Читать книгу: «Tatort Oberbayern», страница 6

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Ihre Mutter hatte kurz nach der Trennung verkündet, dass sie nun eine Heilpraktikerinnen-Ausbildung mache und wieder Hartschmidt heiße, ihr Mädchenname.

Heute hatte Susanne Hartschmidt eine florierende eigene Praxis – und wenig Zeit.

Aber diesen Freitag würde Svenja bei ihr sein und Katharina konnte in aller Ruhe an den Chiemsee fahren.

Für heute stand erst etwas anderes an: Fotodateien durchsuchen mit Birgit.

Als Katharina in Birgit Wachtelmaiers Büro eintraf, stand die Archivarin von »Fakten« an einem kleinen Beistelltisch neben ihrem Schreibtisch und rührte lustlos in einem Messbecher. Vermutlich ein Schlankheitsdrink, Eier-Diät ade, mutmaßte Katharina. Birgit trug auch heute schwindelerregend hohe Pumps – diesmal aus schwarzem Samt –, dazu eine schwarze Marlene-Dietrich-Hose, für ihre Verhältnisse ungewohnt einfarbig. Dies änderte sich allerdings oberhalb der Gürtellinie. Sie hatte eine giftgrüne, transparente Chiffon-Bluse an, darunter ein orangefarbenes Top. Die hellblauen Spitzenträger des BHs konnte man erahnen. Birgit lächelte ihre Freundin erfreut an: »Du kommst genau rechtzeitig zum Mittagessen! Auch einen Sojadrink? Total gesund, aus dem Reformhaus. Meiner ist Vanille, ich kann dir ansonsten eine herzhafte Geschmacksrichtung anbieten, Salami, Schinken, Chili …«

»Nein, danke, Birgit, ich habe keinen Hunger. Hast du im Netz noch irgendetwas Interessantes gefunden in Sachen Adelhofer?«

Birgit setzte sich an den Computer, nahm einen Schluck von ihrem Drink, verzog das Gesicht und legte los: »Eine normale Recherche habe ich ja schon gemacht, da kamen die besagten Facebook- und Instagram-Bilder raus, ohne Ende Artikel und Blogs, die sich mit Adelhofer beschäftigen, Homestorys vom Hof am Chiemsee, übrigens aus den letzten Jahren so gut wie keine Fotos mehr mit den beiden Brüdern allein. Höchstens auf irgendwelchen Events, ich suche die interessantesten raus und schicke sie dir. Ich glaube, dass Robert und Lukas keinen Draht mehr zueinander hatten, ehrlich gesagt.«

Katharina nickte. »Das meint die Obermann von der Kripo auch.«

Birgit klopfte sich grinsend auf die Schulter und fuhr fort: »Viel spannender als diese normale Netzrecherche wären Infos, die Menschen verschlüsselt auf ihren Seiten haben, das, was man eben genau nicht der Öffentlichkeit zeigen will oder darf. Richtig?« Erwartungsvoll schaute Birgit Katharina an.

Die räusperte sich und antwortete diplomatisch: »Klar, aber an die kommt man legal nicht ran.«

»Ach, Katharina, das Internet ist ein offenes Buch. Wenn man sich ein bisschen auskennt, ist alles zugänglich. Ich werde weitersuchen, verlass dich drauf.«

Katharina wusste, dass Einspruch zwecklos war, und wechselte deshalb das Thema. »Vielleicht bringt uns Alfred Birnhuber noch auf eine neue Spur. Der scheint einige Geheimnisse zu kennen, und zwar über Lukas Adelhofer.«

Birgits Kopf flog herum, die rosa Plastikherzen, die die Archivarin heute als Ohrringe trug, vibrierten heftig.

So sollte man mit Herzen nie umgehen, philosophierte Katharina im Stillen.

»Gut, stelle ich meine Recherchen eben ein. Madame Redakteurin ist offenbar lieber allein unterwegs«, giftete Birgit los. »Danke, dass du mich an deinen Infos genauso teilhaben lässt wie ich dich an meinen. Darf man erfahren, wer Alfred Birnhuber ist?«

Katharina fragte sich, ob sie den Schlankheitsdrinks die Schuld an Birgits plötzlichem Wutausbruch geben sollte, schwieg aber. Stattdessen stand sie auf, trat hinter ihre Freundin und begann, ihr die vom vielen Internetsurfen verspannten Nackenmuskeln zu massieren.

»Birgit, dass es einen Alfred Birnhuber gibt, weiß ich erst seit einer halben Stunde. Nina Obermann hat mir von ihm erzählt, er ist ein Freund von Lukas Adelhofer. Der scheint mehr darüber zu wissen, warum es Lukas so schlecht ging. Es kommt noch ein Haufen Arbeit auf mich zu und ich bitte dich inständig, mir dabei zu helfen. Ohne dich schaffe ich das niemals. Ohne dich hätte ich keine meiner Geschichten jemals zu Ende recherchieren können.«

Katharina merkte, wie sich Birgit unter ihren Händen entspannte.

»Okay, danke, lieb, dass du das sagst. Ich weiß es eigentlich auch. Ich glaube, ich sollte mit diesen Scheißschlankheitsdrinks aufhören, die machen mich fertig. Gut, du triffst dich mit diesem Alfred Hirnhuber, Dirnbuber, Birnhuber und dann schauen wir weiter.«

Katharina seufzte erleichtert.

»So machen wir es, Birgit. Bist ein Schatz!«

Katharina verließ das Archiv und beschloss, durch Birgits Worte ermuntert, heute bald Schluss zu machen, einzukaufen, Svenja früh aus dem Hort abzuholen und abends lecker zu kochen. Vielleicht hatte Oliver Lust dazuzukommen.

Als sie gerade zum Hörer greifen wollte, um ihn anzurufen, klingelte das Telefon.

»Obermann hier, melde mich zum Adelhofer-Rapport.«

»Hallo, Frau Obermann, das ging aber schnell. Hatte Herr Adelhofer nicht viel Zeit für Sie?«

Das donnernde Lachen, das aus dem Hörer kam, war so laut, dass Katharina den Arm ausstreckte, um die Lautstärke ertragen zu können. »Umgekehrt. Wissens, Nina Obermann von der Kripo Rosenheim entscheidet selbst, wie viel Zeit sie für ein Gespräch erübrigen kann. In diesem Fall gab es kaum noch etwas zu besprechen. Ich habe ihm gesagt, was wir herausgefunden haben. Er hat zugehört, wirkte nicht weiter überrascht und das war’s. Dass es eine grauslige Bruderbeziehung war, wissen wir beide und das weiß vielleicht auch der Robert Adelhofer, aber das ist nicht kriminell. Wenn jeder Narzisst auf dieser Welt in den Knast käme, würden mir einige einfallen, zum Beispiel Donald Trump.«

Katharina schmunzelte. »Danke für die Infos, Frau Obermann. Bleibt die Frage, wem Sie zu viel Bedeutung mit diesem Vergleich beimessen – Donald Trump oder Robert Adelhofer.«

Dröhnendes Gelächter am anderen Ende. »Wahrscheinlich beiden, Frau Langenfels, wahrscheinlich beiden.«

Montagabend, München Haidhausen

Mit rot verweinten Augen stand Oliver in Katharinas Küche. Neben ihm saß Svenja auf der Arbeitsplatte, am Herd drückte Katharina den Spätzleteig durch die Presse ins kochende Wasser.

»Mensch, Oliver, nicht heulen, Zwiebeln fertig schneiden, Käsespätzle ohne Zwiebeln geht nicht«, drängelte Svenja.

Schniefend wandte sich Oliver von dem Brett ab, auf dem eine Zwiebel zur Hälfte geschnitten war. Drei weitere warteten noch auf ihre Zerkleinerung.

»Das geht nicht, Katharina. Meine Augen brennen wie Feuer. Von mir aus reibe ich den Käse, um die Zwiebeln müsst ihr euch selbst kümmern. Ich esse sie sowieso nur euch zuliebe. Von wegen geht nicht ohne Zwiebeln«, schimpfte er in Svenjas Richtung. »Ich esse Käsespätzle nur ohne Zwiebeln und deine Mutter weiß, warum.«

Bedeutsam blickte er in Katharinas Richtung. Als ihm klar wurde, dass sie gerade kein Ohr für seine Zwiebel-Unverträglichkeit und die daraus resultierenden Folgen hatte, holte er den Schweizer Bergkäse aus dem Kühlschrank und begann ihn zu reiben.

»Okay, ich schneide die Zwiebeln. Immer muss man alles selber machen.« Mit diesen altklugen Worten rutschte Svenja von der Theke und verschwand in ihrem Zimmer. Kurz darauf kam sie mit einer Skibrille über den Augen zurück und begann ruhig und routiniert, eine Zwiebel nach der anderen zu bearbeiten. Wie man mit den Fingern eine Kralle machte, um sich nicht zu schneiden, hatte ihre Mutter ihr ausführlich erklärt.

»Siehste, so macht man das.« Triumphierend hielt Svenja Oliver das Ergebnis unter die Nase.

»Toll, Svenja, ganz toll, und jetzt stell sie bitte möglichst weit weg von mir.«

Nachdem Oliver – nicht ohne gründlich das Risiko einer Schnittverletzung zu erläutern – den Käse gerieben hatte, schichtete Katharina Spätzle, Zwiebeln und Käse in eine Auflaufform mit »oben viel Käse«, wie ihre Tochter angeordnet hatte.

Als die Spätzle im Ofen waren, begannen die drei mit der Vorspeise: Katharina hatte ihnen echten Büffel-Mozzarella gegönnt und den zusammen mit nach Urlaub duftenden Tomaten, Olivenöl und viel Basilikum angerichtet – ein Gericht, das auch Svenja glücklicherweise schätzte. Unter anderem, weil sie Kühe liebte und der Mozzarella »lecker nach Kuh schmeckt«.

»Wo ist eigentlich deine Elyas-M’Barek-Kappe?«

»Die habe ich einem Kontaktmann geliehen.« Gelassen aß Svenja weiter.

Katharina und Oliver schauten sich kurz an und schnell wieder weg, um sich das Lachen verbeißen zu können.

»Was für ein Kontaktmann, Svenja? Und woher weißt du überhaupt, was das ist?«

Svenja rollte die Augen: »Mensch, Mama, ich bin kein Baby mehr, du redest doch dauernd von deinen Kontaktmännern und dass die dir geheime Sachen erzählen. Und ich hab halt auch welche.«

»Aha. Was hat der dir im Tausch für die Kappe erzählt?«

»Dass der Niko in die Eileen verliebt ist, der blöde Arsch.«

»Für die Information hast du deine Lieblingskappe verliehen?«

Svenja wurde feuerrot und nickte.

»Und wann gibt dir der Kontaktmann das Teil zurück?«

»Wenn ich ihm sagen kann, ob die Luisa noch Single ist.«

»Ah, klar, na, das dürfte für dich kein Problem sein, das rauszufinden.«

»Nee, ich weiß es schon. Luisa ist kein Single, sie ist mit Fritz zusammen. Die Kappe muss mir der Jan trotzdem zurückgeben.«

Dass Svenja eben ihren Kontaktmann geoutet hatte, übergingen Katharina und Oliver diskret.

»Und wie sieht’s mit deinen Kontaktmännern aus, Mama?«

Svenja wollte offensichtlich das Thema wechseln.

»Ich habe im Moment nur einen, den ich noch gar nicht kenne. Mit dem treffe ich mich am Freitag, wenn du bei der Oma bist.«

»Musst du dem auch irgendwas geben, damit er dir was erzählt?«

»Gute Frage, Svenjalein, das weiß ich erst am Freitag.«

Zwei Stunden später, nachdem eine Riesenschüssel Käsespätzle und der Lieblingsnachtisch von allen dreien, türkischer Schokoladenpudding »Supangle«, vertilgt und Svenja im Bett war, konnte Katharina Oliver auf den aktuellen Stand ihrer Recherchen bringen. Sie beendete ihren Bericht mit der Aufzeichnung von »Krise«, die sie am nächsten Tag besuchen würde. Achim Wedel hatte ihr heute die Gästeliste gemailt. Erneut hatte Katharina festgestellt, dass beautiful Robert vor nichts zurückschreckte. Seinen Vater in die Sendung zu schleppen eine Woche nach dem Selbstmord seines Sohnes, das toppte ziemlich alle Geschmacklosigkeiten, die sich »Krise« seit ihrem Bestehen geleistet hatte. Oliver nickte zustimmend und nippte nachdenklich an seinem Rotwein: »Gibt es eigentlich von Adelhofer genaue Schilderungen, wie er diesen Winter in den Bergen überlebt hat? Wo er war, was er gegessen hat, wo er geschlafen hat, wie ihm der Finger abhandengekommen ist?«

»Klar, das hat er erzählt, unendlich oft sogar. Feuermachen kann er natürlich als echter Bub aus den Bergen, er hat Tiere getötet und gegessen, mit dem Fell Umhänge hergestellt und Überzieher für die Füße. Wo er genau überwintert hat, sagt er nicht, nur dass es in der Watzmann-Region war. Die hat er sich ausgesucht, weil er sie von der Überquerung mit seinem Bruder gut kannte. Angeblich will er verhindern, dass sein Aufenthaltsort zu einer Pilgerstätte von Schaulustigen wird. Quasi als Umweltschützer behält er diese Info für sich. Er hat dafür vom Alpenverein und von Umweltinitiativen viel Lob bekommen.«

»Und das mit dem Finger? Wie ist das passiert?«

»Erfroren, fing an, langsam abzufaulen. Er hat ihn sich selbst abgeschnitten, um die restliche Hand zu retten.«

»Messer hatte er also dabei?«

Katharina schmunzelte über Olivers kriminalistischen Spürsinn. »Ja, ein Taschenmesser und sonst das, was ein normaler Bergsteiger für eine Eintageswanderung mitnimmt: Messer, Thermoskanne, Vliespulli, Regenjacke, zweites Hemd, zweite Socken und ein paar Kleinigkeiten.«

»Hat er vorgeführt, dass er das wirklich kann, Tiere töten, Felle gerben, Feuer machen?«

»Eigentlich bin ich die für die wilden Theorien«, grinste Katharina. »Wenn mein seriöser Freund überlegt, ob Adelhofer sich das alles nur ausgedacht hat, werde ich diese Spur selbstverständlich verfolgen. Vielleicht kann mir Alfred Birnhuber am Freitag einen Hinweis geben.«

»Wie heißt der? Birnhuber? Klingt eher danach, als könnte er dir Hinweise auf das beste Weißbier im Chiemgau geben. Ich gehe jetzt jedenfalls nach Hause. Morgen früh um 8 habe ich einen Termin beim Augenarzt und möchte ausgeschlafen dort ankommen.«

»Hast du ein Problem mit den Augen?« Katharina kannte die Antwort, aber es war klar, dass Oliver gefragt werden wollte.

»Nee, nur ein Check, sollte man ja alle zwei Jahre machen. Ich muss danach auch schnell in die Kanzlei. Meine neue Klientin bekommt anonyme Drohbriefe und wir prüfen, ob Polizeischutz möglich ist. Wahrscheinlich nicht, vielleicht kriege ich sie dann zumindest dazu, vorübergehend ins Frauenhaus zu gehen.«

Oliver verschwand und Katharina stellte überrascht fest, dass die Unterhaltung über Krankheiten heute quasi ausgefallen war. Seit ihrer Kindheit war sie es gewohnt, ihren Freund zu beruhigen, wenn er irgendwelche Symptome an sich feststellte und die sofort für eine schwere Krankheit hielt. Ihre Devise war eher »wird schon nichts sein«, was für Oliver oft die Rettung gewesen war. Welch ein Segen für beide, dass er ihr damals in der ersten Klasse durch die Haare gewuschelt hatte, dachte Katharina und trug die Weingläser in die Küche. Auf dem Weg ins Bad beschloss sie, Birgit um eine zusätzliche Recherche zu bitten: Was musste man können, um einen Winter in den Bergen zu überleben?

Mittwochvormittag,
»Monaco TV«, München

»Die ganz links ist Rebekka Waldus mit dem toten Baby. Daneben sitzt Hubert Sauter, dessen Frau sich umgebracht hat. Und zwischen ihm und deinem Vater, das ist Christoph Lachstein, dessen Freundin ermordet wurde.«

Es war 11 Uhr, Robert Adelhofer stand im Studio von »Krise« hinter der Deko und bekam von der Chefin vom Dienst die Gäste vorgestellt.

Die saßen in schwarzen Ledersesseln rund um einen ovalen Glastisch, auf dem Wassergläser standen und eine Vase mit weißen Calla.

Robert überblickte die Szenerie zufrieden und sagte:

»Gute Arbeit, Requisite, Redaktion, Regie. In der kurzen Zeit die Sendung dem Anlass gemäß hinzubekommen – Kompliment. Übrigens haben wir heute hohen Besuch. Darf ich vorstellen, Katharina Langenfels von »Fakten«. Sie wird dabei sein, weil sie eine große Story über mich, äh, über uns schreibt. Drum, höflicher Ton bitte, Ronnie, kein Gebrülle aus der Regie. Nicht durchs Bild laufen mit einer Flasche Wasser, Tanja. Und nicht schlafen an der Kamera, Bernd!« Den Gesichtern der Angesprochenen war deutlich anzusehen, was sie von Adelhofers Einlassungen hielten. Der selbst schien es allerdings nicht zu bemerken. Er nahm Katharina am Arm und führte sie weg von seiner Studiomannschaft.

»Frau Langenfels, es freut mich, dass Sie sich die Zeit nehmen, bei meiner Sendung zuzusehen.«

»Na, das ist wohl das Mindeste, wenn man über Robert Adelhofer schreibt. Außerdem ist es eine besondere Sendung heute. Ich hoffe, ich bin keine zu große Belastung für Sie. Sie haben ja keine leichte Aufgabe vor sich.« Dezent befreite sie sich aus Roberts Griff, der weiter ihren Arm festhielt.

Robert schien das nicht wahrzunehmen. Er schaute sie ernst an: »In keinem Fall sind Sie eine Belastung für mich. Eher das Gegenteil. Ich freue mich sehr, dass wir uns so schnell wiedersehen. Kommen Sie nach der Aufzeichnung in meine Garderobe. Vielleicht tauchen noch Fragen auf. Die beantworte ich Ihnen gerne.«

»Mal sehen, Herr Adelhofer, danke. Ist sicher für Ihren Vater nicht leicht, heute hierherzukommen, oder?« Einen kurzen Moment glaubte Katharina, ein verunsichertes Flackern in seinen Augen wahrzunehmen.

»Das habe ich natürlich auch gedacht. Ich hätte das niemals von meinem Vater verlangt. Er wollte unbedingt in die Sendung. Ich habe noch versucht, es ihm auszureden, aber keine Chance. Ich glaube, das ist für ihn Teil der Verarbeitung.«

Katharina nickte und nahm sich vor, am Freitag Alfred Birnhuber nach dem alten Adelhofer und dem Verhältnis zu seinen Söhnen zu fragen.

Sie ging in den Zuschauerbereich. Die üblichen weiblichen Adelhofer-Fans waren natürlich reichlich anwesend, die Zahl der Schönheitsoperierten im Raum überstieg deutlich den Gesamtschnitt in der Bevölkerung, davon war Katharina überzeugt. Sie sah viele enorme Körbchengrößen, die in großzügig dekolletierten Oberteilen zur Schau gestellt wurden, viele auffällig geschminkte Gesichter und toupierte Frisuren – irgendwie musste frau es ja schaffen, beautiful Robert aufzufallen. Und es gab biedere Mittfünfziger- und -sechzigerinnen, die wohl eher mitleiden wollten mit den Schicksalen wildfremder Menschen. Bei der einen oder anderen Dame lagen die Taschentücher bereit. Am Rand einer Stuhlreihe sah Katharina ein Transparent mit der Aufschrift »Robert und Max, wir trauern mit euch«. Sie selbst hatte man in der ersten Reihe platziert, wo sie sich hinsetzte und nun das bizarre Publikum im Rücken hatte.

Robert Adelhofer legte eine routinierte Probe hin, erklärte den Gästen, dass er die Fragen an sie erst in der Sendung stellen würde, damit sie nicht zweimal durch diese schwierige Situation durchmüssten. Er ergriff kurz die Hand der Mutter, die ihr Kind verloren hatte, strich dem Witwer über den Arm, vermied aber jegliches Gespräch.

Tränen will er natürlich erst in der Sendung sehen, dachte Katharina.

Max Adelhofer war noch nicht da, zumindest das hatte ihm sein Sohn wohl erspart. Nach einer halben Stunde war die Probe vorbei und das Studio so ausgeleuchtet, dass später jede Gefühlsregung bestmöglich und in Großaufnahme gezeigt werden konnte. Robert Adelhofer verschwand hinter den Kulissen, sein Vater wurde hereingeführt. Er setzte sich mechanisch auf den noch freien Sessel und schaute vor sich hin. Die übrigen Gäste wurden noch mal im Gesicht abgepudert – Max Adelhofer hatte dies offenbar bereits hinter sich –, dann begann die Aufzeichnung. Katharina vermutete, dass die Verantwortlichen sich nicht trauten, »Krise« live zu senden. So konnten zu heftige Passagen rausgeschnitten oder bei zu wenig Tränen ein Gespräch noch mal rührseliger wiederholt werden. Heute würde dies vermutlich nicht nötig sein.

Robert Adelhofer betrat – dem Anlass entsprechend begleitet von getragener Musik – das Studio.

Er trug einen schwarzen Anzug und ging mit ernster Miene auf den freien Sessel neben seinem Vater zu, streichelte ihm kurz über den Arm und setzte sich.

Max Adelhofer saß mit versteinerter Miene neben seinem Sohn. Die drei anderen Gäste wirkten nervös.

»Herzlich willkommen zu ›Krise‹, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Dass dies keine normale Sendung für mich ist, wissen Sie. Der Mann neben mir ist mein Vater und der Vater meines verstorbenen Bruders Lukas. An ihn wollen wir heute voller Trauer erinnern, ebenso wie an die lieben Verstorbenen meiner anderen Gäste. Und wir wollen heute auch an die guten Zeiten denken, an die schönen Dinge, die wir mit unseren Lieben erlebt haben.«

Robert zog einen Zettel aus der Tasche:

»Um meinen Bruder zu ehren, möchte ich Ihnen eine kleine Botschaft vorlesen, die er mir vor meinem Bergwinter zukommen ließ.«

Raunen im Zuschauerraum, selbst die bestinformierten Adelhofer-Fans schienen von der Existenz einer solchen Nachricht nichts zu wissen:

»Robert, ich pass auf dich auf.«

Adelhofers Augen wurden feucht, als er den Zettel wegsteckte.

»Dieser Satz war der Leitsatz meiner Kindheit. Sobald der kleine Bruder in Schwierigkeiten geriet, und das tat er oft, gell Papa«, lächelnder Blick zu Max Adelhofer, der nach wie vor nicht aus seiner Erstarrung erwachte. »Ja, äh, also, wenn ich Probleme hatte, hat mein großer Bruder genau das zu mir gesagt. Und es hat gestimmt. Er hat mich jedes Mal rausgehauen, egal ob es eine sechs in Mathe war und er zu meinem Lehrer gegangen ist oder er die Bäckerin beschwichtigt hat, der ich eine Brezn stibitzt hatte, das war mein großer Bruder Lukas. Ich hoffe, er passt von oben auf mich auf.«

Ein kräftiger Schnäuzer ins Taschentuch und weiter ging es.

Nun erzählten die Gäste rührende Geschichten über die Verstorbenen. Rebekka Waldus konnte nicht mehr aufhören zu weinen, nachdem sie stockend berichtet hatte, dass ihr Baby sie an dem Nachmittag, als es starb, zum ersten Mal angelächelt hatte.

Max Adelhofer zeigte weiterhin keine Regung. Er saß stocksteif da und starrte vor sich hin.

Robert sprach ihn direkt an: »Papa, was möchtest du gern vom Lukas in Erinnerung behalten?«

Der alte Adelhofer hob den Kopf und schaute seinen Sohn an.

Angespannte Stille im Studio. Robert Adelhofer legte seinem Vater die Hand auf den Arm und fragte: »Magst uns was erzählen vom Lukas, Papa?«

Der alte Adelhofer schüttelte nur den Kopf.

Raunen im Zuschauerraum. Robert schien sich zu sammeln.

Die Hand auf dem Arm seines Vaters erklärte er:

»Mein Vater wollte Lukas zuliebe heute hierherkommen, damit die Öffentlichkeit erfährt, was für ein wertvoller Mensch sein Sohn war. Wir alle, und Sie sicher auch, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, haben natürlich Verständnis dafür, dass er das nun doch nicht fertigbringt. Niemand muss reden in meiner Sendung. Es ist völlig in Ordnung, nur dabei zu sein und die Anteilnahme der anderen zu spüren. Die tut allen meinen heutigen Gästen, auch meinem Vater und mir, sehr gut in dieser für uns so schwierigen Zeit.«

Es folgte eine letzte Gesprächsrunde zum Thema Trauerbewältigung, bei der Robert seinen Vater vorsichtshalber gar nicht erst ansprach. Danach Abspann, Ende.

Die Zuschauer applaudierten verhalten, Robert verabschiedete sich. Zumindest ließ er sich heute nicht wie sonst feiern, wenn vor der Show Einheizer mit dem Publikum trainierten, wann und wie lange zu klatschen war. Das hatte Katharina in einer Reportage über »Krise« gelesen.

Robert Adelhofer verließ das Studio mit gesenktem Kopf und hob nur einmal die Hand in Richtung der Zuschauer. Direkt nach ihm stand sein Vater auf und ging mechanisch und ohne aufzublicken.

Nachdem Gäste und Moderator sich zurückgezogen hatten, standen die Zuschauer auf und Katharina hörte beim Hinausgehen Kommentare wie: »Gut gemacht«, »der arme Vater«, »hat er sich wohl überschätzt, wahrscheinlich ist er nur Robert zuliebe gekommen«, »bestimmt ist die ganze Familie kaputt«. Niemand sprach über die anderen Gäste. Viele Zuschauerinnen verließen mit verweinten Augen erschüttert das Studio.

Katharina beschloss nach dieser seltsamen Sendung, Adelhofers Angebot anzunehmen, und machte sich auf den Weg hinter die Kulissen. Diesmal wusste Achim Wedel Bescheid und geleitete sie zuvorkommend zu den Garderoben. Die Tür mit dem Namensschild »Max Adelhofer« stand offen und Katharina sah, dass der Raum leer war. Robert Adelhofer nebenan war allein und begrüßte sie freundlich.

»Ist Ihr Vater gleich abgefahren?«

Adelhofers Miene wurde ernst. »Ja, ich hätte es doch verhindern sollen, dass er kommt. Aber er wollte es unbedingt. Ich dachte, das ist wichtig für ihn, ich gebe ihm die Möglichkeit. Jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war, ein großer Fehler.«

Er schaute betrübt vor sich hin. Katharina sagte nichts.

Nach einer Weile räusperte Adelhofer sich. »Noch mal wegen der Fotos aus den Bergen, Frau Langenfels. Es ist mir etwas peinlich, aber ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe geflunkert in der Sendung damals. Ich wollte verhindern, dass die Leute alle auf meine Lieblingsberge rennen in der Hoffnung, mich zu treffen. Im Prinzip der gleiche Grund, warum ich nicht genau sage, wo ich war in meinem Bergwinter. Das wissen Sie sicher.« Katharina nickte.

»Ich habe damals völlig unterschätzt, wie bekannt ich schon war. Auf der Kampenwand war ich dann sofort umringt von Fans, die Fotos haben Sie wohl gemeint.« Adelhofer schaute Katharina erwartungsvoll an. Sie reagierte nicht.

Er räusperte sich und fuhr fort. »Na ja, wie auch immer, diese Fotos gibt es jedenfalls und mehr nicht. Hat sich tatsächlich nicht gut angefühlt, in den Bergen zu sein, das wollte ich testen.«

Katharina nickte.

»Gut, danke für Ihre Offenheit. Ich werde das vorerst nicht veröffentlichen, dies nur als Info. Morgen erscheint mein zweiter Artikel über Sie, ich werde mich auf die Beerdigung, unser Gespräch danach, die heutige Sendung und den Auftritt Ihres Vaters konzentrieren.«

»Wunderbar, Frau Langenfels, wunderbar. Und Sie können ruhig schreiben, dass ich einen Riesenfehler gemacht habe, dass ich meinen Vater hätte abhalten sollen zu kommen.«

»Mal sehen. Dazu bräuchte ich ein Statement Ihres Vaters, damit will ich ihn derzeit aber nicht belästigen. Ich denke, ich werde einfach bei dem bleiben, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.«

»Wie Sie meinen. Entschuldigen Sie mich bitte, ich würde mich gern abschminken.« Katharina verließ einen leicht unterkühlten Robert Adelhofer.

Währenddessen ging eine der anderen Zuschauerinnen bestens gelaunt zum Parkplatz. Im Auto, das sie abseits gestellt hatte, nahm sie die dunkle Perücke ab. Dunkelbraune Locken, die ihre Frisur plattdrückten. Sie hatte ein echtes Opfer gebracht. In diesem Fall war es ihr das wert. Diese Show wollte sie sich nicht entgehen lassen. Der alte Adelhofer hatte ihr fast ein bisschen leidgetan. Aber nur ein bisschen. Irgendwie waren sie alle selbst schuld. Der trauernde Bruder und der trauernde Vater – das hätten sie sich vielleicht früher überlegen müssen. Ihr Plan schien jedenfalls aufzugehen. Das war das Wichtigste. Jetzt erst mal notdürftig die Frisur richten, in diesem Zustand konnte sie nicht losfahren. Sie nahm Haarspray und einen Kamm aus einer Tasche vom Beifahrersitz und richtete im Rückspiegel die blonde Welle. Normalerweise brauchte sie morgens eine Stunde, bis das Haar perfekt saß – schön nach außen geföhnt und mit Haarspray zum festen Stand gebracht –, hier musste ausnahmsweise die schnelle Variante reichen. Als sie fertig war, folgte der übliche Sicherheitsblick in den Spiegel – für die begrenzten Möglichkeiten hier im Auto nicht schlecht. Ihre Frisur war ihr Kapital, ihr Erfolg bei Männern hatte nicht nur mit ihren inneren Werten zu tun. Lächelnd griff sie in ihre Handtasche. Sie brauchte etwas Süßes, ihre Belohnung, wenn sie besonders stolz auf sich war. Sie biss in ihren Lieblingsschokoriegel, grinste ihr Spiegelbild im Rückspiegel an und dachte an ihr nächstes Opfer. Der wusste noch nichts von seinem Glück. Das würde sich bald ändern. Und seine kleine Ehefrau konnte mit ihren zwei lieben Kinderlein die Sachen packen und Leine ziehen. Sie, Jana, würde ihn glücklich machen.

Summend startete sie ihren kleinen Flitzer. Ein rotes Peugeot Cabrio, ihr Traumauto. Der kleine Deal hatte es möglich gemacht.

Sie trat aufs Gas und düste Richtung Heimat.

Plötzlich im Auto vor ihr: Lukas, er starrte sie im Rückspiegel an. Erschrocken verriss sie das Lenkrad und schlitterte kurz auf die Gegenfahrbahn. Hupen, quietschende Bremsen, erschrockene Gesichter in entgegenkommenden Autos. Sie lenkte schnell – zu schnell – zurück auf ihre Spur und schlingerte auf den Seitenstreifen. Kurz vor den Leitplanken kam sie zum Stehen. Der Fahrer im Wagen vor ihr hatte angehalten. Er schaute kopfschüttelnd zu ihr, als er weiterfuhr. War nicht Lukas, nur auch ein Blonder.

»Janalein, nicht die Nerven verlieren, keep cool, läuft alles nach Plan.« Mit zittrigen Knien startete sie erneut ihren Flitzer und brauste Richtung München.

Noch früh am Tag, stellte Katharina fest, als sie um 14.30 Uhr das Fernsehstudio verließ. Um Birgits kleine Missstimmung endgültig auszuräumen, beschloss sie, mit ihr als Erster die Erlebnisse zu teilen.

Svenja musste sie erst um 17 Uhr abholen, sie hatte ausnahmsweise Zeit.

Als sie an Birgits Bürotür klopfte, kam von drin ein ungewohnt lustloses »herein«. Katharina öffnete und sah ihre Freundin in sich zusammengesunken am Fenster stehen. Das einzig Lebensfrohe war ihre Kleidung: ein pinkfarbenes knallenges Strickkleid mit beeindruckendem Rückendekolleté. Es ermöglichte den Blick auf zwei lila BH-Träger mit Spitzenbesatz. Dazu trug Birgit High Heels in Rot. Katharina würde es eine gewagte Kombi nennen, Birgit pflegte zu sagen: »Heutzutage kann man alles mit allem kombinieren, Katharina, trau dich was. Kreiere deinen eigenen Style.«

»Birgit, was ist los?«

»Ach, ich habe Daten vom Adelhofer in einer Cloud entdeckt. Aber die sind verschlüsselt und ich komme nicht rein. Das nervt mich. Themawechsel. Warum bist du überhaupt hier? Ich dachte, du bist bei Roberts Sendung?«

»Schon vorbei.« Katharina ließ sich in den knallbunten Ohrensessel fallen, mit dem Birgit ihr Büro aus privaten Beständen aufgehübscht hatte.

»Und danach wollte Robert nicht noch einen kleinen Plausch mit seiner Lieblingsjournalistin halten?« Birgit setzte sich Katharina gegenüber auf ihren Bürostuhl, der pinkfarbene Strick rutschte nach oben, sodass eine orangerote Strumpfhose besser zur Geltung kam.

»Doch. Papa Adelhofer hat keinen Ton gesagt in der Sendung, ich glaube nicht, dass Robert das recht war. Jedenfalls wirkten beide sehr eigenartig. Vorher und nachher hat Robert mir versichert, sein Vater sei absolut freiwillig gekommen, wolle damit den Tod von Lukas verarbeiten.«

Katharina schilderte ihrer Freundin Adelhofers Statement zu den Kampenwand-Fotos und ihre Einschätzung dazu. »Vielleicht stimmt das sogar, dass er seine Bekanntheit unterschätzt hat. Ich glaube aber eher, er ist so scharf auf Publicity, dass er bewusst auf die Kampenwand gerannt ist, um erkannt zu werden. Und an seine erste Sendung und die Story vom Bergtrauma hat er nicht mehr gedacht.«

Birgit seufzte: »Weißt du, ein bisschen schade finde ich es schon, dass langsam mein schönes Bild vom Gutmensch Robert Adelhofer in die Binsen geht.«

»Tja, in diesem Fall kann ich nicht mal sagen, dass es mir leidtut. Vielleicht gibt’s noch was, was dein Adelhofer-Bild endgültig zum Einsturz bringt: Oliver hat mich gestern gefragt, ob es eigentlich Beweise gibt, dass Robert diesen Bergwinter wirklich so durchgestanden hat, wie er behauptet. Klar, er hat das tausendmal erzählt und erklärt. Das kann man sich theoretisch aber auch alles anlesen. Drum folgende Idee: Du recherchierst, ob das so gewesen sein kann, wie Robert Adelhofer es schildert, sprichst mit Experten, findest raus, was man wissen und können muss, um einen Winter in den Bergen zu überleben. Wir schauen …«

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22 декабря 2023
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9783734994944
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