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Читать книгу: «Elbkiller: 7 Hamburg Krimis», страница 11

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Dr. Bernd Fischer erhob sich ächzend aus seiner knienden Stellung. „Sie können jetzt herkommen!“

Brock und Ritter stiegen bis zur letzten Stufe hoch, und der Hauptkommissar sah den Toten erstmals aus der Nähe.

Der Wirtschaftssenator lag schräg über den beiden obersten Stufen der Treppe halb auf der Seite. In seinem Gesicht war ein überraschter Ausdruck festgefroren. Er lag in einer großen Blutlache. Seine Hemdbrust war rot verfärbt.

„Der Schuss muss ihn auf der Stelle getötet haben“, erklärte der Gerichtsmediziner mit ruhiger Stimme. „Das Geschoss hat wahrscheinlich das Herz getroffen und ist am Rücken ausgetreten. Ich habe den Eindruck, das war eine Patrone für die Großwildjagd, abgefeuert aus einem Präzisionsgewehr.“

„Woher stammt denn die Verletzung, die der russische Künstler davongetragen hat?“, fragte Brock. Er deutete auf den jungen Mann, der einige Meter entfernt immer noch auf der Treppe saß, gerade noch innerhalb des Sichtschutzes. Ein Sanitäter legte ihm gerade eine Blutdruckmanschette an.

Brock ging zu ihm hinüber.

„Was ist mit ihm passiert?“, fragte er den Sanitäter.

„Sieht nach einem Streifschuss aus. Er hat ein kleines Stück Muskel aus seinem Oberarm verloren. Ich habe die Blutung gestillt und ihn verbunden. Die Wunde ist nicht lebensbedrohlich. Wir bringen ihn dennoch gleich ins Krankenhaus.“

Brock sah den Sanitäter etwas ratlos an. „War es der gleiche Schuss, der den Senator getroffen hat?“

„Ich habe keine Ahnung. Möglich wäre es. Doch angeblich hat niemand einen Schuss gehört, geschweige denn zwei.“

Ein weiterer Sanitäter zwängte sich durch den Sichtschutz. Zusammen richteten sie den Künstler auf, der Brock nur wortlos angestarrt hatte, als hätte ihn die Verletzung komplett verstummen lassen. Sie brachten ihn hinaus, um ihn in einen Krankenwagen zu verfrachten.

„Ich rede später mit ihm!“, rief Brock hinterher.

Der erste Sanitäter drehte sich kurz um. „Können Sie russisch?“

Birgit Kollmann öffnete die Sichtschutzplane, und die Gruppe verschwand.

„Gefunden!“, rief plötzlich einer der Leute von der Spurensicherung. Er deutete auf eine Stelle der massiven Eingangstür zur Kunsthalle. „Das muss das Geschoss sein.“

Sie eilten zu dem Beamten.

„Ganz vorsichtig!“, befahl Ritter. „Wir dürfen uns keinen Fehler erlauben.“

Der Beamte nickte, zückte eine kleine Kamera und schoss einige Bilder von der Stelle, bevor er begann, mit einem winzigen Messer die Kugel freizulegen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er das Metallstück herausziehen konnte.

Wenn Brock nicht gewusst hätte, worum es sich handelte, hätte er zumindest auf den ersten Blick kaum erkannt, dass es ein völlig verformtes Geschoss war.

„Auf jeden Fall eine Gewehrpatrone“, stellte Ritter fest.

Der Mann von der Spurensicherung holte einen Plastikbeutel aus einer Tasche, beschriftete ihn und ließ das Metallstück hineingleiten. Dann versiegelte er ihn, und Ritter setzte seine Unterschrift auf das Beweisstück.

„Können wir den Toten jetzt abtransportieren?“, fragte Fischer.

Der Pathologe hatte den Reißverschluss seines Overalls ein Stück heruntergezogen, und Brock sah eine schwarze Fliege auf einem weißen Hemd mit einer verdeckten Knopfleiste sowie rechts und links daneben die schmalen Aufschläge eines modischen Smokings.

„Sie hatten wohl heute Abend etwas anderes vor, oder?“

Bernd Fischer warf ihm einen mörderischen Blick zu. „Wenn ich Sie treffe, versaut es mir immer den Tag – oder den Abend.“

Die beiden kannten sich gut genug, um sich gelegentlich über den anderen zu amüsieren. In ihrem Job tat eine gewisse Ablenkung ganz gut.

Ritter blickte von einem zum anderen, nicht sicher, ob die beiden es ernst meinten.

„Ich komme als Erstes gleich morgen früh in die Gerichtsmedizin“, sagte Brock. „Dann werden wir feststellen, was der Tote uns verraten kann.“

Fischer nickte. „Ich bin ab acht Uhr dort.“

„Und wir werden inzwischen rekonstruieren, wer wo gestanden hat“, fügte Ritter hinzu. „Da wir die Kugel haben, werden wir herausfinden, wo sich der Schütze befunden hat. Auch wenn das Geschoss nur noch ein Fragment ist, wir werden alles daransetzen, die Waffe zu identifizieren, aus der es abgefeuert wurde.“

„Gut. Ich werde nach dem Besuch bei Doktor Fischer zu Ihnen kommen.“

Birgit Kollmann näherte sich. „Was kann ich dem Vizepräsidenten sagen?“

„Er soll uns in Ruhe arbeiten lassen!“, sagte Brock.

Sie sah ihn nur finster an.

*

Als Brock an Birgit Kollmann vorbei durch den Sichtschutz schlüpfen wollte, hielt sie ihn am Arm fest.

„Wir müssen noch mit der Frau des Senators reden.“

„Ich war gerade auf dem Weg zu ihr.“

Die meisten Gäste waren inzwischen gegangen. Nur noch wenige Menschen befanden sich auf der Freifläche. Anna Eggert stand in einer kleinen Personengruppe, nur ein paar Meter entfernt. Ihre teure Kleidung war sichtlich in Unordnung geraten.

Brock stellte seine Chefin und sich selbst vor.

„Unser Beileid zu Ihrem Verlust“, sagte Brock anschließend in angemessenem Tonfall.

Anna Eggert starrte ihn an wie ein seltenes Insekt. Dann wischte sie sich eine nicht vorhandene Träne von der Wange. Ein leises Schluchzen kam aus ihrer Kehle.

„Ich verstehe überhaupt nicht, was passiert ist. Wie geht es jetzt weiter?“

Der Polizei-Vizepräsident nahm sie am Arm. „Kommen Sie, wir bringen Sie nach Hause.“

Er wandte sich an Brock. „Das geht doch in Ordnung?“

Der Hauptkommissar verstand, dass dies nicht wirklich als Frage gedacht war, und er nickte nur.

„Ich werde morgen mit Frau Eggert sprechen.“

Die beiden verschwanden, und vor ihm stand nur noch ein Mann: Mitte dreißig, gut aussehend, mit einem fröhlichen Gesichtsausdruck, der nicht so recht in das Geschehen passte. Brock erinnerte sich, dass dies der Mann gewesen war, mit dem sich der Vizepräsident bei seiner Ankunft so angeregt unterhalten hatte.

„Und Sie sind?“

„Doktor Werner Larsen. Ich bin ein Freund der Familie Eggert.“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu einer feierlichen Miene. „Das ist ein großer Verlust für die Stadt. Der Senator war beliebt und kompetent wie kein zweiter. Ich werde ihn vermissen.“

Ganz schön dick aufgetragen, dachte Brock.

„Haben Sie etwas gesehen, das uns weiterhilft?“, fragte er.

„Es geschah so überraschend. Andrej und der Senator wurden praktisch gleichzeitig getroffen.“

„Wer ist Andrej?“

Das ist der russische Künstler“, mischte sich Birgit Kollmann ein. „Er stand direkt vor dem Senator.“

„Nicht ganz“, korrigierte Larsen. „Gerd Eggert stand schräg hinter dem Künstler, der sich während der Begrüßung neben dem Mikrofon befand. Ich war nur einen Schritt entfernt …“

Seine Stimme verlor sich, ehe er mit Grabesstimme hinzufügte: „Es hätte auch mich treffen können.“

„Da haben Sie aber Glück gehabt“, kommentierte Brock, während er bereits angestrengt darüber nachdachte, ob der Schütze bei diesem Fernschuss wirklich sein eigentliches Ziel getroffen hatte. Oder war jemand anders gemeint? Immerhin waren zwei Personen getroffen worden. Hätte der Attentäter bei einem Fehlschuss ein zweites Mal geschossen? Hätte er überhaupt die Möglichkeit dazu gehabt?

Sie brauchten mehr Informationen. Sie mussten wissen, wer genau wo gestanden hatte. Brock setzte darauf, dass die Spurensicherung den Tatverlauf präzise herausfinden würde.

Kommissaranwärter Horst Spengler wartete darauf, dass sein Chef ihn bemerkte.

„Was haben Sie, Spengler?“

„Ich habe ausführlich mit den Fernsehleuten gesprochen. Sie waren sehr hilfsbereit und haben mir auf einem kleinen Monitor gezeigt, was sie aufgenommen haben. Es ist alles gut zu sehen. Ich bekomme eine Kopie des kompletten Materials, nachdem entschieden wurde, was davon heute noch gesendet wird.“

„Die wollen den Mord senden?“

Spengler wand sich. „Nicht alles, glaube ich. Die Leute an der Kamera konnten dazu nichts sagen. Die Entscheidung fällt in den höheren Etagen.“

Brock knurrt etwas Unverständliches.

Doktor Larsen stand immer noch vor ihm. Die Unterhaltung zwischen den beiden Beamten schien ihn fasziniert zu haben.

„Sie können gehen“, sagte Brock. „Ich melde mich bei Ihnen für ein ausführliches Gespräch.“

„Jederzeit!“

Dann hatte es Larsen plötzlich eilig. Brock sah ihm hinterher, bis er sich zu seinem Assistenten umdrehte.

„Gehen wir zur Spurensicherung. Vielleicht haben die bereits etwas herausgefunden.“

„Was soll ich tun?“, fragte Birgit Kollmann.

„Zieh’ dich erst mal um! Dein Abend dürfte ja auch gelaufen sein. Ich bin später im Präsidium. Wir können uns dort treffen und die weiteren Schritte besprechen.“

3. Kapitel

Um diese Zeit war die Tiefgarage unter dem UKE, dem Universitätsklinikum Eppendorf, noch ziemlich leer. In dieser riesigen Klinik befand sich auch die Gerichtsmedizin.

Hauptkommissar Cornelius Brock stieg aus seinem Fahrzeug und machte sich auf den Weg in das Reich von Doktor Bernd Fischer. Er kannte den Pathologen schon lange, auch wenn er ihn nicht unbedingt zu seinem Freundeskreis zählte. Sie schätzten und respektierten sich gegenseitig.

Fischer war Mitte vierzig, galt als glücklich verheiratet und hatte einen erwachsenen Sohn, der Medizin studierte. Der Gerichtsmediziner war kompetent und zuverlässig. Er übersah selten etwas, und Brock vertraute seinem Urteil. Erst seit Kurzem hatte Fischer begonnen, Golf zu spielen. Diese neue Leidenschaft gab den Kollegen reichlich Gelegenheit für spitze Bemerkungen, die jedoch nie böse gemeint waren.

Nachdem er sich in die Schutzkleidung gezwängt hatte, betrat Brock den Obduktionssaal. Die Kühle ließ ihn frösteln. Die Besuche in diesen Räumen gehörten zu seinen eher unangenehmen Aufgaben. Entgegen seinen sonstigen Angewohnheiten nahm Fischer große Rücksicht auf ihn und machte auch keine Scherze über Brocks Unbehagen. Er wusste seit Langem, dass der Hauptkommissar den Geruch hasste, der sich hier unten nicht vertreiben ließ.

Fischer stand vor dem Metalltisch und verdeckte damit einen großen Teil des Körpers, der darauf lag. Brock riskierte nur einen kurzen Blick und sah dann zur Seite.

„Haben Sie schon etwas entdeckt?“, fragte er.

„Meine erste Einschätzung war richtig“, entgegnete Fischer. „Das Geschoss traf in einem sehr flachen Winkel die Mitte der Brust, durchschlug das Herz, wobei auch eine Hauptarterie zerfetzt wurde und zerschmetterte beim Austritt die Wirbelsäule. Der Senator wurde im Prinzip sofort getötet. Niemand hätte ihn retten können.“

„Können Sie etwas zu dem Geschoss sagen?“

„Ich bin sicher, dass es sich um ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss mit hoher Durchschlagskraft handelte, abgefeuert aus einem Gewehr. Die Spurensicherung wird Ihnen dazu mehr sagen können. Ich weiß nur, dass der Attentäter entweder einen Zufallstreffer landete oder dass er ein äußerst präziser Scharfschütze war. Einen Treffer aus dieser Entfernung schafft kein Amateur.“

Brock nickte. „So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht. Solche Experten gibt es in unserem Land vermutlich nicht allzu häufig.“

Er dachte kurz nach. „Kennen Sie Einzelheiten über den angeschossenen Künstler?“

„Ich habe heute Morgen mit meinem Kollegen hier im Krankenhaus telefoniert, der den Mann behandelt.“

Fischer warf einen Blick auf einen kleinen Rolltisch, auf dem mehrere Papiere lagen. „Ein gewisser Andrej Sokolow. Bei der Wunde handelt es sich um einen Streifschuss, nicht sehr gefährlich, da sie gleich behandelt wurde. Eine schöne Narbe wird allerdings bleiben. Wir sind nicht sicher, ob dabei das gleiche Geschoss die Ursache war, nehmen es jedoch an. Bisher ist ja überhaupt nicht klar, wie viele Schüsse gefallen sind. Keiner scheint etwas gehört zu haben. Kein Wunder, bei der Entfernung!“

Brock blickte den Gerichtsmediziner direkt an, wobei er es vermied, den Toten auf dem Tisch anzusehen.

„Für die Ermittlungen ist es wichtig, zu wissen, wie viele Schüsse es waren.“

„Der Kollege hat Abstriche von Sokolows Wunde gemacht. Wir werden mikroskopische Vergleiche anstellen. Dann werden wir wissen, ob es nur eine Kugel war, die beide Personen getroffen hat.“

„Haben Sie sonst irgendetwas Bemerkenswertes feststellen können?“

Fischer schüttelte den Kopf. „Der Senator war gesund und hätte noch lange leben können. Wir prüfen noch die Laborwerte auf Drogen oder Alkohol.“

„Gut. Rufen Sie mich an, wenn Sie noch etwas herausfinden. Heute Nachmittag werde ich mit Sokolow reden. Er ist doch noch hier in Eppendorf?“

„Ja. Ich weiß nur nicht, ob Sie schon mit ihm reden können. Der junge Mann steht völlig unter Schock, und mein Kollege sagte mir, dass er unverständliches Zeug in seiner Muttersprache vor sich hin brabbelt. Da werden Sie wohl noch etwas Geduld haben müssen.“

„Wie Sie wissen, gehört Geduld nicht gerade zu meinen Stärken. Außerdem sitzen uns bei einem solchen Fall die hohen Tiere im Nacken.“

Der Pathologe nickte verständnisvoll. „An mir soll er nicht liegen. Sie erhalten meinen Bericht so schnell wie möglich.“

Er grinste. „Zur Not verschiebe ich sogar meinen Golftermin.“

„Sie sind ein wahrer Freund.“

*

Zurück im Präsidium, wurde Brock bereits von seinem Assistenten erwartet. Kommissaranwärter Spengler fieberte fast vor Aufregung. Im Gegensatz zur Freizeitkleidung seines Chefs hatte er sich heute richtig fein gemacht.

„Ein Bote hat vorhin die komplette Aufzeichnung vom Sender gebracht. Ich habe sie noch nicht angesehen, da ich auf Sie gewartet habe.“

„Gut. Jetzt gehen wir erst mal zur Spurensicherung. Nehmen Sie die DVD mit. Kommissar Ritter wird die Aufzeichnung auch sehen wollen. Dann werden wir die genaue Position aller Personen wissen und können vielleicht feststellen, von wo der Attentäter geschossen hat.“

Während sie einen langen Gang durchquerten, konnte Spengler nicht mehr an sich halten.

„Haben Sie gestern Abend noch den Fernsehbericht über das Ereignis gesehen?“

„Ja, habe ich. Zum Glück wurde die Szene herausgeschnitten, in der die Opfer getroffen wurden. Insofern ist nicht viel zu sehen, nur der Kommentator hat beschrieben, was dann geschehen ist.“

„Ein Glück, dass bei den Medien noch nicht die letzten Hemmungen gefallen sind“, kommentierte Spengler.

Kommissar Ritter erwartete sie schon.

„Meine Kollegen haben einige Überstunden absolviert“, begann er. Ein leidvoller Zug lag auf seinem Gesicht. Brock ließ sich davon nicht irritieren, denn er wusste, dass sein Kollege alles daran setzte, einen Fall möglichst rasch aufzuklären. Die Zahl der Überstunden interessierte ihn dabei nicht.

Ritter lächelte schief. „Die obere Etage sitzt uns allen bei diesem Fall im Nacken. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwann ein Senator Opfer eines Attentats wurde.“

Haben Sie das Geschoss schon untersucht?“, fragte Brock.

Ritter nahm einen Beweisbeutel in die Hand. „Es handelt sich um eine Gewehrpatrone vom Kaliber 9,3 x 64 mm. Sie kommt recht häufig vor und wird in vielen Langwaffen verwendet, beispielsweise für die Großwildjagd. Ohne die Hülse können wir nicht feststellen, wer sie hergestellt hat. Es wird schwer sein, damit eine Spur zum Schützen herzustellen.“

„Gab es nur dieses eine Geschoss?“

Ritter nickte. „Da sind wir uns ziemlich sicher. Meine Leute haben gestern Abend noch alles gründlich abgesucht, auch mit technischen Hilfsmitteln. Wir haben keine weitere Kugel gefunden. Nach der ersten Rekonstruktion, die wir zu den Positionen der einzelnen Personen vorgenommen haben, hätten wir ein weiteres Geschoss jedoch finden müssen.“

Brock nahm die Plastikhülle entgegen, die Spengler ihm entgegensteckte. Dann wies er auf seinen Assistenten.

„Es wird Sie freuen, dass wir die komplette Fernsehaufzeichnung bekommen haben. Schauen wir sie uns an.“

Ritter schob die Silberscheibe, die Spengler ihm gereicht hatte, in einen Laptop, und alle warteten gespannt auf das erste Bild. Er scrollt vor, bis der Direktor der Kunsthalle ans Mikrofon trat. Dann schaltete er auf Zeitlupe.

Der junge russische Künstler und Senator Eggert wurden praktisch gleichzeitig getroffen. Das war deutlich zu sehen.

„Ein Geschoss!“, registrierte Brock.

Die anderen nickten.

„Eindeutig“, unterstützte Spengler seinen Chef.

Ritter setzte sich vor den Laptop. „Dann werden wir der Sache mal mit einem Spezialprogramm auf den Grund gehen.“

Er drehte sich um. „Das wird etwas dauern. Das Programm errechnet aus den Positionen der Opfer und dem Einschlagpunkt des Geschosses in der Tür die Flugbahn. Danach gleichen wir diese mit einem Lageplan der Alsterumgebung ab, inklusive einer Höhenberechnung. Dann können wir ziemlich genau sagen, wo der Schütze gestanden hat.“

„Wir warten!“

Brock zog einen Stuhl heran und setzte sich. Spengler folgte seinem Beispiel und schweigend beobachteten sie das Geschehen. Ritter zuckte die Achseln und widmete sich seiner Arbeit.

Nach einer halben Stunde konnten sie das Ergebnis besichtigen.

Ritter schwenkte den Laptop herum. Auf dem dreidimensional wirkenden Bild zog sich eine dünne Linie vom Eingang der Kunsthalle über die blau dargestellte Wasserfläche der Binnenalster zu einem Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite.

Ritter drückte ein paar Tasten, und ein Laserdrucker auf dem Nebentisch begann zu arbeiten. Sekunden später schob sich ein Farbbild aus dem Ausgabeschacht. Ritter nahm es heraus und malte mit einem Stift einen Kreis auf das Bild, bevor er es zu Brock hinüberschob.

„Wenn das Geschoss beim Auftreffen nur eine minimale Abweichung erfahren hat, kann das bei dieser Entfernung mehrere Meter Unterschied auf der Seite des Schützen bedeuten.“

Brock betrachtete stirnrunzelnd den Ausdruck.

„Was ist das für ein Gebäude?“

Spengler zeigte mit dem Finger auf den Kreis. „Das ist das Hotel Alsterbrücke. Ich habe dort schon mal jemanden untergebracht. Ein Mittelklassehotel in guter Lage, hat einen guten Ruf.“

Brock nahm eine Lupe zur Hand, die Ritter ihm gereicht hatte. „Ihr Kreis zieht sich um mindestens acht Fenster in der vierten und fünften Etage.“

Ritter nickte. „Wir können damit von vier oder fünf Zimmern ausgehen, die als Standort für den Schützen infrage kommen.“

„Worauf warten wir dann noch? Nehmen Sie ein Team von Ihren Leuten mit und dann nichts wie los!“

„Brauchen wir einen Durchsuchungsbefehl?“, erkundigte sich Spengler.

Brock schüttelte den Kopf. „Ich gehe davon aus, dass man uns im Hotel die Zimmer freiwillig öffnet.“

*

Die zwei jungen Frauen an der Rezeption schauten erschrocken auf die Horde Männer, die in das Foyer des Hotels strömten, mehrere von ihnen in weißen Overalls.

Hauptkommissar Cornelius Brock übernahm die Vorstellung und erklärte den Grund des überfallartigen Besuchs.

Er schob das ausgedruckte Foto über den Tisch und deutete auf den Kreis. „Wir interessieren uns für diese Zimmer, und wir müssen sie uns ansehen.“

Eine der Frauen studierte das Bild. „Im Augenblick ist nur eines dieser Zimmer vermietet.“

„An wen?“, knurrte Brock.

Sie tippte auf ihrer Tastatur und starrte auf den kleinen Bildschirm. Dann sah sie hoch. „Eigentlich dürfen wir keine Angaben zu unseren Gästen machen.“

„Na, schön. Dann zeigen Sie uns das betreffende Zimmer, und wir fragen, ob wir hineingehen dürfen.“

„Der Gast muss noch im Hotel sein. Er hat bisher noch nicht ausgecheckt, obwohl das Zimmer nur bis heute gebucht ist.“

„Führen Sie uns hin.“

Brock, Spengler, Ritter und die Dame von der Rezeption zwängten sich in den ersten Fahrstuhl. Der Rest der Truppe musste den nächsten nehmen.

In der Mitte des Ganges in der vierten Etage blieb die junge Frau stehen. „Hier ist es, Nummer vierhundertzehn.“

Die Polizeibeamten starrten auf das „Bitte-nicht-stören“-Schild, das an der Klinke hing. Das Schloss ließ sich elektronisch öffnen.

Brock klopfte mehrmals kräftig gegen die Tür. „Zimmerservice!“

Keine Reaktion.

Er klopfte erneut, noch etwas stärker, und aus dem Zimmer gegenüber streckte eine ältere Dame ihren unfrisierten Kopf aus der Tür. Als sie die Truppe sah sowie mehrere weißgekleidete Personen, die den Gang entlangkamen, hörte man einen leisen Schrei, und sie verschwand rasch wieder in ihrem Zimmer.

„Öffnen Sie!“, befahl Brock, nachdem hinter der Tür nichts zu hören war.

Das elektronische Schloss sprang mit einem Klicken auf, und Brock drückte vorsichtig die Tür zur Seite.

„Ist jemand hier?“

Stille.

Das Zimmer sah aus wie tausende anderer Hotelzimmer auch. Brock blickte durch einen kurzen Gang, von dem links eine Tür abging, vermutlich ins Bad. Die Garderobenhaken an der rechten Wand waren leer. Geradeaus waren ein Teil des Doppelbettes sowie der Vorhang des Fensters zu sehen.

„Wo ist denn der Schreibtisch, der normalerweise dort an der Wand steht“, wunderte sich die Rezeptionistin, die neben Brock in den Raum lugte.

„Bleiben Sie bitte auf dem Flur“, ordnete Brock an und winkte seinem Assistenten, ihm zu folgen. Sie gingen bis zum Ende des kurzen Flurs, warfen unterwegs einen Blick ins Bad, in dem sich niemand befand, und überblickten dann das komplette Zimmer.

„Hier sind wir richtig“, stellte Brock fest.

Er drehte sich um und wandte sich an Ritter, der mit seinen Leuten noch draußen stand.

„Es gibt Arbeit für die Spurensicherung. Wir warten so lange auf dem Flur.“

„Haben Sie das Gewehr vor dem Fenster erkannt?“, fragte Spengler eifrig.

Brock schüttelte den Kopf. „Waffen sind nicht mein Ding, das wissen Sie doch.“

Spengler ließ sich nicht stoppen. „Das ist ein russisches Dragunow-Scharfschützengewehr. Vielleicht haben wir es hier mit einem russischen Attentäter zu tun, der es eigentlich auf den Künstler abgesehen hatte und der den Senator nur versehentlich getroffen hat. Bei dieser Schussentfernung wäre das doch möglich!“

„Möglich ist alles“, sagte Brock weise. „Ich frage mich vielmehr, warum er das Gewehr zurückgelassen hat.“

„Vielleicht wollte er es noch holen. Denken Sie an das Schild an der Tür.“

Cornelius Brock betrachtete seinen Assistenten. „Während Sie nur das Gewehr gesehen haben, habe ich den ganzen Raum erfasst. Es ist alles aufgeräumt, das Bett wurde nicht benutzt. Es liegt nichts herum, was nicht hingehört. Das Bad sieht sauber aus, auf dem Nachttisch liegt eine aufgeschlagene Zeitung, und das Wichtigste haben Sie offenbar bei dem Gewehr übersehen.“

Spengler machte ein betretenes Gesicht. „Was denn?“

„Das Zielfernrohr fehlt, und auch wenn ich von Waffen nicht viel verstehe, so weiß ich doch, dass ein Treffer auf diese Entfernung ohne eine Zieloptik nicht möglich ist.“

Spenglers Wangen färbten sich rötlich.

Brock grinste. „Es sind die Kleinigkeiten, die in unserem Job wichtig sind.“

Sein Assistent dachte kurz nach. „Er hat das Zielfernrohr mitgenommen, weil er für diesen Schuss ein sehr gutes und demzufolge auch teures Gerät brauchte, und er war zu geizig es zurückzulassen.“

„Schon besser, Spengler. Das Gewehr sollten wir finden. Es ist wie ein dicker Pfeil, der nach Russland zeigt.“

„Sie glauben …?“

„Warten wir ab, was die Kollegen dort drinnen finden“, unterbrach Brock.

Die Rezeptionistin hatte dem Gespräch der beiden Beamten unterdessen interessiert gelauscht. „Brauchen Sie mich noch?“

„Nein, Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen. Mein Kollege wird Sie begleiten. Wir haben noch ein paar Fragen zu dem Gast, der diesen Raum gemietet hat.“

Spengler guckte etwas missmutig aus der Wäsche, als er mit dieser Bemerkung vom Tatort verscheucht wurde, doch er ging ohne Widerworte.

Brock lehnte sich an die Wand und dachte nach. Ihm wurde klar, dass dies kein leichter Fall werden würde.

*

„Wissen Sie, wer den Gast in Empfang genommen hat?“, fragte Spengler und stützte sich auf den Tresen, nachdem die Angestellte wieder ihren Platz am Computer eingenommen hatte.

„Das war ich“, antwortete sie mit einem leicht koketten Augenaufschlag.

Erst jetzt fiel Spengler auf, dass er eine sehr hübsche junge Frau vor sich hatte, und er bemühte sich um einen guten Eindruck. Sie war jung, blond und hatte ausdrucksvolle Augen. Spengler verscheuchte die Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe.

„Es war ein Mann, nehme ich an.“

Sie nickte und sah dann wieder auf ihren Monitor. „Die Tür wurde mit der Karte nur einmal geöffnet – gestern nach dem Einchecken. Unser System registriert es, wenn die Karte benutzt wird. Seitdem habe ich den Gast nicht mehr gesehen. Seine Rechnung hat er auch nicht abgeholt. Ich sehe gerade, dass er kein Frühstück eingenommen hat.“

„Wie sah er aus? War er Russe?“

Die hübsche Stirn legte sich in Falten. „Nein, ich glaube nicht, dass er Russe war. Er hat sehr gut deutsch gesprochen, allerdings mit einem ganz leichten englischen Akzent.“

„Englisch? Sind Sie sicher?“

„Ziemlich. Wir hatten schon zahlreiche Engländer oder Amerikaner als Gäste. Den Akzent höre ich inzwischen heraus.“

„Australier, Südafrikaner oder Kanadier sprechen auch englisch“, wandte Spengler ein.

„Sie sah ihn verblüfft an. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht!“

Spengler nickte im Gefühl intellektueller Überlegenheit. „Sehen Sie, es gibt immer viele Möglichkeiten. Man sollte sich nicht zu schnell festlegen.“

Jetzt höre ich mich schon an wie mein Chef, dachte er.

„Jedenfalls war er kein Russe“, sagte die Rezeptionistin entschieden.

„Okay, dann kommen wir zum Alter. Was schätzen Sie?“

„Sie meinen den Gast?“, vergewisserte sie sich, spitzbübisch lächelnd.

Spengler verdrehte kurz die Augen.

„Ich habe den Mann nicht so genau angesehen, doch ich schätze, dass er mindestens fünfzig war, ziemlich alt jedenfalls.“

Sie musterte ihn. „Älter als Sie“, sagte sie entschieden.

Spengler wusste, dass man mit den Alterseinschätzungen junger Leute vorsichtig sein musste. Alles was etwas über dreißig war, konnte schon als alt gelten. Er fühlte sich, als sei er plötzlich um Jahre gealtert.

„Hatte er einen Bart oder andere Kennzeichen?“

„Ist mir nicht aufgefallen.“

„Hatte er Gepäck dabei?“

Sie überlegte kurz. „Ich glaube, er hatte eine große Reisetasche bei sich. Ich habe nicht darauf geachtet, da sie vor dem Tresen stand, und …“

„Ja, schon gut. Was für einen Namen hat er denn angegeben? Und woher kam er?“

Sie studierte wieder ihren Bildschirm. „Cary Grant aus London.“

„Wie der Schauspieler?“

„Welcher Schauspieler?“

Spengler starrte die junge Frau an. Das war lange vor ihrer Zeit gewesen. Er fühlte sich noch älter.

„Muss ein Gast nicht seine Kreditkarte vorlegen, wenn er eincheckt?“, war seine nächste Frage.

Die junge Frau nickte. „Im Prinzip schon. Doch der Mann hat im Voraus bezahlt, bar. Insofern brauchten wir die Karte nicht.“

„Er muss sich doch irgendwie angemeldet haben, oder?“

„Ja, natürlich. Er hat den Anmeldezettel ausgefüllt.“

„Und?“

„Ach so!“ Sie blätterte in einem Karteikasten.

„Da ist sie.“ Sie schob einen Zettel über den Tresen.

Spengler nahm ihn und las laut vor: „Name Cary Grant, Adresse …“

Er ließ den Zettel sinken. „Das ist die Adresse des Touristeneingangs in den Buckingham Palast. Dort war ich schon.“

„Wohnt der Mann bei der Queen?“, fragte sie erstaunt.

„Nein!“, entgegnete er barsch. „Hat er das selbst geschrieben?“

Sie nickte wieder. „Ja, mit einem dieser Kugelschreiber.“

Sie wollte einen der beiden Schreiber in die Hand nehmen. Spengler hielt sofort ihren Arm fest. „Nicht anfassen!“

Er sah ihr streng in die Augen. „Achten Sie darauf, dass keiner diesen Schreiber in die Hand nimmt. Ich schicke jemanden von der Spurensicherung, der ihn mitnehmen wird, ebenso die Anmeldung.“

„Fingerabdrücke?“, wisperte sie verstohlen.

„Ja.“ Spengler ließ seinen Blick über die Decke und den Eingangsbereich des Foyers gleiten.

„Gibt es hier keine Überwachungskameras?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht hier drin. Der Chef sagt immer, dass die Privatsphäre der Gäste geschützt werden muss. Die Fassade und der Eingang werden überwacht, aber nur nachts. Nur die Kamera an der Garageneinfahrt ist immer in Betrieb.“

„Davon brauche ich eine Kopie für die Zeit von gestern Nachmittag bis heute Morgen.“

„Ich sage dem Chef Bescheid.“

Spengler zog eine Visitenkarte aus der Tasche und schob sie über den Tresen. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Die Adresse steht auch auf der Karte. Eine letzte Frage noch: Wissen Sie, welche Kleidung der Mann trug?“

„Nichts Auffälliges. Einen Sakko in einer dunklen Farbe, ein offenes Hemd – an mehr kann ich mich nicht erinnern.“

„Sie haben mir schon geholfen. Erkundigen Sie sich bitte bei den anderen Angestellten, ob jemand etwas gesehen hat. Hat er irgendetwas beim Zimmerservice bestellt? War er in der Bar?“

Sie nickte eifrig. „Das weiß ich nicht. Es gibt jedenfalls keine Abrechnungen darüber. Wenn er etwas bestellt hätte, würde ich es hier sehen.“

„Gut, dann danke ich Ihnen. Nachher wird ein Polizist kommen und Ihre Aussage aufnehmen. Bleiben Sie auf jeden Fall so lange im Haus.“

*

Ritter erschien in der Tür. „Sie können jetzt hereinkommen.“

Cornelius Brock stieß sich von der Wand ab und folgte seinem Kollegen von der Spurensicherung. Er musterte die Beutel mit Beweismitteln, die nebeneinander auf dem Bett lagen.

399
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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840 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783956178269
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Правообладатель:
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