Читать книгу: «"Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25)», страница 4

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B. Die einzelnen Sprüche
1. Die Wirklichkeit Gottes in der Sichtweise der Menschen: 8,12
1. a) Rahmenhandlung und Gliederung von Kap. 8 - 11

Einer Redensart, die den unter A.1. genannten Forderungen entspricht, begegnen wir nicht früher als in Ez 8,12. Die letzte findet sich in 38,13. Daß weder in den Eröffnungskapiteln 1 - 7 noch in der großen Tempelvision Kapitel 40 - 48 ein entsprechender Spruch anzutreffen ist, fällt auf und scheint nach einer Begründung zu verlangen. Zunächst einmal läßt sich die Beschränkung der Vorkommen auf die Kapitel 8 - 38 durch den Erzählzusammenhang einsichtig machen. Sie setzen nicht ein, bevor es nicht zu einer wirklichen Auseinandersetzung des Volkes mit dem Propheten gekommen sein konnte und sie hören auf, sobald das Programm für die Zukunft im Vordergrund steht. Die Zitierung der Redensarten reflektiert also die Konfrontation des Propheten mit den Hörern, auch wenn die Kommunikation durch ein seltsames, verschieden artikuliertes, im Buch selber kaum durchgehaltenes Redeverbot mehr spannend gemacht als erschwert wird.49 Srajek interpretiert den Verstummungsbefehl auf der Grundlage von Levinas’ Dialektik von Resistance and Surrender als eine Weise gesunden Widerstands. Daß Ezechiel vor der Hingabe an den Prophetenauftrag erst einmal massiven Widerstand leistet, ermögliche ihm, Echtheit und Gehalt einer empfangenen Vision zu prüfen und festzustellen.50

Die Großvision Kap. 8 - 11 hat eine Rahmenhandlung, die dem Geschehen ein zusammenhängendes Gefüge gibt. Während die Vision selbst den Propheten nach Jerusalem entführt, zeigt ihn die Rahmenhandlung in seinem gegenwärtigen Zuhause im Exil. In 8,1 sagt der Prophet:

- „und die Ältesten Judas sitzen vor mir“; in 11,25 wird berichtet, wie er den Exulanten von seinen Erfahrungen mitteilt.

Die Bezeichnung der Ältesten als „Älteste von Juda“ bereitet gewisse Probleme. Da der Prophet in einer Zeit schreibt, in der das Nordreich Israel längst untergegangen ist, beginnt der zugehörige Begriff eine Art theologische Umdeutung zu erfahren. Im Ezechielbuch haben wir in Ez 25,3 eine Stelle, die nachvollziehen läßt, wie es allmählich zu dieser Umdeutung gekommen sein könnte. Dieser Vers spricht vom Heiligtum, vom Land Israel und vom Haus Juda in einer Weise, die Zimmerli zur Vermutung angeregt hat, daß von immer weiter gefaßten Kreisen die Rede ist.51 Auch sonst gibt es Hinweise darauf, daß Ezechiel gerne in konzentrischen Kreisen denkt, ohne daß darum die Grenze dieser Kreise genau festgelegt wäre. In den Gerichtsworten Kap. 4 - 7 haben wir in 4,1-2 die symbolisch ausgedrückte Belagerung Jerusalems; in 6,2 werden die Berge Israels genannt; 7,2 scheint die Reihe mit der Ankündigung des Endes über alle vier Säume der Erde vorläufig abzuschließen. In diesem Sinne erhält „Israel“, das nicht mehr das Nordreich meinen kann, zunächst die Bedeutung von Israel im weiteren Sinn, das dann auch zur theologisch festen Größe eines vom Territorium relativ unabhängigen Gesamtvolks ausgeweitet wird, alle noch so weit verstreuten Volksmitglieder mit einschließend.52 Die neu geschaffene Möglichkeit einer Bezeichnung des Gesamtvolkes mit dem Namen Israel, die freilich nicht allein auf Ezechiel zurückgeht, dürfte einen nicht unerheblichen Beitrag zur Überwindung der Krise des Exils geleistet haben. Es ist die von der Politik losgelöste Verschmelzung des Religiösen mit dem Volksbewußtsein, die sich in einem einheitlichen Volksnamen äußert und die dem Volk die Kraft zum Überleben auch ohne die Hilfe autonomer Institutionen verleiht. Ein Phänomen, das in so mulitkulturellen Staatsgebilden wie dem mesopotamischen nicht alltäglich gewesen sein dürfte.

Die Israel-Bezeichnung entspricht einer allgemeinen Entwicklung, wie sie nicht nur bei Ez, sondern auch in anderen Spätschriften der prophetischen Literatur wahrnehmbar ist.53 Im Ezechielbuch läßt sich beobachten, wie der Begriff Israel an Bedeutung gewinnt und aufgrund seiner theologischen Tragweite denjenigen von Juda als Bezeichnung des Kernlandes verdrängt.54 So kommt das Wort Juda nur noch in sehr begrenzter Häufigkeit vor.55 Gerade in Ez 8,1 aber wird es mit den Ältesten in Verbindung gebracht und damit an einer Stelle, wo man es nicht erwarten würde. Die Ältesten treten doch im Exil auf und somit außerhalb des judäischen Kernlandes. Dagegen werden die in 8,12 sich äußernden Ältesten, die innerhalb der Vision in Jerusalem am Heiligtum gezeigt werden, ebenso überraschend als Älteste des Hauses Israel bezeichnet. Sind die Begriffe beliebig austauschbar? Eine mögliche Erklärung könnte darin gefunden werden, daß die Ältesten in 8,1, insoweit als Teil der Exilierten verstanden, aus Juda verschleppt worden sind, also nach ihrer Herkunft als Älteste Judas bezeichnet werden dürfen. Die Ältesten in 8,12 dagegen sind in ihrer Verantwortung gegenüber Gesamt-Israel gesehen, um die Schwere ihres Fehlverhaltens um so tiefgreifender zu entlarven. Daß die verschiedenen Ältestengruppen einmal nach ihrer Herkunft, ein andermal nach ihrer Bedeutung beurteilt werden, ergibt sich aus den Erfordernissen des Erzählzusammenhangs. Bei der ersten Erwähnung in 8,1 erfährt der Leser, woher sie stammen. Bei der zweiten in 8,12, wozu sie bestimmt und an welchen Maßstäben sie zu messen wären. Wenn dem Wechsel zwischen „Ältesten Judas“ und „Ältesten des Hauses Israel“ kein Wechsel im angedachten Personenkreis entspricht, ist für ihn eine stilistische Ursache zu erwägen, die im jeweiligen Kontext etwas bestimmtes hervorheben möchte.

Dem Anschein nach bleibt jedoch an dieser Stelle Ez 8,1 eine gewisse Inkonsequenz im Sprachgebrauch, die den Beobachtungen Zimmerlis in seinem Kommentar recht gibt.56 Es hat aber nicht an Versuchen gefehlt, dennoch auf der Grundlage historischer Vermutungen einen folgerichtigen Handlungsablauf herzustellen.

In einer Untersuchung zu den Ältesten im Buch Ezechiel geht Nay von der Bezeichnung „Älteste Judas“ in Ez 8,1 aus und versucht, sie als eine Gesandtschaft der Daheimgebliebenen zu verstehen, die sich nur zeitweilig bei den Exilierten aufhält, und entsprechend ihre Rolle im ganzen Buch zu erklären.57

Bei kritischer Prüfung ist zunächst einmal anzuerkennen, daß der Versuch einer solchen historischen Rekonstruktion dazu beitragen kann, einen derartigen Text wie Ez 8 - 11 im Verständnis des Lesers lebendiger und dramatischer werden zu lassen. Fragt man aber nach den möglichen Aussageabsichten des Buchautors, so stellt man fest, daß dieser äußerst wenig an historischen Einzelheiten bzgl. der Ältesten interessiert zu sein scheint. Wir erfahren nichts über Grund und Auftrag der Gesandtschaft, wenn es sich um eine solche handeln sollte. Wir erfahren auch nichts über ihre Rückkehr ins judäische Kernland, es fehlt jeder Hinweis auf einen zeitlich begrenzten Aufenthalt im Exil. Dagegen sehen wir ein ganz andersartiges Interesse, das die Ältesten immer mit einem ganz bestimmten Vorwurf in Verbindung bringt: und der lautet auf Götzendienst, Glaubensabfall. In bezug auf die Verse 8,11-12 braucht dies nicht näher erläutert zu werden, da die umfassende Einheit 8,5-18 die religiösen Greuel am Heiligtum beschreibt. In 14,3 sagt Gott zum Propheten über die Ältesten:


- „Menschenwesen, diese Männer haben ihre Götzen über ihren Herzen aufsteigen lassen.“

Im geschichtlich rückblickenden Kapitel 20, das die Sünden der Väter rekapituliert, wird in 20,30 der Bogen zur Gegenwart gespannt mit den Worten:


- „Macht ihr euch nicht auf dem Weg eurer Väter unrein und hurt deren Götterbildern nach?“ Die Anrede in 2. P. Pl., sowie die im vorhergehenden Vers genannte Verweigerung, auf eine Befragung zu antworten, zwingt dazu, an die in 20,1 genannten Ältesten zu denken, die wegen einer solchen Befragung zum Propheten kommen.

Das entspricht der übrigen Botschaft Ezechiels, der bestimmte Vergehen ganz bestimmten Personengruppen zur Last legt, mögen es die Propheten (z.B. 13,6: unberechtigte Berufung auf JHWH-Spruch) und Prophetinnen (z.B. 13,19: falsche Orakel) sein, die Priester (22,26: Vermischung von Profan und Heilig), die Fürsten (22,25: Beutegier), das Königshaus (17,7: Vertragsbruch; 19,6-7: Grausamkeit und Beutegier), etc. Die Ältesten waren nach seiner Meinung offenbar für die Pflege der religiösen Identität des auserwählten Volkes verantwortlich, besaßen hierin Vorbild-Charakter, hatten erzieherische Pflichten. Auch wenn Ezechiel von historischen Personen ausgegangen sein sollte, möchte man den Ältesten innerhalb seiner Botschaft mehr typisch-repräsentatives als individuell-historisches Gewicht zuschreiben. Offensichtlich geht es Ezechiel nicht um einige konkrete Personen, die zu den Ältesten gehören, sondern um die Ältestenschaft überhaupt in ihrer geschichtlichen Aufgabe und Größe, an der sie mit ihrer Verantwortung gemessen werden muß. In diesem Zusammenhang ließe sich auch begreiflich machen, daß es für ihn unerheblich ist, ob die Ältesten im Exil oder in Jerusalem jeweils beheimatet und wirksam sind. Sein Augenmerk richtet sich auf die Berufsgruppe in ihrer Bedeutung für den Gesamtaufbau des Volkes, der immer auch den Blick über den gegenwärtigen Moment und die erinnerte Vergangenheit hinaus in die Zukunft freiläßt.

Ein wenig gewaltsam wirkt es dagegen, die Männer am Tor mit Pelatjahu in der Mitte in 11,1 als Vermittlungs-Gestalten zwischen der Visionsebene in Jerusalem und der realen Ebene im Exil aufzufassen.58

Der Schrei des Propheten in 9,8 gibt auch sonst keinen Anlaß, die Vision unterbrochen zu sehen; denn er reiht sich gut ein in den verstärkt auditiven Charakter des Kapitels, in dem gehäuft akustische Phänomene beschworen werden, angefangen von dem

- der „lauten Stimme“ Gottes in V. 9,1, die den

der verzweifelt Gott Suchenden in 8,12 geschickt aufgreift und umdeutet. Daß der Prophet in einer Vision nicht passiv bleiben muß, daß er in derselben zum „Prophezeien“ aufgefordert werden kann, belegt auch 37,1-10.59

Daß allerdings mit 11,1 im Vergleich zum Vorherigen ein empfindlicher Einschnitt geschieht, ist immer bemerkt worden und hat zu den verschiedensten Erklärungen Anlaß gegeben. Zimmerli scheidet aus einem von ihm rekonstruierten Grundbestand der Vision 8 - 11 den Abschnitt 11,1-21 heraus.60 Um die darin enthaltenen Redensarten berücksichtigen zu können, ist hier darum vom Endtext auszugehen. Höchstens könnte gefragt werden, welche Rolle gerade diese Redensarten bei der Entwicklung des Grundbestandes bis hin zum vorliegenden Text gespielt haben. Nays Art der Interpretation stellt in allem das entgegengesetzte Extrem zu jener anderen dar, nach welcher die Kapitel 8 - 11 im wesentlichen reale historische Ereignisse in Jerusalem berichten, die nur durch den Rahmen zur Vision erklärt werden, um sie in ein Buch zu integrieren, das sonst im Exil spielt.61 Bei aller Gegensätzlichkeit haben diese Positionen das Eine miteinander gemeinsam, daß sie noch unbedingt für 11,1-13 nach einem konkreten historischen Hintergrund suchen, nur daß ihn der eine im Exil, der andere in Jerusalem vermutet.

Wenn man nicht auf einen chronologisch konsequenten Ablauf besonderen Wert legt, läßt sich in Ez 8 - 11 eine mehrstufig in konzentrischer Gliederung aufgebaute Vision wahrnehmen. Diese Stufen bilden verschiedene Ebenen in der Vision, die nicht zwingend in ein zeitliches Nacheinander gebracht werden müssen. In der Mitte ist die Doppeleinheit der Abschnitte 9,1-10,7 (Zerstörung der Stadt) und 10,8-22 (Auszug der Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel) angesiedelt. Darum ranken sich die Kapitel 8 und 11 mit der Beschreibung der gegenwärtigen Situation des Volkes und den Rahmenversen 8,1 und 11,25, welche die Ausgangs- und Schlußsituation im Exil liefern. Das Wiedererwachen Ezechiels im Exil wird durch die an die Exulanten gerichtete Heilszusage der VV. 14-21 vorbereitet.

Fraglich ist die Einordnung von Kapitel 8. Gehört es mehr zu den Visionen in 9 und 10 oder mehr zu den geschichtlichen Schilderungen in 11? Auf der synchronen Ebene läßt sich durch eine konzentrische Struktur beiden Bezügen Rechnung tragen (siehe Kapitelende).

In den drei wichtigsten Vorkommen der Ältesten in 8,1; 14,1 und 20,1 wird die sitzende Haltung der Ältesten betont; eine solche wird in 33,31 auch einer breiteren Zuhörerschaft Ezechiels zugeschrieben. Für die genauere Bedeutung dieses Sitzens bieten sich zwei Arten von Parallelen an, die zunächst unabhängig von einander betrachtet werden wollen. Die eine Art Parallele zeigt die Ältesten bei ihren offiziellen Versammlungen, bei denen gerichtliche Beschlüsse gefaßt oder politische Entscheidungen getroffen werden. In Rut 4,2 wird die Aufforderung sich niederzusetzen für jene Versammlung ausgesprochen, in der der Löser für Noomi ermittelt werden soll. In 1 Kön 21,12 handelt es sich um die Versammlung, in der die tödliche Intrige gegen Nabot ausgeführt wird. In Jer 26,10 soll die Versammlung ein Todesurteil gegen Jeremia fällen, wobei jedoch nicht die Ältesten, sondern, wie in Ez 11,1, die - die „Anführer“, genannt werden. Das Sitzen scheint also eine allgemeine Haltung bei jeder Art von Versammlung mit offiziellem Charakter gewesen zu sein.62 Die Gewichtigkeit der Sitzhaltung, welche die Ältesten in 8,1; 14,1 u. 20,1 einnehmen, könnte allerdings auch einer bewußten Karikatur dienen63 und die Zurschaustellung der eigenen Wichtigkeit entlarven wollen. Zum Vergleich ist die andere Art von Parallele interessant, die ein ähnliches Hinsitzen auch von den Prophetenschülern erzählt. Als wichtigste Belegstelle gilt 2 Kön 4,38, die eine solche Haltung von den Schülern des Propheten Elischa berichtet.

Das Besondere bei Ezechiel ist, so kann man sagen, daß bei ihm die Ältesten sich wie Prophetenschüler verhalten. Auch diese eigenartige Verbindung ist nicht ohne Parallele. Ps 107,32 nennt als Aufgabe der Ältestenversammlung statt jedes politischen Beschlusses das Gotteslob. 2 Kön 6,32 zeigt, daß vor Elischa nicht nur Prophetenschüler, sondern auch Älteste, ganz ähnlich wie bei Ezechiel, sitzen konnten.

Wenn die Ältesten bei Ezechiel in die Rolle von Prophetenschülern schlüpfen, zeigt dies, wie ernst seine Botschaft von ihnen genommen wurde, auch wenn es an der Bereitschaft fehlen mochte, sich ihr entsprechend zu verhalten. Vielleicht entsprach es auch einer Wunschvorstellung des Autors. Denn daß Älteste in erster Linie in ihrer religiösen Verantwortung vor dem Volk gesehen werden, ist eigenartig genug. Sollen sie auf dem Weg zu einer neuen Funktion gezeigt werden, die sie aber noch nicht ganz gefunden haben?64 Die hinter der allgemeinen Befragung stehende konkrete Anfrage wird jedenfalls nicht genannt und scheint auch nicht wichtig.65

Zum Abschluß verdeutliche ein Gliederungsschema der Kapitel 8 - 11 ihre Beschreibbarkeit im Sinne einer konzentrischen Struktur.

Gliederung der Kapitel 8 - 11


A. V. 8,1: Aufenthalt des Propheten im Exil: die Ältesten sitzen vor ihm.
B. VV. 8,2-4: Entrückung des Propheten nach Jerusalem.
C. VV. 8,5-18: Bestimmte Fehlverhalten des Volkes.
a) VV. 8,5-13: Greuel am Tempel mit Israel-Nennung (V. 12).
b) VV. 8,14-18: Greuel am Tempel mit Juda-Nennung (V. 17).
D. Kapitel 9 u. 10: Gottes Gerichtshandeln in Vision.
a) VV. 9,1-10,7: Zerstörung Jerusalems.
b) VV. 10,8-22: Auszug der Herrlichkeit Gottes aus dem Tempel.
C’. Bestimmte Fehlverhalten des Volkes.
a) VV. 11,1-12: Ränkeschmiede am Tor.
b) VV. 11,13-21: Einseitige Besitzansprüche der Verbliebenen und Heilsverheißung an die Verbannten.
B’. VV. 11,22-24: Rückkehr des Propheten aus der Entrückung.
A’: V. 11,25: Aufwachen des Propheten im Exil: Bericht an die Exulanten.

1. b) Kontext von 8,12 in Kap. 8

Die den Ältesten des Hauses Israel in den Mund gelegte Redensart findet sich innerhalb einer Komposition, die die Verse 8,5-18 umfaßt und in einer gestaffelten Steigerung verschiedene als Greuel beschriebene Bräuche und damit den religiösen Abfall am und im Jerusalemer Tempel veranschaulicht.

In vier Stufen baut sich die Steigerung auf: VV. 5-6.7-13.14-15.16-18. Das Ende jedes Abschnitts wird durch die jeweils als Überleitung wiederkehrende Redewendung

- „du wirst noch größere Greuel schauen“ (VV. 6.13.15) - als solches gekennzeichnet. Das Prinzip der Steigerung scheint weniger in den vorgeführten Handlungen zu liegen als vielmehr in der zunehmenden Nähe zum Allerheiligsten, bzw. dem vor ihm befindlichen Altar im Tempel. Was in V. 6 als Beweggrund für das Treiben der am Tempel wirkenden Personen zu lesen ist, könnte als Überschrift über der ganzen Komposition der VV. 8,5-18 stehen:


- „um sich von meinem Heiligtum zu entfernen.“66 Eigentlich eine paradoxe Aussage, wo doch eine immer enger werdende räumliche Nähe zu diesem Heiligtum beschrieben wird. Es handelt sich um eine geistige Abkehr von diesem Heiligtum,67 sich vollziehend in einem geradezu umgekehrt proportionalen Verhältnis zur räumlichen Nähe zu ihm. Innerhalb des letzten Teils der Steigerung, in 8,16, heißt es dann von den ungefähr 25 (so nach MT; 2 Mss LXX hingegen 20; vgl. BHS) Personen am Eingang des Tempels, sie standen


- „ein jeder mit seinem (wörtl: ihrem) Rücken zum Tempel JHWHs“.

Damit wird recht sinnenfällig zum Ausdruck gebracht, wie die persönliche Einstellung von der Bedeutung des Tempels, an dem sich die betreffenden Personen befinden, abgewandt ist, um sich statt dessen der natürlichen Sonnenverehrung zu widmen.

Es ist schwierig, der Hervorhebung der Köperhaltung - Rücken zum Tempel - eine andere als symbolische Bedeutung beizumessen. Nach manchen Gelehrten war der JHWH-Kult in Jerusalem anfänglich möglicherweise mit einer genuinen Sonnenverehrung verbunden, die erst in späterer Zeit allmählich verdächtigt wurde.68 Keel unternimmt den Versuch, den Sonnenkult zu Jerusalem aus vorisraelitischern Kulttraditionen abzuleiten, die, unter ägyptischem Einfluß entstanden, in israelitischer Zeit weiter gewirkt hätten.69 So ist nicht sicher, daß die beschriebenen Riten von den Zeitgenossen überhaupt als Götzendienst wahrgenommen wurden und nicht vielmehr als gewohnte Bestandteile eines als selbstverständlich akzeptierten Gottesdienstes. Odell vermutet einen zusammenhängenden Gottesdienst, durch den die Gottheit mit Hilf- und Klagerufen angegangen werden sollte.70 Das Bild der Eifersucht wäre demnach kein Götzenbild, sondern eine Votiv-Statue mit der Darstellung eines Menschen als Ersatz für Menschenopfer gewesen, durch das die Gottheit in Zeiten schwerer Krise und Gefahr gewogen gemacht werden sollte.71 Diese ansprechende These läßt sich zwar nicht zwingend beweisen, würde sich aber gut in den allgemeinen Zusammenhang der damaligen geschichtlichen Not einreihen lassen. Zutreffend ist auf jeden Fall die einfache Beobachtung, daß der Schlußvers Ez 8,18 nicht den Götzendienst, sondern die Anrufung zurückweist: - „Und sollten sie auch rufen …“. Einschränkend ist jedoch daran zu erinnern, daß mit dem vergeblichen Rufen zu Gott in 8,18b die akustischen Beschreibungen in Kap. 9 vorweggenommen werden und insofern nicht unbedingt eine Interpretation des Vorangegangenen bieten wollen. Ebenso zutreffend ist auch die andere Beobachtung, daß das 8,5 genannte Eifersuchtsbild einsam für sich ohne menschliche Gegenwart dasteht, und doch als anstößig empfunden wird.72 Es scheint etwas in der Weise der Kontaktsuche selbst zu sein, was Gott beleidigt. Die Suche wird durch Zuflucht zu Riten unternommen, die sich verselbständigen, Alibi-Funktion übernehmen (Opferersatz) und dadurch zuletzt zum Hindernis werden. Es handelte sich also um Teile eines Ritus, in dem Gott zwar angerufen wird, aber wie ein Verschollener (vgl. sumerische Tammuzsage), der das Land verlassen hat, und zu dem die Beziehung nur über Umwege (Sonnenverehrung) hergestellt werden kann. Ist Odells These zutreffend, würde sie auch etwas zu einer koherenten Beschreibung der Ältesten und ihrer Funktion im Ezechielbuch beitragen können. Im Exil befragen sie den Propheten, weil sie auf seine Fürbitte und Mittlerrolle hoffen, die diesem jedoch durch den „Verstummungsbefehl“ - nach der Interpretation Wilsons - von seiten Gottes untersagt wird. Am Tempel suchen sie Zuflucht zu zweifelhaften Riten, um Gottes Willen dadurch zu beeinflussen, während Gottes Herrlichkeit stattdessen, davon angewidert, sich aus dem Tempel zurückzieht. Es ergäbe sich so eine Parallelität zwischen dem Verhalten im Exil und dem in der Heimat und eine ungefähr vergleichbare Antwort Gottes darauf.

Von der Redensart 8,12 ausgehend, die das Nicht-Sehen Gottes beklagt, ließen sich die am Tempel dargestellten Fehlverhalten als ebensoviel Weisen einer gestörten oder fehlerhaften Wahrnehmung des Volkes analysieren. Bei der Statue am Anfang sind die Menschen überhaupt abwesend, da für sie die Statue möglicherweise so etwas wie Ersatzfunktion übernehmen soll. Die Ältesten ziehen sich in Nischen zurück und handeln im Dunkeln. Die Frauen sind ganz von ihrer Trauer gefangengenommen und können schon wegen der verweinten Augen nicht mehr richtig sehen. Die Männer, die den Sonnenkult betreiben, dürften geblendet sein, während sie den Dingen, die die Sonne sie bevorzugt sehen lassen sollte, wie dem Tempel, den Rücken zukehren. Es sind also Weisen sehr beschränkter, einseitiger Wahrnehmung, die für das Ganze blind machen.73

Dieser im achten Kapitel erfolgenden Bewegung zum Heiligtum hin, die im Wesentlichen eine Bewegung des visionär entrückten Propheten ist, entspricht in den folgenden Kap. 9 - 11 eine umgekehrt verlaufende Bewegung, die gerade vom Heiligtum ausgeht und sich von dort gleichsam wellenförmig ausbreitet. Sie tut dies in dreifacher Weise einmal als Bewegung der Zerstörung im geschauten Gericht, von der das 9. Kapitel erzählt, sodann als Bewegung der Herrlichkeit Gottes, die nun wirklich, obschon freiwillig, den Tempel verläßt und auszieht, wovon das 10. Kapitel handelt. Dem schließt sich die Bewegung des Propheten gleichsam als ein drittes an, wenn er wieder zurück ins Exil versetzt wird (11,22-24). Wenn in 9,6 die Aufforderung an die geheimnisvolle Gruppe von 6 oder 7 Personen ergeht,74 die das Gericht an der Stadt mit ihrer Zerstörung vollziehen sollen: - „und von meinem Heiligtum aus fangt an“, so wird die Schlüsselstellung des Heiligtums deutlich, von dem alle Bewegung ausströmt, so wie es eine solche erst angezogen hat.

Die Herrlichkeit Gottes dagegen erhebt sich in 10,4 von den Keruben, um sich auf die Schwelle des Tempels niederzulassen und den Tempel selbst mit einer Wolke zu erfüllen. In 10,18 kehrt sie zu den Keruben wieder zurück, um sich in 10,19 mit ihnen zum Osttor des Tempels zu bewegen. In 11,23 wird die Beschreibung des Auszugs neu aufgegriffen, und so fortgeführt, daß sie sich nun auf den Berg im Osten der Stadt begibt. Was weiter mit ihr geschieht, wird nicht mehr ausgeführt. Nur im Zusammenhang mit der im Exil am Fluß Kebar erschienenen Gottesherrlichkeit, die in Kap. 1 ausführlich beschrieben und auf die später immer wieder zurückverwiesen wird, läßt sich vermuten, daß sie das Land dann endgültig verläßt. Einen gewissen Hinweis darauf kann man vielleicht in der an die Exulanten gerichteten Aussage in 11,16 erblicken, wo es heißt:


- „und ich wurde ihnen zum Heiligtum beinahe“.

Die Bewegung vom Heiligtum weg scheint noch in Kap. 12 nachzuwirken, wenn der Prophet aufgefordert wird, das auch vielen der noch in Jerusalem Verbliebenen drohende Schicksal der Verschleppung durch eine Symbolhandlung zeichenhaft vorwegzunehmen. In 12,5 ist genauso wie in 8,7-8 von dem Durchbrechen einer Wand durch ein Loch die Rede, nur eben in umgekehrter Richtung. Der Prophet soll ja das erzwungene Verlassen der Stadt Jerusalem darstellen, das dem „Fürsten“ in Jerusalem und dem „Haus Israel“ dort bevorsteht. Die Verschleppung wird als die politische Folge der Zerstörung der Stadt dargestellt, von der die vorangegangenen Kapitel erzählten. Allerdings markiert 11,24, der den Prophet ins Exil zurückkehren läßt, bereits vorher einen gewissen Einschnitt. Auch unter dem Gesichtspunkt der wechselnden Bewegungsrichtung also läßt sich eine konzentrische Struktur der Vision in Kap. 8 - 11 aufrechterhalten.

Innerhalb dieser großen Vision, die sich nach ihrer doppelten Bewegung zum Heiligtum hin und vom Heiligtum weg beschreiben läßt, findet sich in der Einheit 8,5-18, die götzendienerisches Eindringen in Tempelnähe beschreibt, der Spruch in 8,12. Der Vers steht im zweiten Abschnitt der sich aus vier Teilen zusammensetzenden Komposition 8,5-18. Damit scheint er an nicht allzu bedeutender Stelle zu stehen, wenn man von der allgemeinen Regel ausgeht, daß innerhalb einer Steigerung der größte Akzent am Ende liegt. Doch ergibt eine genauere Beobachtung, daß der zweite Abschnitt der ungleich längste der Komposition ist, so daß V. 12 materialiter fast in die Mitte der Komposition gelangt. Sieben Verse gehen ihm voraus (VV. 5-11) und sechs folgen ihm (VV. 13-18). Da im hebräischen Strukturdenken die Mitte eine ganz entscheidende Rolle spielt, kann man auch hier davon ausgehen, daß sich gewissermaßen zwei Steigerungsprinzipien überlagern (Höhepunkt am Ende gegen Höhepunkt in der Mitte) und V. 12 eine besondere Schlüsselfunktion innehat.

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