Читать книгу: «Bonjour, Frankreich!», страница 3

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Franka spürte die Abgespanntheit nicht mehr.

Drüben, wo man auf die Stadt Cerbrère hinunter blicken kann, sah sie ein Mauerstück mit einer Inschrift. Sie lief hin und übersetzte: Das Denkmal ist all den Menschen gewidmet, die an dieser Stelle auf der Flucht vor dem Hitlerfaschismus ihr Leben retten konnten.

»Ihr Leben retten konnten …«, wiederholte Rolle, »Walter Benjamin nicht.«

Während der Auffahrt hierher waren ihre Blicke dem Verlauf von Bahngleisen gefolgt.

»Hätte Walter Benjamin nicht hier den Zug verlassen müssen, wäre er bestimmt bis Lissabon gekommen. Dort erwarteten ihn Freunde mit dem Einreisevisum ins sichere Exil Amerika.«

»Er ist ausgestiegen und hat den lebensgefährlichen Gebirgsweg riskiert, heißt es.«

»Ja, vielleicht war es so. Er war herzkrank, habe ich gelesen, er war vielleicht zu schwach für den mühsamen Fußmarsch.«

»Vielleicht war auch alles ganz anders.«

»Ja, das denke ich auch. Ausgerechnet ende September sollen hier doch Kontrolleure gestanden haben, wer weiß warum.«

Rolle und Franka versuchten, sich die Situation vorzustellen. Dass in diesem unwegsamen Gelände Menschen zu Fuß vorwärts gekommen sind, erschien ihnen unmöglich. Sie wussten, dass Walter Benjamin bereits tagelange Belastungen hinter sich hatte, die einem Gesunden schon zugesetzt haben mussten, geschweige denn einem Herzkranken. Sie waren mit dem Auto die kurvenreiche Asphaltstraße hochgefahren, schon das kam ihnen gefährlich vor.

»Ob es diese Straße 1940 überhaupt gab?« Franka sinnierte immer noch.

»Da unten im Tal liegt malerisch Portbou, wollen wir weiter?«

Es war Rolle, der nie die Übersicht verlor. Irgendwo außerhalb des Ortes musste der kleine Friedhof sein.

»Fahr schön langsam diese Serpen-tinen hinunter, Rolle. Nicht etwa, weil ich Angst habe. Nein, ich will dieses Bild ganz in mich aufnehmen.«

Rolle schmunzelte. Er kannte die romantische Ader seines Weibes. Aber auch ihre Ängstlichkeit.


Nach einigem Suchen im Ort und als Rolle endlich die Straßen emporfuhr, die sein aufgeregtes Weib empfahl, fanden sie den Friedhof. Auf dem Vorplatz saß eine junge Mutter und stillte ihr Baby. Rolle ignorierte das, ging heran und schaute neugierig in den dunklen Eisenschacht. Er hatte die Stufen hinunter zum Meer entdeckt, aber offensichtlich auch die Mutter gestört. Die stand auf und ging mit dem Baby zu dem Mann, der mit einem größeren Kind auf dem anderen Ende der weißen Mauer sitzend gewartet hatte.

Schade. Franka hätte das friedliche Bild gern noch eine Weile genossen. Sie fühlte, gerade an diesem einzigartigen Ort trug diese Situation Symbolcharakter für den Zusammenhang von Schmerz im Tod und Trost durch neues Leben. Jetzt nicht philosophieren. Rolle hatte ihr den Weg frei gemacht. Sie mussten auf rostbraunen Stufen hinunter. Bereits hier begann die Beklemmung, es wurde immer finsterer in dem geschlossenen Korridor im Fels, der plötzlich beim Absteigen den Blick in den Himmel freigab. Noch einige Stufen in die Tiefe zum Meeresspiegel und sie standen vor einer Glaswand. Nicht Trübheit des Materials, eingeritztes Zitat von Walter Benjamin:

»Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren, als das der Berühmten.«

Durch die gewiss starke Scheibe zeichneten sich Sprünge ab. Hat das jemand mutwillig zerstört oder arbeitete der Fels? Die Deutschen entdeckten Laub und Abfälle und meinten, dass hier mal jemand sauber machen könnte. Willkommen in der Wirklichkeit. Die Stufen endeten hier. Franka schaute eine Weile durch das schützende Hindernis nach unten auf den weiß schäumenden Strudel unten im Meer, der sie hinabzuziehen drohte. Lockte dort unten die Freiheit oder drohte der Tod?

Der Aufstieg war erlösend und endete auf dem kahlen Vorplatz. Links führte ein Bogen-Durchgang durch eine weißgetünchte Mauer in den Friedhof hinein. Daneben erblickten die Sucher ein Schild, das auf das Grab des deutschen Philosophen Walter Benjamin verwies. Das wollten Franka und Rolle finden. Innerhalb der Abgrenzung liefen sie direkt auf eine Menschenansammlung zu und konnten beobachten, wie gerade eine Grabnische zugemauert wurde. Alte und Junge, sogar Kinder verfolgten das Geschehen, scheinbar beiläufig. Sie plauderten miteinander, von Trauer keine Spur. Überraschend undeutsches Verhalten, empfanden die Fremden. Also benahmen sie sich auch ganz unverkrampft und guckten herum. Einer der Friedhofsarbeiter wunderte sich wahrscheinlich, dass zwei Ausländer aufgeregt diskutierend auf dem Hang umherstrichen. Er sprach sie an, auf Spanisch natürlich. Franka erahnte, dass er nach dem Grund ihres Hierseins gefragt hatte und sagte nur: »Walter Benjamin«.

»Der ist tot«, deutete sie die Antwort.

Na klar, deshalb waren sie ja auf dem Friedhof, aber wo ist die Mauernische 536?

Der Mann wies in die Richtung der Anlage, wo Rolle bereits kundschaftete.

Franka war erleichtert, als der Spanier plötzlich Französisch sprach, sonst wäre die Unterhaltung beendet gewesen. Sie malte die Ziffern 536 mit dem Zeigefinger auf die Steinplatten. Der Spanier verstand und führte sie in eine Ecke, in der leere Nischen mit der Friedhofsmauer einen rechten Winkel bildeten. Die Nummer war gut erkennbar, aber es stand ein anderer Name dabei. Vielleicht hatte Franka die Zahlen vertauscht, so aufgeregt wie sie war? Rolle hatte schon die 563 entdeckt, sie war ebenfalls belegt, mit frischen Blumen geschmückt. Ob die Wandgruften wieder verwendet werden wegen des Platzmangels? Nicht weiter nachdenken.

Der Spanier ließ nicht locker und fragte die Ausländer: »Was suchen Sie?«

Franka radebrechte, dass Walter Benjamin zunächst in dieser Mauernische bestattet gewesen sein soll.

»Woher wissen Sie das?«, fragte er.

»Aus einem deutschen Buch«, sagte Franka. Kopfschütteln. Von einer Umbettung war dem Einheimischen nichts bekannt. Gewiss hatte sich Franka nicht verständlich genug ausgedrückt. Egal. Sie war endlich hier und wollte an diesem Platz ungestört sein. Rolle erkannte das und sah sich geduldig um. Als er am Hang etwas entdeckt hatte, rief er seine Frau herbei. Franka fand sich im Mittelgang eines terrassenförmig ansteigenden Geländes. Auf den einzelnen Ebenen waren jeweils mehrere Ruhestätten. Aber ein Plateau fiel aus dem Rahmen. Es enthielt nur ein einziges Grab. Ein schmaler Weg aus Kies und Steinplatten führte hin zu einem unbearbeiteten Gedenkstein mit der Aufschrift: Walter Benjamin. Auffallend viel Platz für das gedrängt wirkende von Mauern eingefasste Gebiet. Franka und Rolle fühlten Dank für die Menschen, die in Spanien dem deutschen Juden trotz der Enge auf dem Fels einen blühenden Garten gewidmet haben.

Zeit verging, bis Franka und ihr Mann auf der obersten Ebene einen Ausgang fanden. Sie setzten sich ins Gras. »Du bist so nachdenklich«. Rolle brach als Erster das Schweigen.

»Ich möchte wissen, welche Nischennummer die Richtige ist«, grübelte Franka immer noch.

Handyfreunde waren sie nicht, aber jetzt freuten sie sich, dass so ein Wunderding im Rucksack war. Sie riefen bei Lindstedts in Chemnitz an und baten, in der Anthologie nachzusehen. Ihr eigenes Exemplar lag vergessen im Hotelzimmer. Beim Rückruf erfuhr Franka endlich, dass in dem Bildband die 563 genannt ist. Auf einmal interessierte sie das nicht mehr. Fotografiert hatten sie alles und wozu sollte die Nummer wichtig sein? Franka war viel zu bewegt, um logisch zu denken. Alles war so, wie sie es sich ausgemalt hatte; als wäre sie schon einmal hier gewesen. Zum Verrücktwerden war das.

Da war der tröstende Olivenbaum an der weißen Mauer, bereits ausladender als auf dem Foto im Buch. Dort der Schotterweg außerhalb der Abgrenzung, hier die drei Eisenstufen ohne Anfang und ohne Ende, da oben die Eisenplatte mit dem rostigen Quader.

Franka glaubte zu träumen und wollte ihrer Mutter mitteilen, dass sie gerade ein Wunder erlebte. Sie kam nicht dazu. Wie von einem anderen Stern drang die Frage aus dem Telefon: »Soll der Nachbar den Rasen mähen?«

»Rasen mähen, das hat Rolle doch vor einer Woche gemacht. Ist das Gras seit der Abreise so gewachsen?«

In Spanien war der Rasen verbrannt.

Franka und Rolle sortierten die Gedanken: So ein idyllischer Ort. Es sieht aus, als ob die Pyrenäen ihre Füße im Meer baden. Hier saß Walter Benjamin in der Falle und musste fürchten, jeden Augenblick gefasst und nach Hitlerdeutschland ausgeliefert zu werden. Hielt er dem Druck nicht stand und brachte sich um? Ja, auch Selbstmord war als Möglichkeit genannt. Oder wurde der Jude ermordet? Oder haben die sieben Jahre im französischen Exil und die Herzkrankheit seinen Körper so geschwächt, dass er im Alter von 48 Jahren eines natürlichen Todes gestorben ist?

Diese Fragen beschäftigen Experten in Deutschland, Spanien, Frankreich und Israel. Alle Zeitzeugen sind inzwischen verstorben. Auch die deutsche Jüdin und Antifaschistin Lisa Fittko, die gemeinsam mit ihrem Mann viele von der Auslieferung an die Gestapo bedrohte Personen durch das gefährliche Gelände in die Freiheit geführt hatte. Sie starb 2005 im Alter von 95 Jahren in Chicago. Hat man sie je nach Walter Benjamin befragt?

Dass ein katalanischer Künstler, ebenfalls Jude, ein Denkmal gesetzt hat, Geschehenes nachempfinden lässt und in mahnender Erinnerung hält, dieser Gedanke tat den beiden Weltenbummlern gut. Wenn die Erinnerung auch quälend ist – beruhigend ist die Kenntnis, dass die deutsche Regierung mit Geldgaben daran beteiligt ist.

Mit diesen gemischten Gefühlen und Gedanken fuhren die Sachsen vom Friedhof hinunter in das spanische Küstenstädtchen Portbou. Erst jetzt entdeckten sie im Ort ein grünes Hinweisschild vom Baum verdeckt vor einer Hauswand, das auf die Gedenkstätte aufmerksam machte. Hätten sie das zuvor entdeckt, hätten sie die nervige Sucherei nicht nötig gehabt.

Es wurde Abend. Ein Getränkeladen hatte noch geöffnet und die Reisenden kauften ein.

Sie bezahlten 49,80 € mit Master-Card. Preiswert oder nicht? Hauptsache fremdländisch.

Während der Rückfahrt konzentrierten sich Franka und Rolle auf den interessanten Anblick der haffähnlichen Bassins am Meeressaum, die der Auster- und Muschelzucht dienten.

Abendbrot auf dem Balkon über dem Hotelrestaurant mit traumhaftem Blick aufs Meer. Wellenrauschen und aus einem Radio von irgendwoher Chorgesang; spanisch klingende Orchestermusik aus der Oper La Traviata. Sehr friedvoll, sogar beseelt. Welch ein Kontrastprogramm zu den aufwühlenden Empfindungen auf dem Friedhof.

Die Austrittfläche aus dem Zimmer war gerade so breit, dass ein Plastikstuhl seitlich zwischen Mauer und Gitter passte. Unten auf der Straße und auf dem steinigen Strand in der Bucht ging lau und still der Tag zu Ende. Die beiden Sachsen nahmen schweigend diese Stimmung auf, ließen sich den Rotwein schmecken und die Gedanken spazieren gehen.

Dann hatten sie Lust, im schlafenden Ort zu bummeln, sich ans Meer zu setzen. Sie begegneten ein paar Jugendlichen, die das Autoradio wummern ließen. Ganz erstaunt waren sie, weil sie das Gefühl hatten, dass das die allgemeine Ruhe nicht stören konnte.

Wieder im Hotel, beobachteten die Beiden, wie der Ober den Hoteleingang verschloss und zwischen Restaurant und Treppenaufgang ein Scherengitter schob. Er brachte den letzten Gästen ein Glas Rotwein. Danach verschwand er ganz gemächlich schlendernd in der Dunkelheit. Ein paar Motorräder brummten die Küstenstraße entlang und erschreckten streunende Hunde. Am Himmel leuchtete ein einziger Stern.

Strafbare Handlung mit Frühstück

Frankas letzte Gedanken vor dem Einschlafen galten dem Einchecken am Nachmittag und ihrer Nachforschung, ob das Frühstück im Zimmerpreis enthalten sei.

»Nein«, hatte Anna, eine deutschsprechende Frau an der Rezeption, gesagt, »die Franzosen machen, was sie wollen. Sie können im Hotel-Restaurant frühstücken, nebenan beim Bäcker, auf dem Zimmer oder gar nicht.«

Da Rolle immer als Erster aufsteht, hatte er Zeit, das Frühstück herzurichten, während seine Langschläferin im Bad war. So geschah es auch am 26. Mai, dem Pfingst-Samstag in Cerbrère. Frühaufsteher Rolle besorgte ein Baguette vom Bäcker um die Ecke.

Franzosen waren sie nicht, aber sie machten auch was sie wollten. Franka und Rolle ließen es sich schmecken auf dem schmalen Balkon mit Meerblick. Tauchsieder, Kaffeepulver, Butter, Marmelade und Käse hatten sie dabei und Franka kaute sich an dem knusprigen Baguette das Zahnfleisch wund. Wundes Zahnfleisch war allerdings nicht das, was sie wollte.

Mit abfahrbereit bepacktem Auto lenkten sie 9:30 Uhr noch einmal nach Spanien, diesmal zum Tanken.

Am Abend zuvor hatten sie festgestellt, dass der ach so wichtige Diesel in Spanien preiswerter war als in Frankreich und anderswo. Sparfüchsin Franka war manchmal nicht zu übertreffen.

Während der Fahrt erinnerte sie sich, dass sie an der Tankstelle einen verzweifelten jungen Mann gesehen hatten, der offensichtlich Hilfe brauchte. Dort oben gab es nichts weiter als diese Tankstelle, Berge, Gesträuch und eine Straße. Doch der Tankwart hatte Feierabend und trottete träge und teilnahmslos in den Ort hinunter. Für die Zwei, die noch tanken wollten und für den ratlosen Mann hatte er offensichtlich kein Mitgefühl. Die Fremden waren erbost und schimpften. Doch am Morgen regte sich bei Franka schlechtes Gewissen. Waren sie nicht ebenso selbstorientiert gewesen wie der Tankwart? Hätten sie hier in der Einsamkeit nicht dem verzweifelt wirkenden Mann beistehen müssen?

Der neue Tag vertrieb die alten Gedanken, sie tankten 30 Liter in Spanien für 1,12 € pro Liter statt bisher in Frankreich 1,30 € bis 1,47 €. Dafür kurvten sie gern noch einmal über die Serpentinen an der französischen Mittelmeerküste, die sie stark an die Kehren zum Großglockner erinnerten. Klöster, Kapellen und Einsiedeleien auf dem Weg verwiesen darauf, dass im Mittelalter Pilger das Languedoc durchquert hatten, um am Ende des Jakobswegs den Schrein des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela anzubeten.

Übrigens ist Frankreich das Land des Kreisverkehrs.

Die Ansage aus dem Navigationsgerät: »Im Kreisverkehr geradeaus – nehmen Sie die zweite Ausfahrt«, erklang am Tag mindestens hundert Mal.

Ab Port Vendres wurde das Wetter schlecht, nur noch 16 Grad und Regen.

Für solche Fälle lagen die Jeans im Kofferraum bereit; der nächste Parkplatz wurde zur Umkleidestelle. Am Rand der Schnellstraße leuchteten zweimeterhohe gelb blühende Ginsterhecken.

Das Paar erreichte Perpignan bei 17 Grad Celsius. Das sollte die heißeste Stadt Frankreichs sein?

Im 13. Jahrhundert residierten hier die Könige von Mallorca und erst seit 350 Jahren ist sie die Kapitale Französisch-Kataloniens. Traditionell und öffentlich gebüßt wird hier am Karfreitag auf Katalanisch mit der Prozession de la Sanch von Mitgliedern einer christlichen Bruderschaft, verborgen unter scharlachroten Kapuzengewändern. Das ist der Höhepunkt des Kirchenjahres und wird für alle Welt im Fernsehen übertragen.

Es wurde wärmer, die Eheleute durchfuhren die Stadt Fiton bei angenehmen 21 Grad. Während der Fahrt ließen sie sich beeindrucken von einem Tableau, auf dem eine einzigartige Kathedrale prangte. Bisher haben die Benjamin-Forscher den zahlreichen mittelalterlichen Bauten keine Beachtung geschenkt. Aber jetzt begann die Kür ihrer Reise und sie wollten diesen steinernen Palast von Nahem sehen. Er thronte inmitten der Stadt Narbonne, dem ehemaligen mittelalterlichen Bischofssitz. Vor dem Rathaus hatte man ein Stück der Via Domitia freigelegt, der ersten römischen Straße in Gallien vom Jahr 100 v.Chr. Sie verläuft etwa 20 km vom Meerufer entfernt parallel zur heutigen Autobahn, der »Languedocienne«.

Zunächst fesselte die Beiden der Anblick einer außergewöhnlichen Markthalle.

»Wir könnten etwas essen, ich habe Hunger«, meldete sich Franka zaghaft zu Wort. Wenn man mit Rolle unterwegs ist, muss man laut meutern, sonst bekommt man lange nichts. Sie hatte ihre Erfahrungen. Nach zeitraubender Parkplatzsuche konnten sie endlich in die Halle hinein, die war wirklich sehenswert. Zunächst bekamen sie die Nase voll von Fischgeruch und die Schuhe voll von Wasser. Aber dann wurde es appetitanregend: Stände über Stände mit Obst, Gemüse, Fischen, Käse, Backwaren und Weinen aus der Umgebung in Vielfalt und Schönheit.

Am lebhaftesten war es bei den Händlern, die etwas zum Sofortessen anboten.

Franka wollte beim Erstbesten bleiben, aber Rolle musste sich noch den Überblick verschaffen. Das konnte dauern, auch darin hatte die Gattin Erfahrungen. Als ihr Überblicker ein Schnäppchen entdeckt hatte, zwei Briekäse für zusammen nur einen Euro, da hob sich ihre Laune ganz schnell wieder. Trotzdem mussten sie sich entscheiden, weil an einigen Verkaufsständen schon hektisch zusammengeräumt wurde. Sie wählten am Gar-Stand Chicorée in Schinken gewickelt mit Sauce Bernaise und gefüllte Tomaten mit Reis. Während Rolle bezahlte, holte Franka ein Baguette vom Backwarenstand gegenüber. Plötzlich war allgemeines Gewusel ausgebrochen, sie mussten raus. Fürstliches Mittagessen im Auto bei strömendem Regen. Um sie herum verschwanden nach und nach die parkenden Autos und es wurde heilige Siesta in Frankreich. Ein Franzose reichte ihnen seinen noch nicht abgelaufenen Parkschein durchs offne Fenster mit dem Zusatz, dass die Halle um 13:00 Uhr schließe und das Parken jetzt bis 17:00 Uhr kostenlos sei. Prima! Da hatten sie Zeit. Merci beaucoup, Monsieur Français.

Der Toyota mit den beglückten Urlaubern stand vor einem stilvollen Pavillon in der Nähe des Robine-Kanals, der laut Prospekt mit seiner prächtigen Metallstruktur, seinen steinernen Pfeilern und Toren, und seinem prächtigen Dach noch heute einer der schönsten Märkte Frankreichs ist. Diese Pracht nahmen die Beiden jetzt erst richtig wahr.

Gestärkt und ausgeruht besichtigten sie den Palast der Erzbischöfe, der die wichtigsten Museen der Stadt beherbergt, daneben die Kathedralen Saint-Just et Saint-Pasteur mit dem ausladenden strahlenden Chor.

»Sechzig Jahre lang wurde daran gebaut, von 1272 bis 1332!« Franka hatte es im Reiseführer gelesen. Sie standen und staunten über die mit 40 m Scheitelhöhe höchste gotische Kirche Südfrankreichs.

Besonders sehenswert empfanden sie den monumentalen Altaraufsatz mit reichem Skulpturwerk in farbigem Gestein in der Kapelle Notre-Damede-Bethlehem.

Laut Prospekt ist es das Hauptwerk der gotischen Bildhauerkunst in Europa aus dem 19. Jahrhundert.

»Ich erinnere mich jedes Mal beim Anblick solcher Gebäude an den Roman von Ken Follet über ›Die Säulen der Erde‹ und kann nicht genug bewundern, wie Menschen allein mit Hammer und Meißel derart filigrane Kunstwerke aus Stein geschaffen haben«, sagte sie überwältigt zu ihrem Begleiter. »Und doch gibt es Wunder.«

Dort drinnen standen windgeschützte Kerzen mit dem Abbild des Bauwerkes darauf gegen eine Spende von 3 Euro zum Mitnehmen bereit.

»Ein Licht für den Abend am Campingplatz können wir gut gebrauchen.« Rolle dachte wie so oft ans Praktische. Angezündet haben sie die Kerze erst zu Hause auf der heimischen Terrasse.

Das war alles sehr eindrucksvoll, aber mindestens ebenso interessant war es, einen Café Petit zu schlürfen, im Trockenen zu sitzen und die lebenden Geschöpfe aus Fleisch und Blut zu beobachten. Die eine abgewrackte Dame neben der Treppe zur Toilette rührte schon die ganze Zeit in ihrer Kaffeetasse und sah aus, als wäre sie auf einem anderen Trip als die zwei Sachsen …

Die fuhren weiter nach Colombiers, westlich von Beziers, und stoppten an der Boot-Station am Kanal Midi. 1681 wurde hier eine 240 Kilometer lange Wasserstraße zwischen dem Bassin de Thau und Toulouse eingeweiht. An den geistigen Vater waren sie bereits in Beziers aufmerksam geworden, während sie an dem wuseligen Markt mit den aufgeregten Hühnern vorbeigefahren sind. Bis zum Bau der Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts war der Kanal mit 126 Brücken, 64 Schleusen, 55 Aquädukten und sieben Kanalbrücken der wichtigste Transportweg zwischen Mittelmeer und Atlantik. Heute bietet er ein extravagantes Freizeitvergnügen per Boot und zählt sogar seit 1996 zum Weltkulturerbe.

Laut Reiseführer befand sich das Paar gerade in der Nähe des Abschnittes, an dem der Kanal am reizvollsten sein soll. Für Reize waren sie zu haben, standen aber trotzdem unschlüssig vor den Wasserfahrzeugen, die man ohne Führerschein mieten konnte. Sie trauten ihren Bootslenkerkünsten nicht und zogen es vor, zu Lande weiter zu reisen.

Bei Air de St. Annes, Ausfahrt Nummer 32, passierten sie eine Mautstelle ganz ohne Hindernis, die Gebühren zog ein Automat per Master-Card ein, deren Höhe sollten sie zu Hause auf dem Kontoauszug erfahren. Franka wollte sich gerade echauffieren darüber, dass sie im Ausland berappen müssen, die deutsche Regierung sich aber schwer tut, die Mautgebühr einzuführen. Die deutschen Autobahnen erschienen ihr zum Teil in viel besserem Zustand als in anderen europäischen Staaten. Doch ein Hinweisschild lenkte sie vom Ärgern ab und weckte ihr Interesse. Olivenöl aus Eigenproduktion versprach es. Auf holprigen Feldwegen quer durch die Camargue, vorbei an Reiterhöfen, suchten sie schon eine ganze Weile zwischen Weinbergen den privaten Hof, leider vergeblich. Zum Glück fand sich wiederholt französische Freundlichkeit, diesmal in Gestalt einer Frau, die ihr kleines Auto anhielt und die Beiden ansprach: »Ich spreche Deutsch, kann ich Ihnen helfen?« Natürlich konnte sie. Sie fuhr voraus bis zum Ziel der Begierde.

Das Öl gab es zwar nicht auf dem Hof zu kaufen, aber in einem Laden ungefähr zwei Kilometer weiter. Sie hatten die Hausfrau hoffentlich nicht in der Mittagsruhe gestört. Die ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Sie schwang sich in ihr Auto, raste davon; die Sachsen hinterher, und öffnete allein für die Neukunden ihr Geschäft mit verschiedenen Naturprodukten.

Jetzt müssen sie aber auch kaufen, dachten die Urlauber, und entschieden sich für eine Mini-Abfüllung Olivenöl. Acht Euro für das rechteckige Blechkanisterchen, kein Pappenstiel. Das hat Überwindung gekostet. Doch später zu Hause freuten sie sich jeden Tag beim Salatessen und genossen jeden Tropfen.

Auf dem Rückweg zur Landstraße, durch Weinfelder mit Jungpflanzen kam einer von Beiden auf die verwerfliche Idee, dass so ein kleiner Weinstock als Souvenir sehr gut in ihren Garten passen würde. Es war Rolle, der mutig mit einem zusammenklappbaren Spaten, den zünftige Camper immer dabeihaben, ans Werk ging. Franka wurde es heiß. Sie beobachtete, wie am Horizont ein Riesentraktor anhielt, von dem ein Riesenbauer abstieg und bedrohlich auf sie zukam. Sie rief ihren Mann und schnell suchten sie das Weite. Eine Hochzeitsgesellschaft auf Pferdekutschen zog an ihnen vorbei und vertrieb mit deren ausgelassener Stimmung das schlechte Gewissen.

Wo sie heute übernachten würden? Sie wussten es noch nicht.

Eventuell in der Stadt Arles, die befand sich in der Nähe. Da könnten sie sich doch die berühmten Motive des Malers Vincent van Gogh in natura ansehen. Schnell waren sich die Beiden im Toyota einig und freuten sich über eine herrliche Fahrt mit immer wieder faszinierenden Ausblicken auf das Mittelmeer.

»Fahren Sie auf dieser Straße weitaaa…« sang es aus dem Navi.

Sie konnten die vielgepriesene Eleganz pinkfarbener Flamingos in der Natur bewundern und erreichten die Stadt Saintes-Marie-de-la-Mer.

Unzählige Wohnmobile und lagernde Zigeuner fielen ihnen auf. Franka ließ verlauten: »Vielleicht sind das Teilnehmer der hier jährlich stattfindenden Wallfahrt der Zigeuner. Der Sage nach wurden an der Stelle, wo die Kirche steht, die Gebeine der Schutzheiligen Sarah gefunden. Seit Jahrhunderten ist sie jetzt Pilgerstätte für Zigeuner aus aller Welt, hier wählen sie feierlich ihre Königin.«

»Was du alles weißt!«, bewunderte Rolle seine Frau.

»Das habe ich aus dem Reiseführer vorgelesen«, kam es lachend zurück.

In Arles angekommen hatten sie den schlimmsten Kampf um einen freien Parkplatz und ein Hotelzimmer zu bestehen. Franka stand vor dem Café de Nuit, das sie von dem van-Gogh-Gemälde mit den roten runden Stühlen wiedererkannt hatte und freute sich wie ein Kind. Doch Rolle konnte die Begeisterung nicht teilen. Im Hotel »Nord Pinon«, gegenüber der berühmten Terrasse, war zwar ein Zimmer frei aber kein Platz mehr in der Tiefgarage.

Auf dem öffentlichen Parkplatz wollten sie das vollgepackte Auto nicht die Nacht über stehen lassen, und ausräumen wollten sie wegen der einen Nacht auch nicht so gern. Es gab ja genügend Ermahnungen zur Vorsicht. Vielleicht ging es auch noch preiswerter mit der Übernachtung, überlegten sie.

Ja, das ging, aber am Ende blieb ihnen nichts anderes übrig, als den umfangreichen Reisehaushalt aus dem Auto auszupacken, weil sie auf dem öffentlichen Platz parken mussten. Was mögen wohl die zwei Männer, die das Hotel »Le Relais de Poste« führten, gedacht haben, als sie sahen, wie zwei Ausländer die vielen Koffer und Taschen auf dem Fußweg deponierten. Franka und Rolle kamen mächtig ins Schwitzen. Sie hatten einen Auto-Stau verursacht und waren überrascht, dass die Franzosen geduldig warteten. »Bei uns wäre längst ein Hupkonzert ausgebrochen!«, kommentierte Rolle.

»Den Tisch und die zwei Stühle kannst du drin lassen«, sagte Franka zu Rolle, und atmete erleichtert auf, als er nicht widersprach.

»Ich bleibe beim Gepäck, bis du das Auto abgestellt hast und wiederkommst«, schlug sie vor. Doch einer der Hotel-Chefs begann, etwas davon in die erste Etage zu tragen. Franka schleppte nach und nach manches ins ebenerdige Restaurant. Als schließlich alle Gepäckstücke im Zimmer waren, war Rolle immer noch weg. Franka machte sich langsam Sorgen und lief in Richtung des Parkplatzes, auf dem sie zuvor schon lange erfolglos herumgekurvt waren. Wahrhaftig. Ihr Mann schien kurz vor dem Durchdrehen zu sein. Schneller als ein herannahendes Auto stellte sich Franka in eine gerade freigewordene Lücke und verteidigte diese mit dem Mut der Verzweiflung. Als Rolle sie im Scheinwerferlicht entdeckte, war endlich alles gut.

»Das ist verboten, was du gemacht hast; aber froh bin ich trotzdem.«

Zum Hotel war es nur ein kurzer Fußweg. Dort fanden sie an der Rezeption einen Schmierzettel, auf dem stand:

»Parking für die Auto

9 h bis 12h und 14 h bis 17 h: 1€

Die Nacht: 0 €«

Das war erfreulich und eindeutig.

»Es ist bereits lange nach 17 Uhr und bis morgen früh um Neune sind wir weg«, entschied Rolle.

Endlich hatten sie ein Zimmer, sogar mit Dusche, was wollten sie mehr. Die Behausung war zwar stickig und eng, und wenn man die Toilettenspülung im abgeteilten Kämmerchen betätigt hatte, machte eine Pumpe höllischen Lärm. Auf dem von Pflanzen überrankten Mini-Balkon dröhnte es aus einem Metallkasten, der wohl als Klimaanlage fungieren sollte. Das alles war den Beiden im Moment ziemlich egal.

»Wir wollen ja bloß schlafen«, trösteten sie sich.

Inzwischen war es völlig dunkel und die Atmosphäre in den Restaurants sehr französisch. Die Beiden gesellten sich zu den Nachtschwärmern und kamen mit Rotwein und Käse bei Akkordeonmusik unter freiem Himmel endlich zur Besinnung. Zu Füßen eines van-Gogh-Standbildes mit Gemälde-Blick auf das reale Café de Nuit freuten sie sich ihres erwünschten Lebens.

»Das haben wir uns verdient. Endlich können wir das erleben.«

»Ja, du hast recht, du sprichst mir aus dem Herzen«, stimmte Rolle seinem Weib zu.

Franka schoss es kurz durch den Kopf, dass sie eine derartige Situation, im Fernsehen von Künstlern gespielt, schnulzig finden würde. In Arles, an diesem Platz, an diesem Abend empfand sie nichts als Freudentaumel und ergab sich ihrem Gefühl.

Sichtlich fußlahme Ober und Oberinnen, darunter eine Rubens-Figur in einem zwei Konfektionsnummern zu kleinen Kostüm, räumten bereits die Tische ab und sammelten die Sitzkissen ein. Da spürten auch die Sachsen ihre Abgespanntheit. Bloß gut, dass sie ein Bett hatten. Der Lüfter auf dem Balkon war zwar abgestellt und die höllische Toilette benutzten sie selten, aber die Nacht blieb trotzdem sehr geräuschvoll. Lärmende Jugendliche schienen im leichten Regen, der nicht einmal Abkühlung brachte, die ganze Nacht unterwegs zu sein.

»Wenn es hier Grillen gäbe, dann würden sie vergebens zirpen, niemand würde sie hören«, seufzte es aus Frankas Bett.

»Die Zimmerrechnung ist bezahlt, wir hauen so zeitig wie möglich ab«, stöhnte auch Rolle, der auch keinen Schlaf fand, was selten vorkam.

Das Aufstehen fiel sogar Morgenmuffel Franka leicht, denn um 7 Uhr erfüllte eine Straßenkehrmaschine mit unbeschreiblichem Getöse auf grobe Weise die Weckfunktion.

Zu Zeiten der Impressionisten kann die Stadt nicht so chaotisch gewesen sein, sonst hätten sich sensible Künstler hier nicht wohl gefühlt. Sie hätten es gewiss genau so gemacht, wie die zwei Durchreisenden: »nischt wie weg«.

Mit wohlriechendem Baguette aus der Boulangerie suchten sie sich neben der Landstraße einen sonnigen Platz. Nach fast 2000 Kilometern war endlich Gelegenheit für den Auftritt von Campingtisch und zwei Stühlen gekommen. Vor blühendem Ginsterbusch, umgeben von Weinreben und niedrigem Mischwald, durften sie 12 Kilometer südlich von Nîmes aus dem Kofferraum und das Frühstücks-Mobiliar für zwei unausgeschlafene aber glückliche Menschen im Freien sein. Lediglich Kaffee fehlte zur Vollkommenheit. Rein zufällig war hier der ideale Platz, um den Wunsch nach einem Weinstock als Andenken in die Tat umzusetzen.

Der Weinbauer möge ihnen vergeben und das Pflänzchen möge in ihrem Garten gedeihen.

Ganz nebenbei: Es waren zwei, und inzwischen haben sie im Sachsenland Wurzeln geschlagen. Ob die Politiker das meinen, wenn sie proklamieren: Europa wächst zusammen? Wer weiß das schon, was Politiker meinen. Alles eine Frage der Auslegung, meinten Rolle und Franka.

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
331 стр. 19 иллюстраций
ISBN:
9783960083405
Издатель:
Правообладатель:
Автор
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