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Nina Teller - Das Monsterritual

„Bei Thorben bekomm ich immer Eiscreme“, sagt Hannah in dem ernsten Erwachsenenton, zu dem sie ihre Augenbrauen zusammenkneift und das Kinn hebt.

„Warum glaube ich dir das nicht?“ Ich schiebe sie aus dem Badezimmer und lösche das Licht.

„Weil du Thorben gar nicht kennst!“

„Da hast du recht, aber Mama kenne ich und die würde dir das niemals erlauben.“

Es fühlt sich seltsam an, darüber zu sprechen. Heute ist das erste Mal, dass Hannah seit der Scheidung bei mir übernachtet. Das erste Mal, dass ich sie wieder in das Kinderzimmer bringe, aus dem sie letzten Sommer ausgezogen ist. Ich habe das Haus behalten — Katja mein Herz. Mit Katja und Hannah ist das Lachen aus dem Einfamilienhaus, das ich von meiner Großmutter geerbt hatte, verschwunden. Umso dankbarer bin ich jetzt über die Stunden, die ich mit meiner Tochter verbringen darf. Egal, dass sie von Thorben, dem neuen Freund meiner Ex-Frau, erzählt. Hauptsache sie ist da.

„Vielleicht habe ich ein ganz kleines bisschen geflunkert“, sagt Hannah und bleibt vor dem Bett stehen. Ihre blonden Locken rahmen ihr Gesicht, das auf einmal viel älter wirkt als sieben Jahre. Wir haben alle viel durchgemacht, denn egal wie man es anstellt, eine Scheidung kann man nicht von den Kindern fernhalten. Eine Lektion, die ich niemals hätte lernen wollen.

„Wir können morgen Eis besorgen, aber nur, wenn du jetzt brav schläfst.“

Hannah nickt und springt aufs Bett. Der Lattenrost knarzt. Ich will das Fenster kippen, um Luft hereinzulassen, doch sie hält mich zurück.

„Daddy, du musst noch unter dem Bett nach Monstern sehen.“

Ich versuche ganz ernst zu wirken, auch wenn es mir wohl misslingt, weil ich nicht anders kann, als zu grinsen. Das war unser Ritual gewesen. Ich hatte früher immer unter ihrem Bett nachgesehen, also spiele ich auch heute mit. „Dann wollen wir mal sehen.“

Ich knie mich hin und stecke den Kopf unter das Bett. Ein einsamer Legostein zeugt von der Zeit, in der wir gemeinsam auf dem Fußboden gespielt haben.

„Hallo? Monster? Ist da jemand?“, frage ich so laut, dass jedes Ungeheuer sofort die Flucht ergreifen würde. „Wenn Sie sich unter dem Bett meiner Tochter aufhalten, dann bitte ich Sie, unverzüglich zu verschwinden!“

Früher hätte Hannah gekichert, jetzt bleibt sie still. Schwerfällig stehe ich auf. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, mich in einem Fitnessstudio anzumelden oder endlich wieder Laufen zu gehen, denn der Kummer über die Scheidung hat mich essen lassen, viel essen. Schokolade, Pizza, Hamburger, Kuchen.

Ich beuge mich über meine Tochter und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf gut, mein Schatz.“

„Gute Nacht.“

Ich gehe zur Tür, lösche das Licht und lasse meine Hand lange auf dem Lichtschalter liegen, weil ich nicht gehen will.

„Das Fenster“, sagt Hannah.

Ich gehe im Dunkeln zum Fenster, erstarre jedoch, bevor ich es erreicht habe. Im Zwielicht unter dem Bett bewegt sich etwas.

Dort liegt Hannah. Eine zweite Hannah. Und sie starrt mich mit aufgerissenen Augen an. Ich spüre ihren Atem an meinen nackten Füßen, als sie flüstert: „Daddy, da ist etwas auf meinem Bett.“

Ich kann nicht anders, als vor mich hinzustarren. Ihr kleiner Brustkorb unter dem grünen Nachthemd hebt und senkt sich in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Das Bett knarzt, ich weiche zurück, stolpere, falle gegen die Wand, einer der Bilderrahmen bohrt sich in meine Wirbelsäule. Mein Sichtfeld verschwimmt, mein Atem geht stoßweise.

Nur vom Nachtlicht beleuchtet, sitzt meine Tochter auf der Matratze und gleichzeitig starrt mich ihr fahles Gesicht aus der Schwärze unter dem Bett heraus an.

Meine Beine setzen sich in Bewegung, ohne dass ich ihnen den Befehl gegeben habe. Ich knalle die Tür zu. Mein Herzschlag sprengt mein Bewusstsein. Für ein paar Sekunden bleibe ich wie angewurzelt stehen.

Was jetzt?

Rascheln. Schritte. „Daddy, sie will mir wehtun!“

Hannah!

Ich reiße die Tür wieder auf. Warum habe ich sie nur allein gelassen?

Das Zimmer ist leer. Meine Finger wandern zum Lichtschalter. Jeden Moment wird mich etwas berühren, jemand wird aus der dunklen Ecke springen, mich packen … doch nichts geschieht.

Ich spüre keine Erleichterung, im Gegenteil. Mir wird abwechselnd heiß und kalt, mein ganzer Körper zittert. Ich halte mir den Bauch. Die Stille, die sich zwischen den weiß lackierten Möbeln ausgebreitet hat, ist schlimmer als jedes Monster. Lieber würde ich meine Tochter nun zweimal vor mir sehen als überhaupt nicht.

Ich zerre die Schranktüren auf und suche die Ecke zwischen Schrank und Wand ab, in der sich Hannah früher oft mit einem Bilderbuch verkrochen hat. Als ich zum Bett komme, halte ich die Luft an, bis sich mein Brustkorb so stark verkrampft, dass ich nicht mehr anders kann, als weiter zu atmen. Von der Wand, an der ich vorhin noch stand, schaue ich unter das Bett.

Nichts.

Ich hebe die Bettdecke an, doch niemand ist darunter. Ist das Bett warm? Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber ich glaube, den Geruch unserer Handseife zu riechen, mit der sich Hannah im Bad gewaschen hat.

Wo bist du?

Ich rüttele am Fenstergriff, doch das Fenster ist immer noch geschlossen, die Kindersicherung verriegelt, genau wie ich erwartet habe. Weil ich es nicht glauben will, dass Hannah — die doppelte Hannah — einfach verschwunden ist, durchsuche ich noch einmal das Kinderzimmer, dann schließe ich die Tür ab und mache mit dem Bad und dem Schlafzimmer weiter.

„Hannah?“, rufe ich schließlich, auch wenn ich Angst vor dem habe, was ich als Antwort erhalten könnte. Ich höre ihre panische Stimme in meinem Kopf.

Daddy, sie will mir wehtun.

Wie kann ich überhaupt sicher sein, wer von den beiden Hannahs meine Hannah, ist? Und was ist die, der, das andere … Ding?

Kalter Schweiß läuft an meiner Wirbelsäule entlang und sammelt sich am Bund meiner Jogginghose. Ich eile durch das Haus, rufe immer wieder nach meiner Tochter und suche jeden Winkel ab. Erst das Erdgeschoss, dann zwinge ich mich in den Keller. Meine Beine zittern. Ich will rennen, will fliehen, stattdessen schiebe ich mich mit dem Rücken an der Wand entlang. Schweißperlen tropfen in meine Augen. Mein Magen brennt und drückt, mein Herzschlag hämmert in meinem Kopf.

„Hannah?“

Am Schluss steige ich mit Taschenlampe und steifen Knien auf den Dachboden. Mein Körper will mir nicht gehorchen, weil die Angst von im Besitz ergriffen hat. Jede Bewegung fällt mir schwer und alles läuft wie in Zeitlupe ab. Egal was mich dort oben erwartet, es wäre schlimmer, Hannah nicht zu finden.

Zurück im Erdgeschoss kann ich nicht aufatmen. Auch wenn es sich nach Stunden anfühlt, zeigt die Digitalanzeige an der Mikrowelle, dass nur etwa eine halbe Stunde vergangen ist.

Und jetzt? Was jetzt?

Ich kann nicht mehr klar denken. Ich lasse mir ein Glas Wasser ein, trinke es hastig gegen das Brennen in meiner Kehle, doch es verstärkt nur die Magenschmerzen.

„Hannah!“, rufe ich. Huste. „Schatz? Wo bist du?“

Klirrend fällt das Glas auf den Boden, zerspringt in tausend Stücke, weil ich es neben die Spüle gestellt habe statt darauf. Ein unkontrolliertes Wimmern kommt aus meinem Mund. Ich muss mich am Küchenschrank festhalten, um nicht ebenfalls zu Boden zu gehen. Mein Blick wandert zum Telefon, das auf dem Küchentisch zwischen der Tageszeitung und dem Geschirr vom Abendessen liegt. Zwei Teller, das heißt, Hannah war zum Essen bei mir. Ich habe es mir nicht einfach eingebildet.

Werde ich verrückt?

Wen kann ich anrufen? Katja? Die Polizei? Und dann? Was soll ich sagen? Dass ich meine Tochter verloren habe? Wie könnte ich erklären, was ich gesehen habe?

Katja wird so verdammt wütend werden. Was, wenn sie mir das Sorgerecht entziehen? Ich kann doch schlecht von einem Monster erzählen. Oder einer Halluzination?

Das Ziehen in meinem Bauch wird stärker. Im letzten Moment kann ich mich über das Spülbecken beugen.

Als mein Magen endlich Ruhe gibt, lasse ich das Wasser laufen und wische mir mit einem Geschirrtuch über den Mund.

Ich werde die Polizei rufen, wenn ich Hannah nicht innerhalb der nächsten halben Stunde finde, werde mich allem stellen, werde alles riskieren, solange es meine Kleine zurückbringt.

„Daddy?“

Ein Schauer läuft durch meinen Körper. Ich fahre herum.

„Daddy?“ Hannah steht in der Tür. Sie hat kein Nachthemd, sondern ihre gepunktete Leggins an und dazu das T-Shirt, das sie heute im Streichelzoo voll Schlamm gespritzt hat. „Bei Thorben muss ich jetzt ins Bett.“

Ich finde keine Worte, keine klaren Gedanken, versuche zu sprechen, aber es gelingt mir nicht.

„Bist du krank?“, fragt Hannah und kommt auf Zehenspitzen über die Fliesen getrippelt, damit sie nicht auf die Fugen tritt. Seit der Scheidung hat sie ein paar Eigenarten angenommen, doch die Kinderärztin ist der Meinung, es würde sich wieder geben. In diesem Moment beruhigt es mich meine Tochter zu sehen. Meine Hannah mit ihren Eigenarten. Sie ist es doch, oder?

Die Haare an meinem Arm stellen sich auf. Bin ich einfach nur ein bisschen überarbeitet und auf der Couch eingeschlafen?

Habe ich alles geträumt?

„Hannah“, flüstere ich. „Geht es dir gut?“

Sie kneift die Augenbrauen zusammen. „Ja? Du bist komisch, Daddy.“

„Wo warst du denn?“, frage ich und verstecke meine Hände hinter dem Rücken, weil ich nicht will, dass sie mich zittern sieht.

„Drüben.“ Hannah stützt ihr Kinn auf die Arbeitsfläche und wackelt mit dem Hintern hin und her. „Ich bin wirklich müde.“

Jetzt höre ich den Fernseher im Wohnzimmer. Meine Schultern entspannen sich. Ja, so muss es gewesen sein. Wir haben uns nach dem Abendessen vor den Fernseher gesetzt und, müde wie ich in letzter Zeit ständig bin, muss ich eingeschlafen sein. Muss geträumt haben. Schlimm geträumt.

Ich gehe mit Hannah nach oben und kontrolliere, ob sie ihre Zähne richtig putzt. Als sie schließlich das Nachthemd angezogen hat, gibt es keinen Grund mehr, nicht ins Kinderzimmer zu gehen. Jeder Schritt kostet Überwindung. Soll ich meine Kleine fragen, ob sie bei mir im Bett schlafen will? Nein, ich darf sie nicht mit meiner irrationalen Angst erschrecken.

Als ich die Türklinke herunterdrücke, tut sich nichts. Ich zucke zusammen. Die Tür ist abgeschlossen, so wie ich sie hinterlassen habe, als …

„Was ist los, Daddy?“

Ich mustere Hannah von oben bis unten, versuche, etwas an ihr zu finden, das mir verrät, ob sie wirklich meine Tochter ist, nicht das Ding unter dem Bett. Oder das Ding auf dem Bett?

„Wie alt bist du?“, frage ich.

„Sechseinhalb.“

„Und wie heiße ich?“ Etwas Besseres fällt mir nicht ein.

Sie schaut mich an, als wäre ich dumm. „Pupsnase.“

„Hannah, bitte, es ist wichtig.“

Sie stützt sich mit den Händen an der Wand ab und lässt den Kopf nach hinten fallen, um dabei eine seltsame Turnübung zu vollführen. „Oliver. Oliver Peschke.“

„Wo waren wir heute?“

„Auf dem Mond.“

Ich packe Hannah an der Schulter und als mir bewusst wird, wie grob ich sie anfasse, bekomme ich Angst vor mir selbst. Was ist nur in mich gefahren? Wie kann mich ein Traum so mitnehmen?

Auch Hannah hat Angst, sie weicht von mir zurück. „Im Supermarkt und dann im Zoo. Und dann haben wir gegessen.“

„Was haben wir gegessen?“

„Bratkartoffeln mit Speck.“ Sie mustert mich mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Und keine Eiscreme!“

„Ist gut“, flüstere ich. „Ist alles gut. Tut mir leid, ich wollte dir keine Angst machen.“

Ich schließe die Tür auf, was Hannah seltsam findet. Bevor sie nach dem Monsterritual fragen kann, krieche ich unter das Bett.

Nichts. Natürlich nicht.

Ich erzähle ihr eine Geschichte, während der ihr die Augen zufallen. Trotzdem bleibe ich noch lange an ihrem Bett sitzen. Warte. Passe auf.

Später lasse ich die Tür offen und die Lampe auf dem Schreibtisch zusätzlich zum Nachtlicht an, dann setze ich mich ins Wohnzimmer. Im Fernsehen läuft noch eine von den DVDs, die Hannah von ihrer Mutter mitgebracht hat. Soll ich Katja doch noch anrufen? Nein, es würde nur komisch werden. Ich habe mir etwas Seltsames eingebildet. Es muss am Stress liegen, den ich zurzeit bei der Arbeit habe, die Aufträge, mit denen ich immer hinterherhinke, an der Scheidung, der Einsamkeit.

Wie konnte ich nur glauben, es ginge an mir spurlos vorbei?

Meine Augenlider werden schwer, trotzdem zwinge ich mich dazu, noch einmal das gesamte Haus abzusuchen. Am Ende schleiche ich an Hannahs Bett, zupfe die Bettdecke zurecht und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Ich kontrolliere das Fenster, ziehe den Vorhang davor.

Die Dunkelheit unter dem Bett starrt mich an. Ich starre zurück, dann bringe ich mich dazu, das Zimmer zu verlassen.

Ich nehme ein Kissen vom Sofa und klammere mich daran fest. Minutenlang sitze ich da und versuche zu verstehen, was da heute passiert ist.

Als die Schlussmelodie der DVD verstummt, mache ich mir eine Dosensuppe warm, um das Loch in meinem Magen zu stopfen.

Die erste Stunde wälze ich mich im Bett herum, lausche immer wieder in die Nacht und lasse mich von meinem eigenen Herzschlag beunruhigen. Mitten in der Nacht träume ich von einer Sirene, die mir in den Ohren wehtut.

Dann bin ich hellwach, doch die Sirene ist immer noch da. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich begreife: Es ist der Rauchmelder. Schlagartig stehe ich neben dem Bett, meine Beine sind schwer, meine Muskeln angespannt. Instinktiv greife ich nach dem Handy und stecke es in die Jogginghose, mit der ich geschlafen habe, weil ich Angst davor hatte, es könne in der Nacht irgendetwas Seltsames passieren.

Ich berühre die Türklinke. Sie ist kühl.

Im Flur riecht es nach Rauch. Von der Küche her flackert das Feuer, die Flammen malen Muster an die weiße Tapete. Sekundenlang verharre ich starr vor Angst, dann laufe ich zum Feuerlöscher neben der Kellertür. Mit zitternden Fingern zerre ich an den Plastikbändern. Ich stolpere durch den Flur. Die Flammen haben die Küchentür verschlungen und fressen sich über unsere Fotowand mit den Erinnerungen an Hannahs Kindergartenzeit.

Es ist zu spät. Der Löscher reicht niemals aus. Trotzdem ziehe ich den Stift heraus und sprühe den Schaum in die Flammen. Die heiße Luft bringt mich zum Husten. Wir müssen hier weg. Ich reiße die Kinderzimmertür auf. Hannah schreit. Ich stürme zu ihrem Bett und drücke sie an mich.

„Alles ist gut, mein Schatz. Wir müssen nur schnell hier raus.“

Zurück in den Flur. Dann raus aus dem Haus.

„Daddy …“ Hannah weint und drückt ihr Gesicht an mein T-Shirt.

Das Wohnzimmer, das an die Essecke angrenzt, ist mit dunklen Rauchschwaden gefüllt. Die züngelnden Flammen haben bereits die Tür zum Hausflur erreicht. Ich starre in die orange Hölle und kann es nicht begreifen. Dann drehe ich mich endlich um und renne ins Schlafzimmer zurück, wo ich mit Hannah auf dem Arm das Fenster öffne. „Du musst da raus, Schatz. Ich helfe dir.“

„Ich habe Angst, Daddy.“

Ich hebe sie aus dem Fenster und beuge mich so weit vor, wie ich kann. Ihre Füße sind noch ein paar Zentimeter über dem Boden. Das Nachthemd verfängt sich in den Sträuchern. Ohne es ihr zu sagen, weil ich weiß, sie würde sich sonst festklammern, lasse ich sie fallen.

Hannah schreit auf, doch ich glaube, es ist ihr nichts passiert. Schnell klettere ich hinterher. Die Angst und der Schock treiben mich an, lassen mich handeln, statt zu fühlen, statt zu zögern.

Ich laufe mit Hannah an der Garage vorbei zur Straße. Die Flammen haben das Küchenfenster platzen lassen und steigen an der Hauswand zum Dachboden empor. Ich drücke meine Kleine an mich und streichele über ihre Haare. „Hab keine Angst. Daddy ruft die Feuerwehr.“

Du hast den Herd angelassen, du verdammter Vollidiot. Du hättest jetzt tot sein können. Du hättest sie umbringen können.

Mit zitternden Atem lausche ich dem Tuten des Handys, während hinter mir das, was mir von dem Traum, hier glücklich mit meiner Familie zu leben, noch geblieben ist, in Flammen aufgeht. Mein Leben. Meine Erinnerungen. Alles wird verschlungen. Ich gebe die Adresse durch, warte, beantworte Fragen.

Als ich endlich auflegen kann und mich zu Hannah umdrehe, die ich neben mir abgesetzt habe, ist sie verschwunden.

„Hannah?“, rufe ich in die Nacht hinein. „Hannah? Wo bist du?“

Alles dreht sich. Ich taumele, fühle mich im freien Fall. Ich kneife mir in den Arm. Stampfe mit dem Fuß auf, um den Schmerz durch mein Bein schießen zu spüren.

„Hannah? Hannah, Schatz, bitte komm her.“ Panisch suche ich die Straße ab. Drehe mich im Kreis. Ich sehe ein paar Häuser weiter Licht angehen. „Hannah! Hannah! Hannah!“

Hinter mir wird eine Jalousie hochgekurbelt. Irgendwo in der Ferne tönt eine Sirene. Meine Kehle brennt vom Rauch und von der Anstrengung, doch ich höre nicht auf, meine Tochter zu rufen.

Dann entdecke ich sie. Hannah steht oben am Dachfenster. Ihre blonden Locken kleben im Gesicht. Ich kann es nicht genau erkennen, auch wenn die Flammen, die von unten aufsteigen, ihr Gesicht beleuchten, doch ich glaube, sie ist mit Ruß verschmiert. „Daddy! Daddy!“

Eine kleine Hand packt mich am Arm. „Hilf ihr nicht!“

Meine klammen Finger umfassen das Gesicht meiner Tochter. Ihre Haut ist warm und weich. Ich will sie an mich drücken, will sie vor allem beschützen, doch ich kann nicht von dem Mädchen oben am Fenster wegschauen, das gerade versucht aufs Dach zu klettern. Was, wenn ich das falsche Kind gerettet habe? Wenn meine Hannah gerade …

„Sie ist böse. Sie will mein Eis essen. Sie soll verbrennen!“

„Was redest du da?“, flüstere ich.

Hannah zuckt mit den Schultern und reißt sich von mir los, um über den Bordstein zu balancieren. Dabei tritt sie auf das Unkraut, das aus den Fugen sprießt.

So was würde Hannah nie sagen, das würde Hannah nie tun.

Ich laufe los. Ohne nachzudenken. Ohne zu zögern. Ziehe mich am Schlafzimmerfenster ins Haus.

Das Feuer ist noch nicht in diesem Raum angekommen. Alles knarrt und knistert. Irgendwo fällt etwas um und der Schlag lässt mich zusammenzucken. Im Badezimmer befeuchte ich Handtücher, weil ich es irgendwo im Fernsehen gesehen habe und wickele sie mir um den Kopf. Der Rauch fühlt sich weniger schlimm an, doch ich weiß, ich muss durch die Flammen gehen, um meine Kleine zu retten.

Ich laufe auf das Licht zu, taste mich an der Wand entlang, dann robbe ich über den Boden. Die Hitze hüllt mich ein. Ich kann nichts mehr sehen, weiß nicht, ob ich bereits im Flur bin oder im Kreis krieche.

Mir ist schwindlig. Ich huste, kämpfe mich weiter. Schweiß rinnt mir in die Augen. Ich bin so müde, mein Kopf fühlt sich an wie im Schraubstock.

„Hilf mir! Ich bin hier, Daddy!“

Wieder huste ich, dann nichts mehr.

Lichtpunkte tanzen über mir. Ich liege irgendwo, mein ganzer Körper ist steif. Etwas drückt auf mein Gesicht. Ich blinzle. Ein Schmerz durchfährt meine Augen, als ich in ein weißes Licht starre.

„Er kommt zu sich“, sagt jemand neben mir. „Herr Peschke? Sie sind im Krankenwagen. Ganz ruhig.“

Ich will mich aufrichten, doch bin zu schwach. In meinen Lungen kocht Teer. Das Atmen fällt mir schwer. Ich öffne den Mund. Es kommt kein Satz heraus, nur ein Röcheln.

„Es ist besser, wenn Sie nicht sprechen. Der Sauerstoff wird Ihnen helfen.“ Jetzt erkenne ich den blonden Schopf eines Sanitäters. Ein Mann, etwa in meinem Alter. „Wir bringen Sie ins Marienkrankenhaus. Sie wurden zum Glück schnell aus dem Haus geholt, doch Sie haben Rauch eingeatmet. Wir haben Ihnen auf Verdacht einer Cyanidvergiftung ein Gegenmittel gegeben. Im Krankenhaus wird man Sie genauer untersuchen.“

„Hannah?“, krächze ich.

Der Mann schaut mich an. Ich bin zu leise. Meine Finger rutschen über die Maske auf meinem Gesicht, ziehen daran, doch er schüttelt den Kopf, greift danach, hält sie fest. Draußen höre ich etwas Rauschen, außerdem mehrere Stimmen. Die Feuerwehr? Bilder vom Brand tauchen vor meinen Augen auf.

„Hannah?“, flüstere ich.

Der Mann versteht mich auch ohne Worte. Er drückt meine Schulter. „Den Mädchen geht es gut. Beiden. Sie haben wunderschöne Zwillinge.“

Ich will schreien, um mich schlagen, aufstehen.

Das letzte, was ich vor mir sehe, bevor ich erneut ohnmächtig werde, sind die geweiteten Augen meiner Tochter, die bebend unter ihrem Bettchen liegt, auf dem das Monster seelenruhig sitzt.

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9783748577041
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