mit den darin befindlichen Gaskammern den »Betrieb« auf. Die Öfen hatte die Firma Topf und Söhne aus Erfurt eingebaut. In den insgesamt fünf Krematorien konnten jetzt innerhalb von 24 Stunden 4.756 Leichen verbrannt werden. Aussagen von Häftlingen des »Sonderkommandos« zufolge konnte die »Verbrennungsleistung« der Krematorien jedoch auf etwa 8.000 Leichen pro Tag »gesteigert« werden.23

Ab 1942 endeten die Transporte der zur Massentötung vorgesehenen Menschen auf einem Gleis beim Güterbahnhof, etwa zwei Kilometer von Auschwitz-Birkenau entfernt. Ab Mai 1944 führte ein Gleis direkt in das Lager und brachte die verschleppten Menschen bis in die Nähe der Krematorien II und III.24 Hier nahmen vor allem SS-Ärzte die Selektionen vor. Sie alle dienten »nahezu ausschließlich der Ausrottung der Häftlinge«. Aber auch Apotheker, Sanitäter und Zahnärzte nahmen Selektionen vor.25 Die nach ihrer Meinung zur »Arbeit Tauglichen« und deshalb vorläufig am Leben gelassenen wurden von den Alten und Invaliden, von Schwangeren und Kindern getrennt. Nach willkürlichem Ermessen stufte man etwa achtzig Prozent der Menschen, aber auch nach wie vor ganze Transporte als »arbeitsunfähig« ein. Unter Bewachung wurden die Menschen zu Fuß oder auf Lastwagen von der SS zu einem der Krematorien gebracht, wo sie sich ausziehen mussten. Unter dem Vorwand, geduscht zu werden, brachte man sie in als Duschräume getarnte Gaskammern, wo die Eingeschlossenen durch das eingeworfene Giftgas Zyklon B einen ungefähr zehn bis zwanzig Minuten dauernden qualvollen Erstickungstod erleiden mussten. Ihre Leichen mussten vom »Sonderkommando« in den Krematorien und in ausgehobenen Erdgruben verbrannt werden.26

Das Furchtbarste vom Furchtbaren, die Arbeit in den Krematorien mit den Vergasungsanlagen sowie an den Scheiterhaufen und Verbrennungsgruben, mussten die Männer des »Sonderkommandos« unter Zwang der SS »ausführen«. Dabei handelte es sich um Juden, die von den anderen Häftlingen in Auschwitz-Birkenau streng isoliert untergebracht waren. Die SS zwang die Männer des »Sonderkommandos« unter Todesandrohung, den toten Frauen die Haare abzuschneiden, den Vergasten die Goldzähne herausbrechen und die Leichen nach möglicherweise versteckten Wertsachen zu durchsuchen. Danach mussten sie die Ermordeten zu den Verbrennungsöfen schleppen und in die Öfen schieben und schließlich, immer den eigenen Tod vor Augen, die nicht vollständig verbrannten Knochen zertrümmern, die Asche abfahren und in die Flüsse Soła und Weichsel kippen – immer unter von der SS ausgeübter psychischer und körperlicher Gewalt.27

See in Auschwitz-Birkenau, vollgeschüttet mit der Asche von unzähligen getöteten Neugeborenen, Kindern, Frauen und Männern.

»Wir [vom Sonderkommando] waren die einzigen«, so JAACOV GABAI (Häftlingsnummer 182569), »die die Tragödie der Juden mit eigenen Augen sahen.«28 Als Zeugen der Massenvernichtung und »Geheimnisträger« wurden Männer des »Sonderkommandos« regelmäßig ermordet und durch andere Häftlinge ersetzt.29 So blieben von den ungefähr 2.000 jüdischen Männern des »Sonderkommandos« lediglich etwa 110 am Leben.30

Auch der erst 14-jährige Yehuda Bacon aus dem tschechischen Ostrava sah das Innere der Krematorien mit eigenen Augen. Er war in Auschwitz-Birkenau dem »Rollwagen-Kommando« zugeordnet. Anstatt Pferde zogen Kinder und Jugendliche die Wagen. Sie mussten Decken, Wäsche, Holz und auch Asche der verbrannten Kinder, Frauen und Männer transportieren. Sie kamen im Lager herum.

Eines Tages sollten sie von den Krematorien Holz zum Heizen in das »Männerlager« holen. Es war Winter, und einer der Häftlinge vom »Sonderkommando« für die Krematorien sagte zu ihnen: »Jungs, weil ihr so schnell aufgeladen habt, könnt ihr euch ein bisschen wärmen, geht in die Gaskammer. Jetzt ist niemand da.« Einige der Kinder gingen in die Gaskammer im Krematorium II. Der Junge fragte die Häftlinge vom »Sonderkommando«, was »in den Krematorien vor sich [geht]?«: »Erzählen Sie es mir doch! Vielleicht komme ich einmal heraus, und dann werde ich über euch schreiben.« Die Entrechteten des »Sonderkommandos« lachten und sagten: »Niemand von uns kommt hier heraus«, zeigten ihm und den anderen Kindern und Jugendlichen aber trotzdem »den Ort der Vernichtung«.

Mit der Neugier von Kindern sahen sie sich alles ganz genau an. Yehuda Bacon: »Wir gingen in die Entkleidungskammer, und dort waren Haken mit Nummern.« – Der Junge fragte: »Was geschieht in dieser Kammer?« – Die vom »Sonderkommando« erklärten: »›Da müssen sich die Leute entkleiden.‹ Und einer der SS-Männer sagt zu den für die Vergasung bestimmten Menschen: ›Schneller, die Suppe wird kalt. Die wartet schon auf euch.‹« – Yehuda Bacon: »Die Menschen waren doch sehr hungrig nach der oft tagelangen Fahrt.« – »Dann«, so die vom »Sonderkommando«, »fährt der SS-Mann fort: ›Merkt euch genau die Nummer und bindet schön die Schuhe zusammen, dass ihr nach der Dusche eure Sachen wiederfindet.‹« – Und »als sie entkleidet waren«, so Yehuda Bacon, »wurden sie weitergejagt in die Gaskammern«. – Später gingen sie noch auf das Dach des Krematoriums und »sahen dort einen Deckel«. – »Den hebt der SS-Mann an«, erklärten die Häftlinge des »Sonderkommandos« den Kindern und Jugendlichen, »und der SS-Mann schüttete rein das Giftgas Zyklon-B«. – Mit dem Rollwagen-Kommando« war Yehuda öfters im Krematorium Nummer III. »Wir mussten auch die Asche der Ermordeten und Verbrannten aufladen und mitnehmen. Die haben wir damals auf die vereisten Wege im Frauenlager gestreut.«


Auschwitz-Birkenau Ende Januar 1945. Aus dem Lager konnten lediglich 521 Kinder, die 14 Jahre und jünger waren, befreit werden. Darunter waren auch Neugeborene und kleine Kinder.

An der Rampe mussten sowohl die ins Lager eingelieferten als auch die zur Ermordung vorgesehenen Menschen ihre Koffer zurücklassen. In großen Magazinen, die sich insbesondere in einem Barackenkomplex in der Nähe des »Stammlagers« befanden, sowie in dreißig Baracken in Auschwitz-Birkenau, ließ die SS das geraubte Hab und Gut sortieren und aufbewahren. Von den Entrechteten wurden diese Magazine »Kanada« genannt, weil sie die gewaltige Masse der geraubten Güter als »Symbol des Reichtums« mit dem Land Kanada verbanden. Die SS bezeichnete diese Magazine als »Effektenkammern« oder »Effektenlager«. In der Regel hatten mehrere hundert Häftlinge diese Sklavenarbeit zu verrichten. Während die Anzahl der Transporte, vor allem mit Kindern, Frauen und Männern aus Ungarn, in den Monaten Mai bis Juni 1944 zunahm, bestand das »Kanada-Kommando« aus bis zu 2.000 Frauen und Männern.31

Der Besitz der Ermordeten wurde an verschiedene Dienststellen der SS, der Wehrmacht wie auch an die deutsche Bevölkerung verteilt. Wertgegenstände, dazu zählten auch die den Ermordeten ausgebrochenen Goldzähne, wurden an die Deutsche Reichsbank weitergeleitet. Die abgeschnittenen Haare aus elf anderen Konzentrationslagern verkaufte die SS zum Preis von fünfzig Reichspfennigen pro Kilo zum Beispiel an eine Filzfabrik; aus ihnen wurden unter anderem Garn oder Haarfilzstrümpfe hergestellt. Bis Februar 1943 waren aus den Vernichtungslagern Auschwitz und Majdanek schon 824 Eisenbahnwaggons mit geraubten Textilien und Ledererzeugnissen verschickt worden.32 Und im Zeitraum vom 1. Dezember 1944 bis zum 15. Januar 1945 wurden 99.922 Stücke Kinder-, 192.652 Frauen- und 222.269 Männerbekleidung nach Nazi-Deutschland versandt.33

Die in Auschwitz-Birkenau vorläufig am Leben gelassenen Menschen wurden von der Rampe überstellt in eine der sogenannten Saunas, die sich in mehreren Lagerabschnitten befanden, oder in die »Zentrale Sauna«, die im Nazijargon »Entwesungs- und Desinfektionsanlage« hieß. Diese befand sich in unmittelbarer Nähe der Massenvernichtungsanlagen im Bunker II sowie der Krematorien IV und V.34 – In den »Saunas« wurden die Menschen gezwungen, sich auszuziehen. Falls bei größeren Transporten der Platz nicht ausreichte, mussten sie sich draußen ihrer Kleidung entledigen, auch bei tiefen Minusgraden. Noch möglicherweise am Körper getragene Wertsachen und Geld wurden ihnen abgenommen. Alle Haare, auch die Schamhaare, wurden entfernt, oft mit stumpfen Scheren, was zu sehr schmerzhaften Verletzungen führte. Danach wurden sie mit zu kaltem oder zu heißem Wasser geduscht. Anschließend bekamen sie neue Bekleidung zugeteilt, die oft verschmutzt, verlaust, zu groß oder zu klein war. Schließlich bekamen die Verschleppten eine Nummer, meist in den linken Unterarm, eintätowiert.35 Diese Nummer ersetzte fortan den Namen. Für die »Herrenmenschen« waren sie keine Menschen mehr. Wurden sie von einem SS-Mann gerufen, mussten sie antreten, sechs Schritte vor ihm strammstehen und sich zum Beispiel wie folgt melden: »Häftling 20034 meldet sich gehorsam zur Stelle.«36

Die »Entwesung« und »Desinfektion« der vorläufig am Leben gelassenen geschah in großer Eile. Befehle und Kanonaden von Beschimpfungen auf Deutsch prasselten auf die Häftlinge ein, die oft nichts verstehen konnten. Dabei wurden sie von der SS und den sogenannten Funktionshäftlingen geschlagen.37 Manchmal wurden in den »Saunas« erneute Selektionen durchgeführt und auch Schwangere, die bisher unentdeckt geblieben waren, in die Gaskammern geschickt.38

Für Heinz Kounio, Vater Salvator, Mutter Hella und Schwester Erika schlossen sich am 12. März 1943 die Waggontüren in Thessaloniki. »Nach vielen rauen Tagen erreichten wir Auschwitz-Birkenau am 20. März.«

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22 декабря 2023
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9783958299450
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