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Eines Morgens standen sie plötzlich vor seiner khaima. Der alte Mann hatte schon fast die Schwelle des Todes überschritten, und der junge, der ihn während der letzten Tage auf der Schulter getragen hatte, konnte nur noch ein paar Worte flüstern, bevor er ohnmächtig zu Boden sank.

Gacel befahl, das beste Zelt für die beiden herzurichten. Seine Sklaven und seine Söhne kümmerten sich Tag und Nacht um sie. Es war ein verzweifelter Kampf, mit dem Ziel, die beiden Männer - aller Erfahrung zum Trotz - in der Welt der Lebenden zurückzuhalten. Ohne Kamele, ohne Wasser, ohne Führer und ohne selbst zu den Wüstenbewohnern zu zählen, mußte es als ein himmlisches Wunder erscheinen, daß es den beiden gelungen war, den heftigen, dichten Schirokko der letzten Tage zu überleben.

Allem Anschein nach waren sie länger als eine Woche ziellos zwischen den Dünen und der Steinwüste umhergeirrt. Sie wußten selbst nicht zu sagen, woher sie kamen, wie sie hießen und wohin sie unterwegs waren. Man hätte glauben können, sie seien unversehens mit einer der Sternschnuppen zur Erde gestürzt; Gacel besuchte sie jeden Morgen und dann noch einmal am Nachmittag. Ihr städtisches Aussehen und ihre Kleidung, die sich so schlecht für die Wüste eignete, bereiteten ihm ebenso Kopfzerbrechen wie die unverständlichen Sätze, die sie im Schlaf sagten - in einem so reinen, gebildeten Arabisch, daß der Targi mit ihnen kaum

etwas anfangen konnte.

Endlich, in der Abenddämmerung des dritten Tages,stellte er fest, daß der Jüngere der beiden zu sich gekommen war. Seine erste Frage lautete, ob sie noch weit von der Grenze entfernt seien.

Gacel blickte ihn überrascht an. »Grenze?« wiederholte er.

»Welche Grenze? Die Wüste hat keine Grenzen - jedenfalls kenne ich keine.«

»Trotzdem muß es eine geben«, beharrte der andere. »Sie verläuft irgendwo hier in dieser Gegend ...«

»Die Franzosen brauchen keine Grenzen«, wandte Gacel ein. »Sie beherrschen die Sahara von einem Ende zum anderen.«

Der Unbekannte stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete ihn verwundert.

»Franzosen?« sagte er. »Die Franzosen sind schon seit Jahren fort... Wir sind jetzt

unabhängig«, fügte er hinzu. »Die Wüste gehört nun freien, unabhängigen

Nationen. Wußtest du das nicht?«

Gacel dachte kurz darüber nach. Jemand hatte ihm irgendwann einmal gesagt, daß ganz weit oben im Norden ein Krieg tobte und daß die Araber versuchten, das Joch der roumis abzuschütteln. Aber er, Gacel, hatte dem keine Bedeutung beigemessen, denn die Anfänge jenes Krieges reichten in eine Zeit zurück, an die sich nicht einmal sein Großvater hatte erinnern können. Für ihn, Gacel, bedeutete Unabhängigkeit die Möglichkeit, allein durch das Land zu streifen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn aufzusuchen und ihm mitzuteilen, daß er einer neuen Nation angehörte.

Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, das wußte ich nicht.« Und ein wenig verwirrt fügte er hinzu: »Ich wußte auch nicht, daß es eine Grenze gibt. Wer könnte schon eine Grenze durch die Wüste ziehen? Wer will verhindern, daß der Wind den Sand von einer Seite auf die andere trägt? Wer könnte den Menschen untersagen, diese Grenze zu überschreiten?«

»Die Soldaten.«

Gacel blickte den anderen verblüfft an. »Soldaten? In der ganzen Welt gibt es nicht genug Soldaten, um eine Grenze in der Wüste zu bewachen! Außerdem haben die Soldaten Angst vor der -Wüste.« Er lächelte leise unter dem Schleier, der sein Gesicht bedeckte und den er in Gegenwart von Fremden nie ablegte. »Nur wir, die imohar, fürchten die Wüste nicht. Soldaten ergeht es hier wie verschüttetem Wasser: der Wüstensand verschluckt sie.«

Der junge Mann wollte etwas sagen, aber der Targi sah ihm an, wie müde er war,und drückte ihn zurück in die weichen Kissen.

»Du mußt dich schonen«, mahnte er. »Du bist noch sehr schwach. Morgen reden wir miteinander. Vielleicht geht es dann auch deinem Freund besser.« Er wandte sich um und warf einen Blick auf den Alten. Zum ersten Mal begriff er, daß der Mann wohl nicht so alt war, wie er zunächst geglaubt hatte, obwohl er weißes, schütteres Haar und ein zerfurchtes Gesicht mit tiefen Falten hatte. »Wer ist das?«fragte er.

Der andere zögerte sekundenlang. Dann schloß er die Augen und sagte langsam mit leiser Stimme: »Ein Weiser. Er erforscht die Geschichte unserer Ahnen. Wir waren unterwegs nach Dajbadel, aber dann hatte unser Lastwagen eine Panne.«

»Bis Dajbadel ist es sehr weit«, bemerkte Gacel, aber der junge Mann hörte ihn nicht mehr. Er war in tiefen Schlaf gefallen. »Sehr, sehr weit, Richtung Süden ...

Soweit bin ich noch nie gekommen.«

Lautlos verließ er das Zelt. Draußen im Freien hatte er plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Es war wie eine Vorahnung, und er hatte bisher noch nie so empfunden. An diesen beiden so harmlos wirkenden Männern war etwas, das ihn beunruhigte. Sie trugen keine Waffen, und ihr Äußeres deutete auf keine Gefahr hin, aber sie waren umgeben von einer unsichtbaren Aura der Furcht - und genau diese Furcht spürte Gacel.

»... erforscht die Geschichte unserer Ahnen ...«, hatte der Jüngere der beiden gesagt. Aber das Gesicht des anderen trug die Spuren von soviel Leid, wie sie sich auch während der Woche des Durstes und des Hungers in der Wüste nicht in seine Züge hätten graben können.

Gacel blickte sich in der Abenddämmerung um, als könnte er dort die Antwort auf seine Fragen finden. Der Geist, von dem er als Targi beseelt war, und die tausendjährigen Überlieferungen der Wüste sagten ihm unüberhörbar, daß er richtig gehandelt hatte, als er die beiden Fremdlinge unter seinem Dach aufnahm, denn Gastfreundschaft war das erste Gebot des ungeschriebenen Gesetzes, dem alle imohar gehorchten. Doch der Instinkt eines Menschen, der gewohnt ist, sich von seinen Vorahnungen leiten zu lassen, und der sechste Sinn, der ihn so viele Male vor dem Tod bewahrt hatte, flüsterten ihm ein, daß er ein großes Risiko eingegangen war und daß die beiden Männer den Frieden bedrohten, den er sich mit soviel Mühe erkämpft hatte.

Plötzlich stand Laila neben ihm, und seine Augen freuten sich an der süßen Gegenwart und der erblühenden Schönheit des Mädchens. Sie war halb Kind, halb Frau und hatte dunkle Haut. Den älteren Männern zum Trotz, die meinten, ein amahar dürfe nicht die Ehe mit einer Frau aus den Reihen der verachteten iklan- Sklaven eingehen, hatte er sie zu seiner Frau gemacht.

Sie setzte sich neben ihn, schaute ihn unverwandt aus ihren riesigen schwarzen Augen an, die stets voller Leben und geheimnisvoller Spiegelungen waren, und fragte mit leiser Stimme: »Du machst dir Sorgen wegen dieser Männer, nicht wahr?«

»Nein, nicht ihretwegen«, antwortete er nachdenklich, »sondern wegen etwas, das sie wie ein Schatten oder ein Geruch umgibt.«

»Sie kommen von weit her, und alles, was von weit her kommt, beunruhigt dich, weil meine Großmutter vorausgesagt hat, daß du nicht in der Wüste sterben wirst.«

Mit einer scheuen Gebärde streckte sie ihre Hand aus und berührte leicht die seine.

»Meine Großmutter hat sich oft getäuscht«, fuhr sie fort. »Bei meiner Geburt prophezeite sie mir eine düstere Zukunft, aber dann wurde ich die Frau eines Edlen, fast eines Fürsten.«

Gacel lächelte sie zärtlich an. »Ich erinnere mich an deine Geburt«, sagte er. »Es kann nicht viel länger als fünfzehn Jahre her sein ... Deine Zukunft hat kaum begonnen ...«

Es schmerzte ihn, sie traurig gemacht zu haben, denn er liebte sie. Als amahar durfte er sich zwar Frauen gegenüber nicht allzu weich zeigen, aber immerhin war sie die Mutter des letzten seiner Söhne. Deshalb öffnete er jetzt die Faust und umschloß ihre Hand mit der seinen.

»Vielleicht hast du recht, und die alte Khaltoum hat sich geirrt«, meinte er.

»Niemand kann mich zwingen, die Wüste zu verlassen und in der Ferne zu sterben.«

Sie schwiegen lange und ließen die Stille der Nacht auf sich wirken. Gacel fühlte, wie ihn erneut ein Gefühl des Friedens durchströmte.

Gewiß, die dunkelhäutige Khaltoum hatte ein Jahr im voraus die Krankheit prophezeit, die dann seinen Vater unter die Erde brachte. Sie hatte auch die große Dürre vorausgesagt, die die Brunnen versiegen und jeden Grashalm in der Wüste verdorren ließ, so daß Hunderte von Tieren starben, obwohl sie von Anbeginn an Durst und Trockenheit gewöhnt waren. Die alte Sklavin redete aber auch oftmals um des Redens willen, und ihre Visionen schienen häufig eher die Ausgeburt eines greisen Gehirns als echte Vorahnungen zu sein.

»Wer lebt am anderen Ende der Wüste?« brach Laila schließlich das lange Schweigen. »Ich bin noch nie über die Berge von Huaila hinausgekommen.«

»Menschen, viele Menschen«, antwortete Gacel. Er dachte über seine Erlebnisse in El-Akab und in den Oasen des Nordens nach. Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Dort gefällt es den Menschen, sich auf engstem Raum zusammenzuscharen oder in engen, übelriechenden Häusern zu wohnen. Sie machen viel Lärm und schreien sich grundlos an, sie bestehlen und betrügen sich und sind wie Tiere, die nur in einer Herde leben können.«

»Warum?«

Gern hätte er eine Antwort darauf gegeben, denn Lailas Bewunderung für ihn erfüllte ihn mit Stolz. Aber er wußte keine. Er war ein amahar, geboren und aufgewachsen in der Einsamkeit dieses großen, leeren Landes. Mochte er sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, so konnte er dennoch nicht begreifen, was die vielen Menschen zueinandertrieb und was es mit jenem Herdentrieb auf sich hatte, dem die Männer und Frauen anderer Stämme offenbar so bereitwillig nachgaben.

Gacel bewirtete mit Freuden alle seine Besucher und liebte es, mit anderen Menschen rund um ein Feuer zu sitzen, alte Geschichten zu erzählen und die kleinen Vorkommnisse des Alltags zu besprechen. Doch später, wenn die Glut langsam erlosch und das schwarze Kamel, das auf seinem Rücken den Schlaf herbeibrachte, lautlos und unsichtbar durch das Zeltlager schritt, begab sich ein jeder zu seinem abseits gelegenen Zelt, um mit sich allein zu sein, in tiefen Zügen zu atmen und sich an der Stille zu erfreuen.

In der Sahara hatte jeder Mensch die Zeit, den Frieden und die geeigneten Lebensumstände, um zu sich selbst finden zu können. Er konnte den Blick auf die Ferne, aber auch auf sein Inneres richten, die ihn umgebende Natur betrachten und über all die Dinge nachdenken, die er nur aus den heiligen Büchern kannte. In den fernen Städten hingegen, in den Dörfern und sogar in den winzigen Berbersiedlungen gab es keinen Frieden, keine Zeit und keine Weite. Dort betäubten sich die Menschen mit Lärm und unnötigen Problemen, sie zankten sich untereinander und stritten mit Fremden, so daß man immer den Eindruck hatte, daß es im Leben jener Menschen viel bedeutsamere Dinge gab als alles, was einem selbst wichtig war.

»Ich weiß es nicht«, gab Gacel schließlich widerwillig zu. »Ich habe nie herausgefunden, warum sich die Menschen so verhalten, warum sie so eng beieinander leben und voneinander abhängig sind ... Ich weiß es nicht...«, sagte er noch einmal. »Und ich habe auch noch niemanden getroffen, der es mir genau erklären konnte.«

Das Mädchen betrachtete ihn lange. Vielleicht staunte sie darüber, daß der Mann, der ihr ganzes Leben bestimmte und von dem sie alles gelernt hatte, was sich im Leben zu wissen lohnte, auf eine ihrer Fragen keine Antwort wußte. Soweit sie zurückdenken konnte, war Gacel immer alles für sie gewesen: zuerst der Herr, der für sie, das Kind von iklan-Sklaven, fast so etwas wie ein Gott war, und dem nicht nur sie mit Leib und Leben gehörte, sondern auch ihre Eltern, ihre Brüder, deren Vieh und alles andere, woraus ihre Welt bestand. Später, als sie heranwuchs und zum ersten Mal ihre Regel hatte, war er es gewesen, der sie eines Tages zur Frau machte. Er hatte sie zu sich in sein Zelt gerufen und sie genommen, bis sie vor Lust stöhnte, ähnlich wie die anderen Sklavinnen, wenn nachts der Ostwind wehte. Bald war er ihr Geliebter geworden, der ihr wie im Flug das Paradies eröffnete. Nun war er wirklich ihr Herr, dem sie nicht nur als Sklavin gehörte, denn jetzt besaß er auch ihre Seele und wohnte in ihren Gedanken. Er erweckte in ihr geheime Wünsche und nie gekannte Instinkte.

Sie sagte lange nichts, aber als sie gerade sprechen wollte, wurde sie durch das Erscheinen des ältesten Sohnes ihres Gatten daran gehindert. Er kam von der am weitest entfernten seriba auf sie zugelaufen.

»Die Kamelstute wird bald werfen, Vater!« rief er. »Und die Schakale machen die Runde ...«

Er begriff sofort, daß das Gespenst seiner Furcht greifbare Formen annahm, als er am Horizont eine Staubwolke erblickte, die wie eine Säule in den Himmel ragte und dort lange reglos verharrte, denn um diese mittägliche Stunde strich nicht der leiseste Windhauch über die endlose Ebene. Die Fahrzeuge - denn um mechanische Fahrzeuge mußte es sich handeln, sonst wären sie nicht so schnell näher gekommen - zogen in der glasklaren Luft der Wüste einen schmutzigen Schweif aus Qualm und Staub hinter sich her.

Bald wurde aus dem entfernten Brummen der Motoren ein lautes Dröhnen, das die Skorpione, die Wüstenfüchse und die Schlangen erschreckte. Schließlich war auch das Kreischen von Bremsen zu hören, und wütende Stimmen bellten Befehle, nachdem die Fahrzeuge fünfzehn Schritte vom Zeltlager entfernt in einer Wolke aus Schmutz und Staub zum Stehen gekommen waren. Bei ihrem Anblick erstarrte alles, was lebte und sich bewegte, zur Reglosigkeit. Die Augen des Targi, seiner Frau, seiner Söhne, seiner Sklaven und sogar seiner Tiere waren unverwandt auf die Säule aus Staub und auf die mechanischen, dunkelbraunen Monster gerichtet.

Furchtsam wichen die Kinder und die Tiere davor zurück, während die Sklavinnen sich eilig im hintersten Winkel ihrer Zelte verkrochen, um sich den Blicken der Fremdlinge zu entziehen.

Gacel trat ohne Hast vor. Er zog den Schleier vors Gesicht, wie es ihm als edlem Targi, der die Überlieferungen achtete, geziemte. Auf halbem Weg zwischen den Ankömmlingen und der größten khaima blieb er stehen und machte dadurch wortlos klar, daß die Fremdlinge erst näher treten durften, wenn er es ihnen gestattete und sie als seine Gäste aufnahm.

Als erstes fiel ihm das schmutzige Grau der staubigen, verschwitzten Umformen auf, dann die stählerne Feindseligkeit der Karabiner und Maschinengewehre und schließlich der widerwärtige Geruch, der den Stiefeln und Lederriemen entströmte.

Am Ende blieb sein Blick voller Verwunderung auf einem hochgewachsenen Mann ruhen, der einen blauen Gesichtsschleier und einen gewickelten Turban trug.

Er erkannte ihn als Mubarrak-ben-Sad, einen amahar aus dem »Volk der Lanze«,der einer der geschicktesten und verläßlichsten Fährtensucher der Wüste war. Er genoß weithin einen Ruhm, der fast dem von Gacel Sayah, dem »Jäger«, gleichkam.

»Assalamu aleikum«, sagte Gacel zur Begrüßung.

»Metulem metulem«, erwiderte Mubarrak. »Wir suchen zwei Männer, zwei Fremdlinge ...«

»Sie sind meine Gäste«, sagte Gacel ruhig. »Und sie sind krank.«

Der Offizier, der offenbar den kleinen Trupp befehligte, trat ein paar Schritte vor.

Die Sterne am Ärmel seiner Uniform blitzten, als er den Targi mit einer Handbewegung beiseite schieben wollte, doch Gacel machte eine rasche Bewegung und versperrte ihm den Weg ins Zeltlager.

»Diese Männer sind meine Gäste«, betonte er noch einmal.

Der Offizier blickte ihn verständnislos an, als wüßte er nicht, was die Worte des Targi bedeuteten. Gacel begriff augenblicklich, daß er keinem Mann aus der Wüste gegenüberstand. Seine Art sich zu bewegen und der Ausdruck seiner Augen sprachen von einer fremden Welt und fernen Städten. Gacel wandte sich Mubarrak zu, der ihn sofort verstand und dem Offizier erklärte:

»Die Gastfreundschaft ist bei uns heilig. Sie ist Gesetz und älter als der Koran.«

Der Uniformierte mit den Sternen am Ärmel zögerte sekundenlang; er reagierte fast ungläubig auf die scheinbar absurde Erklärung und schickte sich an weiterzugehen.

»An diesem Ort vertrete ich das Gesetz«, sagte Gacel mit scharfer Stimme, »und hier gilt nur ein Gesetz!«

Der andere war schon an ihm vorbei, aber Gacel packte ihn mit ganzer Kraft am Unterarm, drehte ihn herum und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen.

»Unsere Überlieferungen sind tausend Jahre alt, aber du zählst kaum fünfzig«, sagte er leise und mit gepreßter Stimme. »Laß meine Gäste in Frieden!«

Der Offizier machte nur eine Handbewegung: mit metallischem Klicken wurden zehn Karabiner entsichert. Der Targi sah, daß die Mündungen der Waffen auf seine Brust gerichtet waren, und er begriff, daß jeder Widerstand vergeblich wäre. Mit einer herrischen Geste schüttelte der Uniformierte die Hand ab, die ihn noch immer umklammert hielt, zog die Pistole, die in seinem Gürtel steckte, und ging geradewegs auf das größte der Zelte zu.

Er verschwand im Eingang, und ein paar Sekunden später ertönte ein trockener, harter Knall. Der Uniformierte kam wieder heraus und gab zweien seiner Soldaten einen Wink. Sie liefen zu ihm hin, gingen hinter ihm her ins Zelt und schleppten den alten Mann ins Freie. Er warf den Kopf hin und her und weinte leise vor sich hin, als wäre er aus einem langen, süßen Traum in die bittere Wirklichkeit zurückgekehrt.

Die Männer gingen an Gacel vorbei und kletterten auf einen der Lastwagen. Der Offizier nahm vorne in der Fahrerkabine Platz. Er starrte Gacel feindselig an und schien um einen Entschluß zu ringen. Schon befürchtete Gacel, daß die Prophezeiung der alten Khaltoum sich nicht bewahrheiten, sondern daß man ihn hier an Ort und Stelle erschießen würde, tief im Herzen der Wüste, doch dann gab der Offizier dem Fahrer des Lastwagens ein Zeichen, und die Fahrzeuge fuhren in der Richtung davon, aus der sie gekommen waren.

Mubarrak, der amahar aus dem »Volk der Lanze«, sprang auf den letzten Lastwagen. Seine Augen waren starr auf den Targi gerichtet, bis er von der Staubwolke verschluckt wurde. Aber in diesen wenigen Augenblicken begriff Mubarrak, was in Gacels Seele vorging. Angst stieg in ihm auf. Es war nicht ratsam, einen amahar vom »Volk des Schleiers« zu demütigen, das war Mubarrak klar. Es war nicht ratsam, ihn zu demütigen und ihn dann am Leben zu lassen. Aber genausowenig wäre es ratsam gewesen, ihn umzubringen und so einen Krieg zwischen Brudervölkern zu entfachen. Gacel Sayah hatte Freunde und Verwandte, die nicht umhingekommen wären, in den Kampf zu ziehen. Das Blut dessen, der nur versucht hatte, den alten Gesetzen der Wüste Geltung zu verschaffen, hätten sie mit noch mehr Blut gerächt.

Gacel selbst blieb äußerlich ganz ruhig. Er blickte dem sich entfernenden Konvoi nach, bis sich Staub und Lärm gänzlich in der Ferne verloren hatten. Erst dann begab er sich ohne Hast zu dem großen Zelt, vor dem sich schon seine Söhne, seine Frau und seine Sklaven drängten. Er hätte das Zelt nicht betreten müssen, denn er wußte bereits, was ihn erwartete. Der junge Mann lag noch genauso da wie bei ihrem letzten Gespräch. Seine Augen waren geschlossen. Der Tod hatte ihn im Schlaf überrascht. Ein kleines, rotes, kreisrundes Loch in der Stirn war die einzige Veränderung, die an ihm festzustellen war. Gacel betrachtete ihn lange mit einer Mischung aus Schmerz und Wut. Dann rief er Suilem zu sich.

»Begrabt ihn!« befahl er. »Und sattelt danach mein Kamel!«

Zum ersten Mal in seinem Leben widersetzte sich der alte Suilem dem Willen seines Herrn: Nach einer Stunde trat er wieder ins Zelt, warf sich Gacel zu Füßen und wollte ihm die Sandalen küssen. »Tu es nicht!« bettelte er. »Du wirst nichts damit erreichen!«

Angewidert trat Gacel einen Schritt zurück. »Glaubst du etwa, ich könnte eine solche Kränkung einfach hinnehmen?« fragte er mit heiserer Stimme. »Glaubst du,ich könnte in Frieden weiterleben, nachdem ich zugelassen habe, daß man einen meiner Gäste ermordet und den anderen fortschleppt?«

»Aber was konntest du dagegen tun?« wandte der alte Suilem ein. »Sie hätten dich auch umgebracht!«

»Ich weiß, doch ich werde mich für diese Beleidigung rächen!«

»Aber was bringt dir das ein?« beharrte der dunkelhäutige Suilem. »Kannst du damit etwa einen Toten zum Leben erwecken?«

»Nein, aber ich werde diesen Leuten beweisen, daß man nicht unbestraft einen amahar beleidigen kann. Das ist der Unterschied zwischen deiner Rasse und meiner, Suilem! Die iklan nehmen Kränkungen und Knechtschaft hin. Ihr seid damit zufrieden, Sklaven zu sein. Das habt ihr im Blut und vererbt es vom Vater auf den Sohn, von Generation zu Generation. Ihr werdet immer Sklaven sein!« Er unterbrach sich und strich gedankenverloren mit den Fingern über die Klinge des langen Schwertes, das er der Truhe entnommen hatte, in der er die wertvollsten seiner Habseligkeiten verwahrte. »Aber wir, die Tuareg«, fuhr er fort, »sind ein freies Volk von Kriegern, und das sind wir immer gewesen, weil wir nie eine

Beleidigung oder Erniedrigung hingenommen haben.« Er schüttelte den Kopf und schloß: »Dabei soll es auch bleiben.«

»Aber die anderen sind in der Überzahl!« widersprach Suilem. »Und sie sind sehr mächtig.«

»Das stimmt«, pflichtete ihm der Targi bei. »Doch es ist gut so. Nur ein Feigling tritt gegen jemanden an, von dem er weiß, daß er schwächer ist als er selbst. Ein solcher Sieg würde ihn nicht edler machen. Und nur ein Dummkopf kämpft gegen einen Gleichstarken, weil dann das Glück den Kampf entscheiden müßte. Ein amahar, ein echter Krieger meines Volkes, sucht sich immer einen stärkeren Gegner. Denn wenn ihm der Sieg lacht, hat sich seine Anstrengung tausendmal gelohnt. Stolz auf sich selbst, wird er dann seinen Weg fortsetzen.«

»Und wenn sie dich töten? Was wird aus uns?«

»Wenn sie mich töten, wird mein Kamel geradewegs ins Paradies galoppieren, wie es uns Allah verheißen hat. Es steht nämlich geschrieben, daß dem die Ewigkeit sicher ist, der im Kampf für eine gerechte Sache fällt.«

»Aber du hast meine Frage nicht beantwortet«, beharrte der Sklave. »Was wird dann aus uns? Aus deinen Söhnen, deiner Frau, deinen Herden und deinen Dienern?«

Gacel zuckte schicksalsergeben mit den Achseln. »Habe ich jemals den Beweis geliefert, daß ich euch alle schützen kann?« fragte er. »Wenn ich zulasse, daß sie einen meiner Gäste umbringen - muß ich dann nicht auch fürchten, daß sie meine Familie vergewaltigen und ermorden?«

Er beugte sich ein wenig vor und forderte den alten Suilem mit einer entschlossenen Handbewegung auf, sich zu erheben. »Geh nun! Sattle mein Kamel und lege meine Waffen bereit!« befahl er. »Ich reite im Morgengrauen los. Du wirst dich darum kümmern, daß unser Zeltlager abgebaut wird, und dann sollst du meine Familie weit fort führen, zum guelta in den Huaila-Bergen, an die Stelle, wo meine erste Frau gestorben ist.«

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9788418811425
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