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Читать книгу: «Das Kind», страница 10

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20

Schilcher ging durch den Speisesaal, wo die Whistbrüder aus der Heimat sich eben setzten, um auf Rutenbergs Verlangen einen kleinen Imbiß zu nehmen. Ihm fiel ein, daß er seine Serviette noch in der Tasche hatte; er zog sie heraus, winkte damit dem Pepino, dem jungen, krausköpfigen Kellner, und legte sie auf den Tisch. In diesem Augenblick hörte er draußen, im kleinen Garten bei dem Hause, Herrn van Wyttenbachs Stimme nach Pasquale rufen. Es wiederholte sich bald, mehrmals. Es klang so verlangend, so aufgeregt, daß eine spitzbübische Heiterkeit über Schilcher kam, die ihn schüttelte. Na, na! dachte er. Am Ende hat Rutenberg recht, und es hat genügend gewirkt! Es hört sich so an, als wollte der Adonis seine langen Beine unter die Arme nehmen!

»Pasquale!« rief der Jüngling wieder. In Schilcher ging etwas vor, als hätte der Ruf ihm gegolten und einen Gedanken in ihm geweckt, einen Gedanken, den er in aller Eile beguckte; er gefiel ihm, er schien ihm gut. Heimlich, während die andern mit dem Kellner verhandelten, schlüpfte er aus der Thür, ins Vorzimmer, wo er beim Eintreten Pasquale gesehen hatte. Da stand auch der schwarzbärtige Schelm noch, wohl auf Gäste wartend, die er zu Meerfahrten bereden konnte. »Pasquale!« sagte Schilcher mit vorsichtig schwacher Stimme und nahm seinen Vertrauten am Arm.

»Eccomi!« entgegnete Pasquale. Schilcher führte ihn sacht in eine Ecke, vom Gartenfenster hinweg.

»Ich hab’ eben Herrn van Wyttenbach – den Seekranken mein’ ich – nach Ihnen rufen hören —«

Jetzt rief Arthur wieder. »Ja, ja!« sagte der Schiffer. »Ich hör’ ihn. Ruft meinen Namen. Erlauben Excellenza, ich will zu ihm gehn.«

»Gehn Sie etwas später, Pasquale! Und thun Sie als mein Amigo das, was ich Ihnen sage, ich drücke Ihnen dafür nachher einen harten Dank in die Hand!« – Pasquale lächelte, nickte. – »Wenn dieser junge Seefahrer, wie ich vermute, mit Ihnen davongehn will, Sie als Führer nehmen – diesmal nicht aufs Wasser, sondern in die Berge – so führen Sie ihn gefälligst an der tiefen Schlucht entlang, dann, bei der nächsten Biegung, nach links – und zwischen diesen verwünschten hohen Gartenmauern, wo kein vernünftiger Mensch weiß, wohin er kommt, führen Sie ihn im Bogen zurück, bis Sie wieder hier sind!«

Pasquale stutzte, seine schwarzen Augen fragten: geht das? darf ich das?

»Es ist Ihr Schade nicht,« antwortete Schilcher trocken auf diese Frage. »Und sein Schade auch nicht, edler Mann, seien Sie ganz ruhig. Ein paar lustige Spaßvögel, che fanno una buria, haben ihm eingeredet, der Vesuv wird ausbrechen und Sorrent verschütten, er wird aber nicht ausbrechen – und Sie werden den Spaß nicht verderben, denk’ ich, Sie durchtriebener Spitzbube!«

Der Italiener lachte mit dem ganzen Gesicht.

»Pasquale! Wo sind Sie? Wo sind Sie?« rief es draußen wieder.

»Sie haben verstanden?« raunte Schilcher.

Pasquale nickte. »Excellenza kennt mich. – Für Excellenza alles, verlassen Sie sich auf mich!«

Schilcher schob ihn gegen die Thür; er ging hinaus. Als er in den Hausgarten kam, sah er Arthur unter einem Orangenbaum stehn, einen Mantel über den Arm geworfen, es war wenig Farbe in seinem Gesicht. »In des Teufels Namen,« fuhr Arthur ihn an, »wo haben Sie sich versteckt? Wenn man euch nicht braucht, zieht ihr einen fast am Arm in die Barke oder in die Kutsche, und wenn man euch haben will, starrt ihr in eurem dolce far niente blind und taub in die Luft!«

Etwas beleidigt hob Pasquale den Kopf. »Der signor tedesco ist ein wenig hart gegen uns arme Marinai. Ich bin unschuldig, Herr. Ich suchte den Patronen warum? Weil ich den Vesuv angesehen habe, da sind böse Zeichen. Es ist zu fürchten eine große Ausbruch – mir scheint —«

Arthur faßte ihn an einem Knopf seiner Sammetjacke. »Bemerken Sie das auch schon? Sie?«

»O, da ist nicht zu spaßen,« entgegnete der Schiffer, an dem alle Gliedmaßen lebendig wurden und jedes seiner Worte zu malen suchten, besser noch als Lugau. »Wird sich machen eine höllische Eruption – Ausbruch – hoch, hoch in die Luft – dann durch den ganzen Himmel, weit, lang – und dann – o, herunter. Wird großen Unglück machen —«

»Eben darum will ich fort! Darum ruf’ ich mir ja die Kehle aus dem Halse. Sie sollen mich dahin führen, wo es am sichersten ist, auf die andern, die ›Philosophen‹ werde ich nicht warten! Dann nehmen wir dort Quartier – Wohnung – — und Sie holen die andern nach!«

»Hole die andern, ich verstehe. Also nach Tirmini hinaus, wenn Ihnen ist angenehm —«

»Mir ist alles angenehm, wo mir nichts geschieht. Also nach Tirmini! Fort!«

Er riß seine Brieftasche heraus, um ein paar Worte für Gertrud zu schreiben um ihr zu sagen der Undankbaren wie er die Sache in die Hand nehme, was er für sie thue. Während er hastig mit seinem Bleistift schrieb, schien Pasquale nachzudenken. Arthur blickte einmal auf und staunte über das tiefversonnene Gesicht. »Da ist noch die Frage,« sagte der Schiffer dann, »ob Sie wollen fahren. Rate nicht, zu fahren;« er unterstützte seine Worte wieder durch Gebärden, »denn wenn ein Stoß kommt – di terra – Erdstoß – was thut der Wagen? Fällt um. Und fällt über den Signor —«

»Fassen Sie mich nicht an,« rief Arthur, der zusammenfuhr, »das macht mich nervös. Ihr Süditaliener habt alle eine Lebhaftigkeit —!«

»Also gut,« sagte Pasquale, sich durch eine Bewegung entschuldigend. »Andiamo! Gehn wir!«

»Ja freilich. Vorwärts!«

Pasquale ging schon, der Schurke blieb aber noch einmal stehn: »Wenn Sie nicht wollen nach Capri, in der Barke – »Hole der Teufel Ihre Barke und Capri! Zu Fuß will ich gehn und nach Tirmini. Nur erst nach diesen Zettel – lettera. – an den Kellner geben . . .«

»Bitte, das besorg’ ich. Corragio, junger Herr. In einer Stunde oder nicht viel mehr sind Sie in Tirmini, und weit, weit vom Vesuv!«

21

Fritz Waldeck, der von den Oelbäumen zurückkam, sah den aufgeregten Arthur mit dem gebärdenreichen Italiener im Hausgarten reden, darauf ins Haus hineinstürmen. Einen Augenblick sah er ihnen verwundert nach, dann fiel er in seine Gedanken zurück. Er wußte nicht, was thun, noch wohin mit sich . . . An der Mauer der Nachbarvilla hatte er gestanden, in die immergrünen Kronen der Steineichen hinaufgesehn, auf das Zwitschern der Vögel da oben gehorcht, einen befreienden Gedanken hatten sie ihm nicht herabgezwitschert. Sollte er bleiben? Sollte er fort? Diese Menschen grade jetzt verlassen, war das nicht wie Feigheit, wie Flucht? Aber konnte er Gertrud wieder vor die Augen treten, nach dem, was er ihr gesagt? – Ach, dachte er, die Zähne aufeinanderbeißend, das ist auch ein Elend, wenn so auf einmal die Schwäche über einen kommt, die gemeine Schwäche, die Redseligkeit, – und was man ewig verschweigen wollte, bricht so wie aus dem Vesuv da plötzlich, unaufhaltsam hervor! Er ging wieder zum Felsgarten, zur Meerterrasse hin, die Augen auf den Weg gesenkt. Gertrud sah ihn kommen, die noch an der Brüstung stand. Von einer jähen Scheu ergriffen, trat sie hinter das nächste Gebüsch, das dicht zusammengewachsen war und sie ganz verdeckte. Ahnungslos, wie nah’ sie ihm war, kam er auf die Brüstung zu. Jetzt wäre sie gern davongeschlichen, ins Haus zurück, von dort her schritt aber eben eine hohe und breite Gestalt heran, Vater Rutenberg. Vor dem scheute sie sich auch – ach, sie war so unglücklich. Den Kopf noch tiefer in das Gebüsch steckend, als möchte sie sich vor der ganzen Welt verbergen, blieb sie stehn, ganz still, wie ein Vogel in der Hand.

»Herr, ich suche Sie ja!« sagte Rutenberg mit seiner kräftig herzlichen Stimme, als er näher kam. »Der Oberappellationsrat sagt mir, Sie wollen fort. Das hat keinen Sinn! Das kann ich nicht dulden. Das ist unnatürlich. Gestern abend gekommen – gestern nacht Versöhnung – und am andern Morgen, eh’ man sich recht in die Augen gesehn hat, wieder adieu und fort!«

»Ich fühle das wohl,« erwiderte Fritz beklommen, »alles, was Sie sagen. – Verzeihen Sie, Herr Rutenberg, dennoch muß ich fort. – Wenn es auch sonderbar aussieht, daß ich Sie bei dieser Gefahr – —«

»Den Vesuv meinen Sie?« Rutenberg verzog die Lippen ein wenig, »ach, den lassen Sie nur! Den Herrn fürcht’ ich nicht! – Aber warum müssen Sie fort? Was gegen die Natur ist, soll der Mensch nicht müssen. Eben hab’ ich Sie gefunden – will Sie nicht verlieren. Gehn Sie mir nicht fort!«

Fritz Waldeck konnte sich nicht länger enthalten zu seufzen, aber nicht wie ein schwacher Mensch, sondern wie ein starker seufzt. »Herr Rutenberg,« sagte er, aus dem Seufzer einen Entschluß machend, »Ihre Güte beschämt mich so sehr. Was kann ich darauf andres thun, als die Wahrheit sagen. – Als ich die Ehre hatte, Sie zum erstenmal zu sprechen, da sagte ich Ihnen – in Ihrem Zimmer – daß ich das Unglück gehabt hätte, mich in Ihre Tochter —«

Rutenberg starrte ihn an, Fritz sprach nicht weiter. »Zu verlieben!« ergänzte endlich Rutenberg selbst. »Ja freilich. Das hatt’ ich ganz vergessen. Ueber der Reise und allem. Verzeihen Sie!«

Ach mein Gott! dachte Gertrud hinter ihrem Busch.

»Herr Rutenberg, warum sollte Ihnen etwas so Unwichtiges im Gedächtnis bleiben? – Aber daß ich nun wieder fort möchte, das begreifen Sie. Wenn Sie mich so herzlich, so vertrauenweckend ansehn, muß ich Ihnen alles sagen . . . Ich hab’ schon – beinahe Uebermenschliches ertragen, Herr Rutenberg. Da ist dieser andre – Herr van Wyttenbach. Ich hab’ vor Ihrer Tochter geheuchelt, als sie nach ihm fragte, hab’ ihn zehnmal besser vor ihr gemacht, als er ist, hab’ alles Erbärmliche, Lächerliche verschwiegen – während ich doch wußte, daß – —« Er verstummte wieder. Er fühlte, daß er wieder dieser weichen Redseligkeit verfiel, die ihn heute verfolgte, die ihn zornig machte. Das Blut stieg ihm ins Gesicht.

O Gott! dachte Gertrud und zitterte, sie war so erschrocken, daß sie fast in die Büsche gegriffen, sich verraten hätte. Was sagt er? »Alles Erbärmliche – Lächerliche . . .«

»Aber nun so zuzusehen,« nahm Fritz wieder das Wort, nachdem er sich gesammelt hatte, »ich meine, so dabeizustehn – verzeihen Sie, wenn ich das nicht ertrage, so stark bin ich nicht!«

»Fritz Waldeck,« sagte Rutenberg, schlug ihm auf die Schulter und lächelte ihm so recht aus dem Herzen zu, »Sie sind stark genug. Ich war in Ihren Jahren lange nicht so stark, kann ich Ihnen sagen. Was Sie da andeuten, das versteh’ ich ja, aber glauben Sie mir – ich will auch nur andeuten – verzagen Sie nicht zu früh! Das Jahr hat seinen April, aber auch die Menschen . . .«

Zum Glück sprach der ahnungslose Vater, dessen Tochter drei Schritte entfernt stand, nicht weiter. Schilcher kam vom Gasthof heran, diesmal keine Depesche, aber doch wieder ein Blatt Papier in der Hand. Es war zusammengefaltet, wie zu einem Briefchen. Er hob es einen Augenblick, dann sagte er in tiefem Ernst. »Herr van Wyttenbach läßt sich empfehlen, er ist mit Pasquale ausmarschiert – weil so ein Berg keine Vernunft hat!«

Diesmal vergaß die arme Gertrud doch, wo sie war. Ein Laut der Empörung brach ihr aus der Kehle.

So schnell, wie siebzehn Jahre es können, nahm sie sich dann zusammen und trat hervor, als käme sie eben irgendwoher gegangen, nur waren leider ihre rosigen Wangen ganz in Rot getaucht. »Was ist?« fragte sie. »Ich komme von der Mauer, wo die Rosen stehn. Was erzählst du von Wyttenbach?«

»Sein teures Leben hat er gerettet,« antwortete Schilcher, der dabei keine Miene verzog. »Vor seinem Ausmarsch hat er das da beim Kellner, beim Pepino, zurückgelassen für Fräulein Rutenberg.

Er überreichte ihr das Briefchen, sie nahm es mit leise zitternder Hand.

Sie brauchte es nur zu entfalten, es war nur ein kleines Blatt mit fliegenden Augen las sie, so daß niemand mitlesen konnte.

»Ich habe für Sie und für uns alle Vernunft, liebes Fräulein Gertrud, ich ziehe in die Berge voran und mache Ihnen Quartier. Ich werde Sie retten, und wenn auch wider Ihren Willen.

Arthur v. W.

Schilcher, der diese Zeilen auch gelesen hatte – Pepino hatte ihm das Blatt offen übergeben – wandte sich zu Rutenberg, während sie noch eben las: »Weiß Trudel schon?«

»Was?« fragte Rutenberg. Gertrud horchte auf.

»Daß Doktor Wild diesen Ausbruch des Vesuv nur erfunden hat? Daß wir also in aller Ruhe roten oder weißen Capri trinken können, und die Rückkehr des vorsichtigen Herrn van Wyttenbach erwarten?«

Fritz Waldeck machte große Augen. »Sagen Sie das im Ernst? Erfunden?«

»Zu dienen,« erwiderte Schilcher. »Und offenbar gut erfunden, denn der ›Vernünftigste‹ von uns sieht jetzt diesen bösen Vesuv mit dem Rücken an!«

»Mit dem Rücken an,« wiederholte er behaglich und rieb sich die Hände. In diesem Augenblick sah er wirklich wie ein Nußknacker und zwar wie ein böser aus.

Nur wer ihm so recht in die Augenwinkel guckte, konnte da das heimliche, tiefversteckte Onkellächeln sehn, mit dem er auf die Trudel blickte.

Trudel konnte es nicht bemerken, sie hatte die Augen geschlossen. So hatte sie sich noch nie geschämt wie jetzt, vor dem Vater, vor Schilcher, vor dem »Verliebten«, vor der ganzen Welt. Niemand, niemand mehr sehn! – Und gestern nacht wollt’ ich mit ihm fliehn, fuhr ihr durch den Kopf, durch die Brust. O die Schande! Die Schande!

Sie öffnete die Augen so viel, daß sie den Weg erkennen konnte, und wankte zum Hause zurück. Es rief sie zum Glück niemand mehr an, niemand sprach zu ihr. Alles hinter ihr war still, wunderlich und wohlthuend still. Sie kam zum Haus, die Treppe hinaus, durch den leeren Salon in ihr Zimmer. Das zerknitterte Blatt noch immer in der Hand, warf sie sich auf ihr Bett.

22

Wie lange sie da lag, das empfand sie nicht, vielleicht waren es nur wenige Minuten, ihr war’s eine Ewigkeit. In ihrem Elend, das in dem wüsten Kopf hämmerte und im Herzen brannte, mußte sie wohl überhört haben, daß die Thür leise aufging, zu ihrem Staunen – zum Erschrecken war sie zu unglücklich – begann jemand, ihr Haar zu berühren, ihren Kopf zu streicheln. Sie zuckte wohl zusammen, die Hände nahm sie aber doch nicht vom Gesicht, sie schlossen sie so gut ab von der Welt. Endlich zog sie ihr jemand von den Augen weg. Sie sah das gute Gesicht ihres Vaters, mit dem weichsten, mitleidigsten Ausdruck über sie gebeugt. Es ward ihr so wohl und so weh, nicht zum Aushalten. Ach, dachte sie, wär’ ich tot!

»Hm!« Nur so ein mitfühlendes Summen kam nach einer Weile von Vater Rutenbergs Lippen.

Sie schwieg und rührte sich nicht.

»Trudel!« fing er nach einer großen Stille wieder an, so, wie man wohl spricht, um etwas zu sagen. »Waldecks Sohn will fort.«

»Ich weiß,« stieß sie hervor. Ihre Glieder begannen sich wie gequält zu winden. »Ja, ja. Er soll fort! – Was mag er nun von mir denken, und von – —« Sie zerdrückte wieder das zerknitterte Blatt. – »Laß ihn fort! Laß ihn fort!«

»Gewiß. Ich halt’ ihn ja nicht. – — Wild kann seine alten Späße nicht lassen. – — Kind! Trudel! Du weinst!«

Sie schluchzte. »O, wie schäm’ ich mich! – Ach, sieh mich nicht an, Vater. – Nie, nie, nie will ich ihn wiedersehn! – Diesen andern mein’ ich; den der fort ist, ›ausmarschiert‹, den Feigling, den —« Das Schluchzen wollte sie fast ersticken als wäre sie noch ein Kind. »Ich kann nicht mehr leben, Vater!« rief sie, als sie wieder freien Atem hatte. »Ich kann nicht mehr leben!«

Rutenberg streichelte wieder langsam, sanft, beruhigend über ihr seidiges Haar und den heißen Kopf. »Mit siebzehn Jahren kann jeder einmal nicht mehr leben, Trudel. und doch giebt es so viele Leute über siebzehn; darum hoff’ ich auch noch, dich zu behalten. Find’ dich nur erst wieder zurecht —«

»Vater!« fiel sie ihm ins Wort, »du kannst mich nicht so verachten, wie ich mich verachte! – Ich hab’ ihn lieb gehabt, Vater! Ich hab’ mit ihm fliehen wollen – dich verlassen, Vater! – Sei nicht mehr gut zu mir, sprich nicht mehr so freundlich mit mir, jag’ mich fort. Jag’ mich fort – aber nicht zu ihm. Jag’ mich in den Tod!«

»Werd’ mich wohl hüten, Gertrud,« sagte Rutenberg lächelnd. »Hab’ ich dich nicht wieder? Mein armes Mädel war blind geworden – ist nun sehend worden. Na, und wenn die Augen noch etwas wund und krank in das Licht hineinsehen, – ach, das giebt sich, Trudel. Wir halten sie noch ein bißchen in der Dämmerung . . .« Er legte ihr seine großen, warmen, liebevollen Hände auf die nassen Augen. Das that ihr gut. Sie lag still. Sie schluchzte auch schon nicht mehr.

»Ja, siehst du,« fuhr er nach einem quälenden Schweigen mit streichelnder Stimme fort, »Vater und Tochter bleiben in der Dämmerung beisammen, – als gute Kameraden, die sie immer waren und immer wieder sein werden. Und wenn wir dann die Sonne wieder leiden können, dann werden wir uns wundern, Trudel, wie herrlich sie ist! – Es giebt ja übrigens auch noch andre, junge Leute, mein’ ich. Da steht dann vielleicht ein andrer mitten in der Sonne’ weißt du, einer, den sie nicht ausbleicht, der ihr Licht verträgt, weil er echt ist. Und der uns so liebt, wie wir ihn lieben, der uns glücklich macht. Kann ja alles kommen, Trudel. Eilen thut’s ja nicht, verhältnismäßig jung wie du doch noch bist. Aber wenn wir diesen andern haben, dann laß die Gedanken an diesen heutigen Morgen nur kommen, wir lächeln dann darüber, wie über eine zerbrochene Puppe aus der Kinderzeit, – und schauen in die Sonne!«

Gertrud nahm eine seiner Hände und zog sie an ihre Lippen. »Ach, wie bist du gut,« sagte sie. Vor Scham schluchzte sie doch wieder auf. »du hast ihn nicht geliebt, Vater! – Ich kann nie zurück! Kann mich zu Hause nie wieder sehen lassen! Nie, Vater, nie!«

»Vielleicht doch einmal, abwarten . . . Es eilt uns ja nicht. Wir können ja noch reisen, wir wollten ja auch. Italien hat noch allerlei. Rom zum Beispiel, durch Rom sind wir ja eigentlich doch nur durchgefahren. Weißt du, was ich denke?«

»Daß du meine tapfere Tochter bist, und daß es schade wäre, wenn die andern merkten, was Trudel hier erlebt hat. Daß du dich darum lieber nicht verstecken, dir das alles nicht zu sehr merken lassen solltest . . .«

Sie seufzte. Er verstand den Seufzer; es war ein erster Versuch, sich zu ermannen, sich zu überwinden. »Sollt’st also lieber aufstehn, mein’ ich. Und die Augen waschen Und dann wieder in den Speisesaal oder in den Garten gehn, wo die andern sind, wie eine Römerin und dich so furchtbar anständig, so groß benehmen, daß keiner ahnt, wie es in dir aussieht. Vornehm wär’ das, Trudel! Ehre würd’s dir machen! – Willst du’s versuchen, Kind?«

»Ach!« seufzte sie noch einmal. »Du glaubst nicht, wie mir ist, zum Sterben. – — Wie bist du aber gut zu mir. Ich möcht’ immerfort deine Hände küssen – — Ach, ich will’s versuchen!«

»Nun also! Ich geh’ voraus, zu den andern. Du sammelst dich, noch ein bißchen. Wasser über die Augen, frischen Mut in die Brust. Bist ja meine Trudel. Schilcher soll sich wundern, wie schnell du wieder hoch bist. Es ist merkwürdig, was ein tapferer Mensch alles anstellen kann, mit dem sogenannten Tod im Herzen – Trudel, so lieb hast du noch nie gelächelt. – Gieb mir einen Kuß. – Du mein einziges, mein geliebtes Kind!«

Sie hob die Arme, umschlang ihn, ihre heißen Lippen lagen fest, dankbar, Tapferkeit versprechend, auf den seinen. Dann irrte seine Hand noch einmal über ihr Gesicht. Sie nickte ihm nur noch zu, sprechen mochte sie nicht. Er nickte auch und ging sacht hinaus.

23

Als Rutenberg in den Speisesaal kam, war dort niemand mehr, nur Pepino erschien. den letzten, verspäteten Frühstückstisch abzuräumen und meldete ihm, die Herren seien schon wieder im Garten, auf der Meerterrasse. Er ging ihnen nach. Wie gut er auch seine Leute kannte, einen Augenblick wunderte er sich, doch Schilcher schleppte eben zwei Stühle aus einer Laube auf die freie Terrasse, nahe an die Brüstung, Wild zog einen Tisch heran, Lugau hatte zwei Spiele Karten in der Hand. »Der Tisch ist gut!« rief Wild. »Die allgemeine Situation ist gut. Lugau, fassen Sie gefälligst mit an!«

Rutenberg lachte auf, trotz all der Rührung im Vaterherzen. »So wahr ich lebe, ich glaube, ihr wollt hier Whist spielen!«

»Wo denn sonst?« fragte Wild. »Wo kann man denn besser einen Robber machen, als hier, über dem Mittelländischen Meer, in der Götterluft, im Angesicht des Vesuv? kurz vor seinem Ausbruch? – Die andern Fremden sind alle ausgezogen, stören thut uns niemand. Apropos! wie steht es mit dem Vesuv? Soll die Komödie noch weitergehn? Oder erfolgt die Auflösung schon in dieser Nummer?«

»Gertrud weiß es schon,« erwiderte Rutenberg. »der junge Waldeck auch, aber – der andre noch nicht. Fritz Waldeck – wo ist denn der? Wo habt ihr den gelassen?«

»Ist auf sein Zimmer gegangen,« antwortete Schilcher, der die Stühle stellte, der Tisch stand schon da.

»Also am hellen Tag, auf einer Felsenterrasse am Golf von Neapel, da wird gespielt?«

Lugau legte die Karten auf den Tisch, breitete das eine Spiel aus. »Schlichter kann man es ja gar nicht mehr erwarten. Wir hatten uns übrigens geschworen, Wild und ich, am ersten Morgen in Sorrent zu spielen. Schilcher, Sie waren also noch am Geben, und Sie haben den Strohmann. Setzen Sie sich gefälligst, und dann geben Sie!«

»Ich gebe,« sagte Schilcher, so trockenen Ernst auf dem Gesicht wie sonst, setzte sich und nahm die Karten. Vor innerer Unruhe rückte er aber auf seinem Stuhl, bewegte die mächtigen Brauen und forschte mit den fragenden Augen auf Rutenbergs Gesicht herum. »Nun?« flüsterte er, als der endlich herankam und seinen Kopf gegen Schilchers Schulter neigte. »Warst du bei der Trudel?«

Rutenberg nickte und nahm ein Fädchen von Schilchers Rock, als hätte ihn das gestört. »All right!« flüsterte er dann.

»All right?« fragte Schilcher und begann zu geben.

»Ja. Wir haben gesiegt, Alter. Es giebt keinen Arthur mehr! Ich geh’ jetzt zu Waldeck Sohn. – — All right!«

Rutenberg schlug ihm in seiner Freude auf die Schulter und ging gegen das Haus zurück.

All right . . .

Schilcher war zu Mut als elektrisiere man ihn; ein wunderbares Gefühl trieb ihn von seinem Stuhl in die Höhe. Eine himmlische Heiterkeit – er mußte wenigstens das Gesicht verziehn, wenn er nicht lachen sollte. Er wiederholte inwendig: »Es giebt keinen Arthur mehr . . . Es giebt keinen Arthur mehr . . .«

»Aber was machen Sie, Schilcher?« sagte Lugau, der gleich Wild am Tisch saß und auf seine Karten wartete. »Geben Sie doch weiter.«

»Ja, ich gebe weiter. Natürlich . . .«

Schilcher saß schon wieder; er gab; die Karten, als wären sie auch wahnsinnig heiter geworden, flogen auf den Tisch. Also unsre Trudel geheilt! dachte er und schleuderte wieder eine Karte hin. Es kam immer mehr Schwung, mehr Feuer in seinen Arm . . . Unsre Trudel geheilt! Hahaha! Und der Feind geschlagen! – Mit Wasser und mit Feuer haben wir ihn hinausgetrieben – haben wir ihn – haben wir ihn – haben wir ihn Juchhe! Eine Art von Gesang war in seiner Seele; bei jedem »haben wir ihn«, das er dachte, flog eine Karte auf den Tisch.

»Schilcher,« sagte Wild, »mir scheint, Sie geben jetzt auf italienische Art. Die südliche Lebhaftigkeit ist bereits in Sie eingedrungen! – Er nahm seine Karten auf, Lugau desgleichen. Schilcher dagegen vergaß seine Pflicht, nachdem er gegeben hatte; er horchte nach dem Hause zurück, ihm war, als hörte er Gertrud kommen. Langsam und vorsichtig wandte er dann den Kopf dorthin.

Wild klopfte endlich mit einem Knöchel seines fetten kleinen Fingers auf den Tisch. »Nun, Herr Oberappellationsrat Schilcher? Sehn Sie gefälligst Ihren Strohmann an, haben Sie die Güte!«

»Den Strohmann, versteht sich,« entgegnete Schilcher und nahm die Karten des Strohmanns auf. Hatte er sich getäuscht oder nicht? Er horchte immer wieder. Er steckte die Karten zurecht, ob sie gut oder schlecht waren, das ward ihm freilich nicht bewußt. Er sah nur mehr rote als schwarze . . . Mehr rote als schwarze! sagte er sich und lugte in den Garten zurück.

Ja, nun kam sie wirklich an, die schlanke, lange Gestalt, bald von der Sonne angestrahlt, bald im Schatten der Gebüsche, wandelte heran. Es lag etwas in ihren Schultern – und wie sie den Kopf hielt – das seine Freude dämpfte und ihm vorn auf der Brust Mitleidsgefühle machte. Ja, ja, armer Kerl! dachte er. Jetzt ging sie an ihm vorbei und suchte ihn anzulächeln; es ward aber nicht viel daraus. Auch das Sprechen, das ihre Lippen versuchten, gelang doch noch nicht. Als sie bei ihrer Steinbank an der Brüstung angekommen war, schien ihr die Kraft zu vergehn; sie glitt nieder, von den Männern abgewandt, und legte sich eine Hand vor die Augen, das arme Köpfchen lehnte sich an die Brüstung an.

Wild warf unzufriedene Blicke auf den zerstreuten kleinen Herrn. »Es scheint,« murmelte er zu Lugau hinüber, »wir sollen heut’ wieder mit Hindernissen spielen . . .«

»Ich spiele also aus!« rief Lugau und warf seine Karte mit einigem Nachdruck hin.

»Und ich bediene!« rief Schilcher, der die Karten des Strohmanns so rasch wie möglich auf dem Tisch hinbreitete. Dann nahm er eine davon und warf sie neben Lugaus Karte.

»Was machen Sie?« sagte Wild. »Sie haben ja Treff.«

»Ja. Ich habe ja Treff. Ich bitte um Entschuldigung!« Schilcher verbesserte seinen Irrtum – so hatte er sich wohl noch nie versehn, seit er Whist spielte – und gab den Treffbuben auf dem Strohmann hin. Ihm war nun, wie wenn er das Mädel leise weinen hörte. Sie wird doch nicht! dachte er erschrocken. Vor den Mannsbildern da . . . Ah, das thut sie nicht. So ist Trudel nicht. Das war eine Täuschung!

Er horchte von neuem. Nein, sie weinte nicht. Es war offenbar nur sein eignes Gefühl, das ihm sagte: jetzt weint sie inwendig . . . Dieses verwünschte Gefühl ließ ihn auch nicht stillsitzen er stand wieder auf. Ohne an Treff oder Coeur zu denken, ging er zu der Steinbank hin und beugte sich auf Gertruds angelehnten Kopf, so daß sein vortretendes Kinn fast ihr Haar berührte. »Trudel!« sagte er leise. »Uebers Jahr sind wir wieder lustig. – Ganz, ganz lustig!«

Er bog sich um ihr Gesicht herum und küßte sie auf den Mund. »Aber was ist mit dem Schilcher?« sagte Wild und drehte seine schwerfällige Gestalt nach der Brüstung zu; von dem Kuß hatte er nichts gesehn noch gehört. »Herr Oberappellationsrat« – »Hab’ nur der Gertrud angedeutet,« erwiderte Schilcher trocken, »es könnte dem Strohmann gut thun, eine Flasche Capri zu tanken. Und den andern auch —«

»Ja, ja!« fiel ihm rasch das Mädchen ins Wort, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stand auf.

Lugau schmunzelte. »Herr, da haben Sie recht!«

Gertrud begann auch schon zu gehen, als sie nun aber ihren Vater mit dem jungen Waldeck herankommen sah, legte sich ihr eine Beklemmung auf die Brust, an ihnen vorbeizugehn, fehlte ihr der Mut. »Meine Freunde,« nahm Rutenberg das Wort, sowie sie auf die freie Terrasse traten, dieser junge Freund unseres Hauses wünscht sich zu empfehlen er will fort, nach Pompeji zurück, zu seiner archäologischen Bande. Mehr für Schilcher und die aufhorchende Gertrud setzte er hinzu: »Vielleicht sehn wir ihn in Rom noch wieder, jedenfalls aber zu Hause. Da besucht er uns, er hat mir’s versprochen!«

Fritz Waldeck nickte stumm. »Ich – ich muß nun fort,« sagte er darauf mit schwacher Stimme. Er nahm zum Abschied Rutenbergs Hand. »Mein Freund!« stammelte er leise. »Mein Vater!« Rutenberg zog ihn an die Brust, sie umarmten sich. Gertrud sah gerührt über die Schulter hinüber, dann blickte sie aber wieder vor sich hin. Sie wartete, bis Fritz zu ihr kam, als er sein, Abschiedswort an sie richtete, reichte sie ihm die Hand und schaute ihm mutig in die Augen. Es schien ihr plötzlich passend oder gut zu sein, wenn sie lächelten, so lächelte sie ihn denn an. »Auf Wiedersehn!« sagte sie. »Spätestens zu Hause!«

»O, ich hoffe!« antwortete er und ließ ihre Hand zögernd aus den Fingern. Schilchers stiller Blick ruhte mit einem leisen Wohlgefallen auf dem hochgewachsenen schmucken Paar und was für gute Augen sie beide haben! dachte er. Wie gut sie zu einander passen. Wenn die ein Paar werden – dann betrink’ ich mich!

»Gut Freund,« sagte er, so herzlich wie sein holziger Stolz es hergab, als Waldeck Sohn nun auch von ihm seinen Abschied nahm. Fritz grüßte die Whistspieler und ging. Gertrud sah ihm nach; sie hatte den Capriwein vergessen, den sie holen wollte.

Der junge Mann war übrigens noch nicht verschwunden, als Pasquale, an ihm vorbei, zwischen den Büschen herankam, schon von weitem lächelten seine kohlschwarzen Augen der Excellenza, dem Schilcher, zu. Mit ehrbarem Ernst brachte er dann aber seine Meldung vor: »Wollte nur berichten Excellenza, wir sind wieder da. Aber Humor schlecht!« Er hob malend die Arme und verzerrte das Gesicht »Wütend! Enrico!«

»Wer ist wieder da?« fragte Wild, der seine auf den Tisch gelegten Karten eben wieder angenommen hatte.

»Herr van Wyttenbach,« antwortete Schilcher. Gertrud fuhr zusammen.

»Schilcher hat gewonnen!« rief nun Rutenberg rasch. »Er gewinnt doch immer! – Nämlich, dieser Schilcher hatte gegen mich gewettet, der diabolischen Beredsamkeit Wilds werde es gelingen, unsern jungen Freund, Herrn van Wyttenbach, mit Hilfe des Vesuvs in die Berge zu treiben Unser junger Freund versteht Spaß, das wird sich schon finden. Jedenfalls hat Wilds Talent gesiegt!«

Die Whistbrüder lachten. Hinter seinem Rücken hörte Rutenberg leises Kleiderrauschen, dann ein Flüstern der bekannten lieben Stimme an seinem Ohr. »Ich will ihn nie wieder sehn!« sagte sie leise. »Gieb ihm das! Du!«

Das nicht nur zerknitterte, jetzt auch zerrissene Blatt, das Arthur ihr heute geschrieben hatte, schob sich in seine Hand.

Wild war unterdessen aufgestanden, seine Augen glänzten humoristisch triumphierend im Kreis herum. »Na? Werd’ ich nun anerkannt?« – Aber Schilcher bedient nicht. »Schilcher, Sie haben noch immer nicht aus der Hand bedient!«

»Ich bediene also«, entgegnete Schilcher würdevoll und spielte aus.

»Mein Stich,« sagte Lugau – »Nochmals Treff!« Mit seinem bekannten kurzatmigen Schwung warf er Treffkönig hin.

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Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
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