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Orignaltitel: Ship of Silence
The Blue Book Magazine 1932/7
Übersetzung Mattthias Käther (c) 2019
Carl Denning – Elsa

Friedhofswetter. Dunkelgraue Wolken, ein eisiger Wind und dann das Prasseln des Regens auf den nussbraunen Holzsarg. Ich hörte den Worten des Pfarrers überhaupt nicht zu und achtete auch nicht auf die übrigen Trauergäste. Mein Blick richtete sich auf eine dunkle Gestalt, die ein paar Meter entfernt von dem offenen Grab stand. Ich nahm sie nur als einen Schatten wahr. Als einen Schatten, der unter dem knorpeligen Kastanienbaum stand. Eine kräftige Böe bewegte ihr langes Haar. Und obwohl ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, wusste ich, dass sie es war.

Kalter Schweiß trat aus meinen Poren. Ein Zittern suchte meine Hände heim, sodass ich die Finger fest ineinander krallte. Doch sollte dies erst der Anfang sein. Der Anfang eines noch viel schlimmeren Grauens.

Ich hatte gehofft, dass mit ihrem Tod alles vorbei wäre. Aber das war es nicht. Es war entsetzlich. Als wäre ich weiterhin in einem Albtraum gefangen. Vielleicht sollte ich vorausschicken, dass ich es gewesen bin, der Elsa getötet hat. Elsa, meine Frau, die ich über alles liebte. Um ehrlich zu sein, hatten wir uns nicht lange gekannt, als wir heirateten. Und dann war es bereits zu spät gewesen.

Es fing an mit toten Ratten, die vor dem Wohnhaus lagen. Tot gebissen. Zunächst hatten die Bewohner eine streunende Katze in Verdacht. Doch schon bald sollte ich wissen, wer – oder soll ich eher sagen was ? – für die toten Ratten wirklich verantwortlich war. Elsa. So unglaublich es klingt, doch war sie es, die nachts auf Rattenjagd ging und diese Biester mit ihren Zähnen zerfleischte.

Wenn man Elsa so sah, glaubte man, sie könne keiner Fliege etwas zuleide tun. Sie sah unglaublich gut aus, hatte langes, blondes Haar und tiefblaue Augen. War es Zufall, dass ich sie damals traf? Das frage ich mich bis heute. Ich lernte sie bei einer Autorenlesung kennen. Nur wenige Leute fanden sich in dem Buchladen ein, und, um ehrlich zu sein, das, was der Autor vortrug, gehörte nicht gerade zum Besten der hiesigen Literaturszene. Aber da saß Elsa. Zwei Reihen vor mir auf einem der orangefarbenen Plastikstühle. Nach der Veranstaltung stöberte sie noch ein wenig in den Regalen herum. Ich tat so, als würde mich das Buch interessieren, das sie gerade in der Hand hielt, und so kamen wir schnell ins Gespräch. Der Rest ist kurz erzählt: regelmäßige Treffen, Kino, gemeinsame Ausflüge. Heirat.

Erst danach wurde mir das Grauen offenbar, das mich durch Elsa heimsuchte. Denn eines Nachts kam ich früher nach Hause, als geplant. Das Treffen mit ehemaligen Klassenkameraden war öde gewesen, etwas mehr als die Hälfte hatte sich seit dem Abschluss zu neureichen Spießern verwandelt, der Rest …

Nun ja, der Rest bestand aus Leuten wie mir: angestellt bei einer kreativlosen Firma und damit gefangen in einer trostlosen Alltagsroutine. Wie gesagt, kam ich in jener Nacht früher als geplant nach Hause.

Ich hörte sonderbare Laute aus dem Badezimmer. So etwas wie eine Mischung aus Röcheln und Krächzen. Ich dachte, Elsa sei schlecht. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich riss sie auf. Und schreckte mit einem lauten Aufschrei zurück.

Eine knöcherne, hässliche Frau mit langen, weißen Haaren stand vor dem Spiegel, ihre Augen gelb mit jeweils einem winzigen schwarzen Punkt in der Mitte. Ihr Mund und ihre dürren Klauenfinger voller Blut. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen sprang sie mich an. Reflexartig stieß ich sie zurück. Sie stolperte und knallte mit dem Kopf gegen die Kante des Waschbeckens. Blieb reglos liegen, während sich ein See aus dunkelrotem Blut um ihre widerliche Fratze ausbreitete.

Bis heute wundert es mich, dass weder der Notarzt noch der Bestatter Elsas Hässlichkeit wahrgenommen hatten. Sie sahen anscheinend Elsa, so wie ich sie bis dahin gesehen hatte: als eine überaus attraktive Frau.

Wer oder was war Elsa gewesen? Ich habe keine Ahnung. Einmal sagte sie mir, dass ihre Eltern seit langem tot seien. Mehr erfuhr ich nie über ihre Vergangenheit. Ihre Schönheit ließ mich schlicht und ergreifend alles andere vergessen.

Und nun die Beerdigung.

Nachdem sich die Trauergäste in alle Winde zerstreut hatten, selbst meinem besten Freund hatte ich gebeten zu gehen, stand ich noch immer am Grab und schaute mich um. Doch von der Gestalt unter dem Baum war nichts mehr zu sehen.

Doch auf dem Weg nach Hause hörte ich Schritte, die mir folgten. Aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war die Straße hinter mir leer. Dasselbe in der U-Bahn. In dem Wagon drängten sich die Leute. Es roch nach regennasser Kleidung. Ich stand an einer der Türen und starrte durch das Fenster hinaus auf die vorbeiziehende Tunnelwand. Die übrigen Fahrgäste spiegelten sich hinter mir als verschwommene Schemen. Plötzlich tauchte zwischen den Spiegelbildern Elsas scheußliche Fratze auf, ihre gelben Augen fixierten mich, während von ihrem breiten Mund Blut tropfte.

Ich schreckte zurück, stieß dabei gegen einen Mann, dem dadurch ein Stapel Papiere aus den Händen fiel und der mich mit Schimpfwörtern traktierte, während die anderen Leute mein Missgeschick mit sichtbarem Hohn genossen. Anstatt bis nach Hause zu fahren, stieg ich an der nächsten Station aus und eilte zurück an die Oberfläche.

Es regnete weiterhin. Der Wind war inzwischen stärker geworden. Ich suchte das nächst beste Café auf und setzte mich an den Tresen. Nur an wenigen Tischen saßen Gäste, doch wollte ich in keiner der hinteren Ecken sitzen. „Einen Kaffee.“

Der Mann hinter dem Tresen nickte und stellte mir eine dampfende Tasse hin. Der Kaffee schmeckte nach Spülwasser, vielleicht aber lag es auch an der Panik, die mich noch immer fest im Griff hielt. Sanfte Musik klang aus den Lautsprechern. Ich erinnerte mich daran, dass ich in einem Café Elsa einen Heiratsantrag gemacht hatte. Für einen Moment glaubte ich, dass es dasselbe Lokal gewesen sei. Doch in dieser Gegend war ich zuvor noch nie gewesen.

Hinter dem Spirituosenregal befand sich eine Wand aus Spiegelglas. Ich sah die hellgrünen Tische, ein paar der anderen Gäste und das Fenster, durch das man hinaus auf die Straße sehen konnte. Eine dunkle Straße mit dunklen Häusern. Direkt gegenüber dem Café befand sich der Laden eines Schuhmachers.

Und auf einmal rieselte mir eine Eiseskälte durch den Körper. Meine Glieder erstarrten. Denn vor dem Schaufenster des Schuhmachers stand sie . Ihre gelben Augen waren genau auf mich gerichtet. Ihre langen, grauen Haare hingen wie glitschige Algen von ihrem Kopf. Sie stand im Regen, sodass das weiße, mit Blut besudelte Kleid nass an ihrem dürren, knochigen Körper klebte.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Die Stimme des Mannes lenkte mich für einen kurzen Moment von Elsa ab. Als ich wieder in den Spiegel sah, fehlte von ihr jede Spur. Ich drehte mich auf dem Barhocker um. Die Straße war vollkommen leer.

„Alles klar?“, fragte der Mann erneut.

Ich nickte bloß, bezahlte und verließ das Café.

Von dieser Kreatur keine Spur.

Dennoch beeilte ich mich und rannte zurück in die U-Bahnstation. Auf den Zug musste ich noch fünf Minuten warten. Außer mir standen nur eine Handvoll anderer Leute auf dem Bahnsteig herum.

Dann hörte ich plötzlich Schritte.

Ich schaute mich entsetzt um.

Und meine Augen weiteten sich voller Schrecken, als ich sah, wie sie die Treppe herunterkam. Ihr Mund zu einem breiten, wahnsinnigen Grinsen verformt, ihre gelben Augen, die kein einziges Mal blinzelten, sondern starr auf mich gerichtet waren. Ich warf einen gehetzten Blick auf die Anzeigetafel. Noch drei Minuten.

Elsa stand bereits am unteren Ende der Treppe. Regenwasser tropfte von ihren Haaren und ihrem weißen Kleid.

Sie kam weiter auf mich zu, ihre blutigen Hände ausgestreckt, so als wollte sie mich umarmen. Voller Panik schaute ich mich um. Aber keiner der anderen Wartenden schien Elsa zu bemerken.

Noch zwei Minuten.

Der Zug sollte ohne mich abfahren. Elsa befand sich nur noch wenige Meter von mir entfernt. Ich wich von ihr wie vor einer großen, haarigen Spinne zurück. Dann rannte ich die gegenüber liegende Treppe empor, um kurz darauf wieder im Regen zu stehen. Ich kehrte zurück in das Café. Der Mann hinter dem Tresen schaute mich überrascht an.

„Können Sie mir ein Taxi rufen?“

„Ist was passiert?“

„Rufen Sie mir ein Taxi!“

Der Mann zuckte mit den Schultern und griff nach dem Telefon.

Keine Spur von Elsa. Auch nicht, als ich nach einer gefühlten halben Ewigkeit in das Taxi stieg. Ich nannte dem Fahrer meine Adresse.

„Verdammtes Wetter heute, was?“, versuchte er, mit mir ein Gespräch zu beginnen.

Ich antwortete nicht, ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen.

Nach etwa 20 Minuten hielt er vor dem Hochhaus, in dem mein Apartment lag. Ich zahlte, stieg aus und rannte durch den Regen zum Eingang. Dann die Treppe hoch in den vierten Stock. Ich schloss die Tür auf, betrat die Wohnung und schloss hinter mir wieder ab. Mein Herz pochte mir bis zum Hals. Meine Glieder zitterten, so als hätte ich Schüttelfrost. Ich schaute in jedem Zimmer nach. Als ich einen Blick ins Badezimmer warf, überfiel mich ein eisiger Schauer. Obwohl es leer war, sah ich Elsa in ihrem Blut wieder vor mir.

Ich schaute aus den Fenstern. Sie war mir nicht bis hierher gefolgt.

Den restlichen Tag saß ich in der Küche, vor mir eine Flasche Schnaps. Bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckte ich zusammen.

Am späteren Abend Schritte.

Ich hielt den Atem an. War auf das Schlimmste gefasst. Doch die Schritte hielten vor einer anderen Tür, ein Schlüssel rasselte. Dann wieder Stille.

Ich wartete weiter. Bis tief in die Nacht. Nichts tat sich. Der Spuk schien endlich vorbei. Ich zog mich aus, stieg ins Bett und schlief tatsächlich ein.

Als ich am Morgen wieder zu mir kam, fühlte ich als Erstes etwas Pelziges an meinen Füßen. Meine Brust fühlte sich schwer an, so als läge eine gefüllte Wärmflasche darauf. Ich streckte mich. Noch mehr Pelz. Erst dann nahm ich den widerlichen Gestank wahr. Eine Mischung aus fauligem Wasser, Fäkalien und Verwesung.

Ich erstarrte.

Öffnete meine Augen.

Und schrie mir die Seele aus dem Leib.

Auf dem Bett lagen unzählige tote Ratten. Mein Körper war fast vollkommen von den zerfleischten Kadavern bedeckt.

Ich lege den Bericht zur Seite, den mir mein Kollege Dr. Meisner gegeben hat. Ein Mann namens Robert Haller hat ihn verfasst. Er ist vor zwei Tagen bei uns eingeliefert worden. Ein kurzes Telefonat mit der Polizei bestätigte, dass das mit den Ratten stimmt. Irgendwer hat sich wohl einen üblen Scherz mit Haller erlaubt. Nachbarn hatten ihn schreien hören und die Polizei verständigt. Auch entspricht es der Tatsache, dass Hallers Frau tot im Badezimmer gefunden wurde. Ein tragischer Unfall wie es heißt. Die Beerdigung fand vor drei Tagen statt. Seine Frau soll überaus hübsch gewesen sein. Die toten Ratten, die man immer wieder um das Hochhaus herum gefunden hatte, kann sich bis heute keiner der Bewohner so richtig erklären. Überhaupt könnte man dies alles für die Wahnvorstellungen eines psychisch Kranken halten. Doch ist der Bericht nicht alles.

Heute früh fand einer der Pfleger Herrn Haller tot in seinem Zimmer. Sein Gesicht vor Schreck vollkommen verzerrt, sein Mund weit aufgerissen, so als würde er noch immer schreien. Und in dem Mund eine tote Ratte. Ein wirklich seltsamer Fall.

Lea Reiff - Der Mönch und die Pest

Grenoble, 1535

„Vater unser, der du bist im Himmel … Pater noster, qui es in caelis … Fiat voluntas tua … Et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos ... libera nos … libera …”

Sein Mund war trocken und er musste husten. Schnell versuchte er, das Geräusch in den Resten seines alten, schmutzigen Habits zu ersticken. Endlich hatte er ihn gefunden, den Apostaten, den Hexer, die alte Schlange.

„Serpens antique, adiuro te …“

Auch der Exorzismus blieb ihm wie ein Stein im Halse stecken. Kälte und Hunger machten seine Stimme rau. Hilfesuchend griff er nach dem Amulett, seinem einzigen Besitz. Er betastete es mit ruhelosen Fingern, versuchte sich an die Worte zu erinnern, die das darin eingeschmolzene Papier enthielt. Vergeblich.

Die kalten Winde des Spätwinters fuhren erbarmungslos in sein zerrissenes Habit und ließen die schwarze Kapuze seiner Kutte heftig um seine lang gewordenen Haare flattern.

Vorsichtig bog er ein paar kahle Äste des Busches zurück, hinter dem er sich verborgen hielt. So konnte er das Haus besser sehen. Hinter den Fenstern war es dunkel.

„Serpens! Draco nequissime … Verfluchter Drache …“

Eifrig folgten seine Finger den Gravuren des Amuletts. Vorne der Reiter, hinten die Sichel. Reiter, Sichel, Reiter, Sichel. Im Westen versank die Sonne hinter den Bergen und hinterließ einen roten Schein wie Höllenflammen.

„Dir und deinen Engeln … Tibi, et angelis tuis … ist ein unauslöschliches Feuer bereitet!“

Drohend schwenkte er eine Faust nach dem dunklen Haus und das unheimliche Flackern des Abends zeichnete Ströme von Blut auf seine Haut. Hinter einem Fenster erstrahlte ein heller Schein. Zuerst dachte er, es sei der Hexer, der sich ein Licht ansteckte, doch das Leuchten schien zu weiß und rein. Sein Herz schlug schneller. Auf bloßen Füßen wagte er sich aus den Büschen heraus bis an den Gartenzaun.

„Immaculata“, hauchte er. „Unbefleckte.“

Dann sah er ihr Gesicht am Fenster, umflort von ihrem klaren Schein. Fieberrote Lippen lächelten ihm zu. Die Hunde im Haus wurden wild. Bestimmt fühlten sie schon die ewigen Feuer an ihren schwarzen Pfoten lecken. Diesmal würden sie nicht entkommen. Sie würden büßen für alles, was sie ihm angetan hatten.

„Tibi, et angelis tuis“, zischte er. „Tibi, et angelis tuis, inexstinguibile preparatur incendium!“ Dann seufzte er weich: „Immaculata …“

Er folgte ihrem Leuchten um das Haus herum zur Straße, wo der Schlamm tiefer stand und ihm das Vorwärtskommen schwerer fiel. Zur Front des Hauses hin waren die Klappläden geschlossen. Im Obergeschoss flackerte eine einzelne Kerze. Das Tiefblau der aufziehenden Nacht drohte sie auszulöschen. Genau wie das Lebenslicht seines Feindes, begriff er. Der Hexer lag auf seinem Sterbebett.

Die Hunde wollten sich gar nicht mehr beruhigen. Vielleicht schnappten sie bereits nach der scheidenden Seele. Die Vorstellung war ihm willkommen und er fühlte sich so leicht und froh wie seit langem nicht mehr.

„Tibi, et angelis tuis“, wiederholte er wie ein Mantra. „Tibi, et angelis tuis.“

Erwartungsvoll ließ er sich dem Haus gegenüber auf das verdreckte Straßenpflaster sinken.

Am Morgen darauf blieben die Läden geschlossen und das Gebäude gab sich abweisend leer. Der Mönch glaubte, im Sterbezimmer jemanden klagen zu hören. Endlich war alles vorbei. Agrippa, der Hexer, lebte nicht mehr. Sein Engel aber musste im Sterbehaus geblieben sein. Alleine mit Agrippas Höllenhunden. Es missfiel dem Mönch, sie dort allein zu wissen.

„Vater unser … libera nos …“, versuchte er zu beten, doch der Husten machte es ihm unmöglich.

Gott wachte über seine Engel, beruhigte er sich. Sie brauchte ihn nicht.

Wenig später trat seine Immaculata durch die Türe, völlig unversehrt. Sie lächelte ihm freundlich zu und hob wie zum Gruß die Hand. Da stürmten zwei Schatten an ihr vorbei auf die Straße. Scharfe Zähne schnappten nach dem Mönch. Entsetzt erkannte er Agrippas Höllenhunde. Schwarz und drohend bauten sie sich vor ihm auf, knurrten und geiferten. Er rannte los. Rannte, so schnell ihn seine wunden Füße trugen. Ein dumpfes Lachen folgte ihm.

Köln, 1530

„Bruder Donatus?“

Die Anrede kam so unerwartet wie das Knarzen der Türe, die sich schwerfällig in den Angeln drehte. Ein alter Mönch steckte seinen grauen Kopf in die Krankenstube. Hinter ihm stand ein Fremder im Halbdunkel. Donatus, der lange allein in der stickigen Zelle ausgeharrt und seit Stunden nichts anderes vernommen hatte als das Röcheln des Sterbenden, erschrak und fuhr von seinem Schemel hoch. Eine kleine, gebundene Ausgabe der Vitas Patrum – der Leben der Kirchenväter – rutschte von seinem Schoß und klatschte laut vernehmlich auf den Boden. Darin verbarg sich ein Papier aus dem Nachlass des alten Priors und Inquisitors Hoogstraten.

„Bruder Valentinus!“ Gerade noch rechtzeitig erinnerte Donatus sich zu flüstern, um die Stille des Ortes nicht allzu grob zu stören. Der Kranke zuckte dennoch unruhig mit den Gliedern.

„Komm‘ einen Augenblick zu uns heraus“, verlangte Valentinus, ein alter, runzliger Mann, dessen Tonsur bereits mehr naturgegeben als geschoren war.

Donatus bückte sich nach den Vitas Patrum und gehorchte schweigend.

Auf dem künstlich verdunkelten Flur verschmolzen die schwarzen Kutten seiner Brüder mit den Schatten. Nur ihre Gesichter schimmerten blass in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch abgedeckte Fenster drangen. Den Mann, der hinter Bruder Valentinus aus der grauen Düsternis ragte, hatte Donatus noch nie aus der Nähe gesehen. Er wusste trotzdem, dass es der neue Prior war.

Mit einer Geste des Gehorsams erwies Donatus ihm Respekt. Nicht allein wegen der Würde seines Amtes – dem Neuen war kein leichtes Los beschieden. Auf seinen Schultern ruhte das Erbe Jakob van Hoogstratens, der bis ans Ende seines Lebens rechtgläubig und standhaft im Kampf gegen Ketzer und Abtrünnige gewesen war. Besonders gegen die Irrlehren Martin Luthers hatte er sich zur Wehr gesetzt. Es waren die Fußspuren eines Riesen, die sein Nachfolger zu füllen hatte.

„Der Herr sei mit dir“, sagte der Prior. Die stickige Hitze trieb Schweißperlen auf seine Stirn.

„Und mit deinem Geiste.“

Der Prior seufzte über die einstudierte Erwiderung.

„‚Erhebt eure Herzen zu Gott‘, möchte man den Leuten zurufen“, schimpfte er. „Häretiker und Apostaten, wohin das Auge blickt! Die Leute huren und saufen bis zum Erbrechen – und dann wundern sie sich, dass Gott ihnen zürnt. Wenn wir nichts unternehmen, gehen wir mit ihnen unter!“

Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich habe viel Gutes von dir gehört, Donatus. Valentinus sagt, du bist fest im Glauben. Dein Gebet findet Gehör.“

Donatus errötete. Nur nicht stolz sein. Der Stolz war des Teufels.

„Nur weil der Herr auch die Geringsten seiner Kinder erhört“, erwiderte er, den Blick zu Boden gesenkt. „Wie kann ich Euch dienen, Vater?“

„Komm mit. Ich werde selbst einmal versuchen, die Leute zur Vernunft zu bringen. Bring mir das Evangeliar und mein Brevier! Wir treffen uns gleich unten an der Pforte.“

„Vater!“, stammelte Donatus, überwältigt von der Ehre. Bruder Valentinus lächelte.

„Mach' dir keine Sorgen“, sagte der alte Mönch. „Sebastianus begleitet euch. Und wenn du willst, halte ich für dich Wache.“ Er deutete auf die halb offene Tür, hinter der sein Mitbruder im Sterben lag.

Dankbar überreichte Donatus ihm die Ausgabe der Vitas Patrum , aus der er vorgelesen hatte. Den kleinen Spruchzettel Hoogstratens nahm er heimlich heraus und steckte ihn in seinen Beutel. Warum, hätte er nicht sagen können. Es schien ihm notwendig zu sein.

Er wartete, bis Bruder Valentinus seinen Platz in der Zelle des Kranken einnahm, bevor er das Evangeliar und das Brevier aus der Sakristei holte. Selbst dort fiel das Atmen schwer. Schlechte Luft zog durch die Straßen und Gebäude wie ein Heer von Teufeln. Donatus' Hände schlossen sich um seinen Beutel, in dem Hoogstratens Spruch wie ein heiliges Geheimnis verborgen lag.

„Herr, schick mir deinen Engel, damit er mich trägt“, flüsterte er. „In nomine Adonai, El, Elohim … Adiuro te!“

Als er über die Schwelle trat, spürte er einen Luftzug im Nacken. Es war, als hätte ihn ein Ätherwesen sanft berührt. Leise erschauernd wandte er sich um. In der Dunkelheit des Klosters sah er ein weißes Leuchten. Ein Fleck von Licht, wie wenn man zu lange in die Sonne geschaut hatte. Inmitten dieses Leuchtens erahnte er die Formen eines Frauenleibs. Die Erscheinung schwebte mehr, als dass sie ging und verschwand bald in der Düsternis.

„Immaculata“, wisperte er voll Ehrfurcht, denn sie war blühend schön wie die Madonnenbilder in der Kirche. Nur reiner. Anders als die Mutter Gottes schien sie selbst von der Erbsünde unberührt. Ein Engel.

„Hast du etwas gesagt, Donatus?“, sprach ihn jemand von der Seite an und riss ihn aus seiner andachtsvollen Stimmung. Neben ihm stand Sebastianus, sein Lehrer, in Habit und Kutte, dem nüchternen Schwarz-Weiß des Dominikanerordens. Unter dem Arm hatte er eine andere, prächtigere Ausgabe der Vitas Patrum , die er Donatus zu tragen gab. In der lastenden Schwüle wogen die Bücher in seinen Armen schwer wie Mühlsteine. Als endlich auch der neue Prior eintraf, ächzte Donatus bereits unter der Last. Unterwegs wurde es nur schlimmer.

Verbrauchte, feuchte Sommerluft drückte die Menschen nieder. Jede Bewegung kostete unmäßig viel Kraft. Trotzdem schlossen sich den Mönchen bald einige fromme Leute an. Ihr Weg führte sie zum Rathaus, dessen hoher Turm den Wohlstand der freien Reichsstadt weithin sichtbar machte. An diesem Tag spendete er jedoch vor allem Schatten.

Aufatmend von der Hitze machten die Mönche Halt und warteten, bis sich die Menge um sie versammelt hatte und ruhiger geworden war. Ein fauliger Geruch lastete auch hier, süß und verdorben, auf ihnen.

Donatus durfte noch nicht predigen. Gemeinsam mit seinem Mentor assistierte er dem neuen Prior. Er hielt die Bücher bereit, damit Sebastianus sie aufschlagen und die kostbaren Illustrationen vorzeigen konnte, auf die ihr Ordensoberhaupt zu sprechen kam. Viele Augen ruhten auf ihm, als der Prior der schwitzenden Menge das Gleichnis vom verlorenen Sohn auslegte: Gott liebte auch und ganz besonders die Verirrten, die ihre Sünden einsahen und demütig in den Schoß der Kirche zurückkehrten.

Da, plötzlich, kam ein Wind auf und zerstreute vorübergehend die drückende Schwüle, die auf der Stadt gelegen hatte wie ein dickes Kissen. Vielleicht bedeutete die Atempause, dass Gottes Vergebung nahe war, überlegte der junge Mönch, und freute sich insgeheim, dass ihm sein Stand erlaubte, den Menschen bei ihren Gebeten nützlich zu sein. Da entdeckte er in der Menge eine Frauengestalt, am ganzen Leib von einem hellen, weißen Schein umgeben. Dieselbe, die er schon in der Dunkelheit des Klosters gesehen hatte. Gott musste ihn erhört und einen Engel gesandt haben, um ihn zu trösten und ihm beizustehen.

Mühelos bahnte sich das Wesen einen Weg durch die Menge. Niemand schien von ihm Notiz zu nehmen. Als die Engelsfrau näherkam, sah Donatus, dass sie keine Haube und kein Haarnetz trug. Lange, goldbraune Locken wallten lose über ihre schmalen Schultern wie Flüsse von Honig, vorbei an den vollen Rundungen ihrer Brüste. Ihr Gewand war dünn und durchscheinend und die rosafarbenen Erhebungen ihrer Brustwarzen schimmerten daraus hervor. Erschrocken zwang sich Donatus, die Augen abzuwenden. Aber das Wesen hatte ihn erwischt und lächelte, als wollte es ihm vergeben und ihn zugleich für seine Verhaftung in der Welt verspotten. Ihn überkam ein seltsames Gefühl von Andacht und Furcht, ein bisschen, als wäre ihm heiß und kalt zugleich. Verschwörerisch legte die Engelsfrau einen Finger an die Lippen und gebot ihm zu schweigen. Dann trat sie aus der Menge. Zuerst glaubte Donatus, sie würde zu ihm kommen, ihn vielleicht mit sich nehmen, doch stattdessen wandte sie sich Bruder Sebastianus zu und küsste ihn auf die Stirn. Ein leises Wispern, nur ein Hauch, verließ ihre roten Lippen. Sebastianus senkte das Evangeliar. Er zitterte, schien ihre Gegenwart zu spüren. Prüfend betastete er die Stelle, wo ihre Lippen ihn berührt hatten, und sah sich fragend um. Als er niemanden entdeckte, schlug er vor seiner Brust ein Kreuz. Im selben Moment verschwand die Erscheinung aus Donatus‘ Blickfeld. Tief in seinem Innern spürte er jedoch, dass er sie wiedersehen würde. Auch wenn sie vielleicht nur an diesen Ort gekommen war, um seinen Lehrer zu segnen. Denn dass ihr Kuss Segen bedeutete, daran zweifelte Donatus nicht.

Ganz zu Beginn, als er Hoogstratens Spruch gefunden hatte, hatte er sich geschämt, einen Engel zu beschwören. Er wusste ja, dass Gottes Boten überall auf Erden wandelten. Und auch, dass Gott die Seelen aller in seiner großen Gnade zu sich nahm, sofern sie sich nicht gegen ihn versündigt hatten. Doch der Spruch, den er im Nachlass des alten Priors gefunden hatte, konnte unmöglich ein Zauber sein, der Gott missfiel. Unmöglich. Nicht, wenn ihn ein päpstlicher Inquisitor so sorgfältig verwahrt hatte.

Als die Dämmerung hereinbrach und die Vesper endete, kehrte Donatus zurück in die Zelle des Kranken, bei dem er den Morgen verbracht hatte. Am Hals des Mannes hatte sich eine Beule gebildet und war zerfallen. Blutiger Eiter rann über die fiebrig heiße Haut. In der Hitze stank es unerträglich. Donatus nahm ein Tuch, tunkte es in Wasser, und begann, den Ausfluss abzutupfen. Der Kranke stöhnte leise. Zu schwach, um noch zu schreien. Zur anderen Seite der Pritsche saß Bruder Sebastianus und betrachtete sein Tun.

„Donatus“, sagte sein Mentor nach einer Weile in einem seltsam müden Ton. Sein Blick folgte unverwandt dem Tuch, das über die ausgefransten Ränder der Pestbeule fuhr. Die Haut hing blutig und schlaff in Fetzen. „Du bist uns wahrhaftig von Gott gegeben. Du bist keusch, gehorsam und seit ich dich kenne, hast du niemals nach Besitz getrachtet.“

Überrascht vom zweiten Lob, das er an diesem Tag bekam, unterbrach Donatus seine Arbeit. Der Kranke beruhigte sich ein wenig.

„Das entspricht den Prinzipien des Ordens.“

Er versuchte, sich auch diese Auszeichnung nicht zu Kopf steigen zu lassen. Et ne nos inducas in tentationem : Und führe uns nicht in Versuchung. Dem Hochmut, der ersten und schwersten aller Sünden, durfte er nicht erliegen. Seine Finger griffen unwillkürlich nach dem Beutel, in dem das Papier Hoogstratens ruhte wie ein geheimer Schatz. Im Halbdunkel der Zelle schien es ihm bedeutsamer denn je.

„Auch in unserem Orden gibt es schwere Sünder.“ Bruder Sebastianus schüttelte betrübt den Kopf. „Ich habe selbst oft mit den Anfechtungen des Teufels zu kämpfen.“

„So wie der heilige Antonius in der Einsamkeit“, relativierte Donatus die Selbstbeschuldigung und gestikulierte in Richtung der Vitas Patrum , die aufgeschlagen auf einem Tischchen lagen. Gerade dort, wo Bruder Valentinus sie liegengelassen hatte.

Bruder Sebastianus blieb in seiner trüben Stimmung. Geistesabwesend ließ er die Finger über die aufgeschlagenen Seiten gleiten. Das Papier war fleckig. Vielleicht hatte der Kranke es berührt.

„Dir sind solche Kämpfe unbekannt“, beharrte er. „Ich habe dich noch nie ermahnen müssen. Kennst du sie denn gar nicht, die Lust des Fleisches?“

Hektisch überlegte Donatus, was er sagen sollte. Die Antwort sollte selbstverständlich sein und doch schmeckte sie schal auf seiner Zunge.

Als sein Lehrer bemerkte, dass er sich zu weit vorgewagt hatte, winkte er entschuldigend ab. Das Lächeln, mit dem er die Geste begleitete, enthielt einen traurigen Zug und seine Wangen zierte eine sanfte Röte wie von einem leichten Fieber. Der beißende Gestank der Zelle ließ ihn husten.

„Darauf musst du mir keine Antwort geben“, beschwichtigte er. „Ich habe keinen Grund, an dir zu zweifeln.“ Müde stützte er den Kopf auf die Hände und schloss einen Moment lang fest die Augen. „Die viele Sonne macht mir Kopfschmerzen. Vielleicht ist es besser, wenn ich mich ein bisschen ausruhe. Wenn du willst, kannst du mich morgen beim Predigen begleiten. Gegen die lutherische Ketzerei. Dieses Ungeziefer steckt in allen Ritzen.“

Einen Augenblick betrachteten sie gemeinsam den Kranken, dessen Brust sich unter den Laken mühsam rasselnd in die Höhe schob, um gleich darauf wieder kraftlos in sich zusammenzufallen. Noch immer troff Eiter aus der aufgeplatzten Beule. Nach einer Weile zog sich Bruder Sebastianus in seine Zelle zurück. Auf der Schwelle wankte er und musste sich am Türrahmen abstützen. Donatus sah ihm schweigend nach.

Früh am nächsten Morgen fehlte Bruder Sebastianus sowohl bei der Vigil als auch bei den Laudes und Donatus musste nicht auf Nachricht warten, um zu wissen, dass ihn die Pest auf sein Sterbebett geworfen hatte. Die schlechte, faulige Sommerluft trug den schwarzen Tod in alle Häuser. Sebastianus‘ Abschied in der Nacht war ein endgültiger gewesen. Bald würde sein irdischer Leib verfallen.

Gerne hätte Donatus am Bett seines geliebten Lehrers ausgeharrt, doch der neue Prior wies ihn an, mit Bruder Valentinus durch die umliegenden Dörfer zu ziehen und den Menschen dort das Wort und die Hilfe Gottes zu verkünden. Nur Reue und Buße konnten sie jetzt noch retten.

Gegen Mittag verließ er mit dem alten Mönch die Stadt. Draußen wartete seine Engelsfrau. Die Hitze ließ ihre Gestalt flimmern wie eine Fata Morgana. Wohin Donatus ging, sie folgte ihm. Auch die Seuche ging unsichtbar mit. Jeden Abend bat Donatus seinen Mentor in der Stille um Vergebung, dass er nicht bei ihm war, und betete für sein Seelenheil. Einmal bat er seine Immaculata, ihm zu helfen, doch sie lächelte nur stumm, geheimnisvoll.

Acht Tage später kehrten die Mönche in die Stadt zurück. Der Mann, in dessen Zelle Donatus so lange gewacht hatte, war gestorben. Sein Leichnam lag nun in einer Sammelgrube. Bruder Sebastianus aber hatte überlebt. Vom Prior selbst hörte Donatus, dass er nach Altötting pilgerte, um Buße zu tun und den gnadenreichen Schutz der Heiligen Jungfrau zu erflehen. Vom eigentlichen Anlass dieser Buße erfuhr Donatus nichts.

Köln, 1532

Obwohl der Weg nach Altötting kein weiter war, wenn man die Ausdehnung des Reiches im Ganzen betrachtete, vergingen fast zwei Jahre, bis ein fahrender Dominikaner eines Tages verkündete, dass Bruder Sebastianus sich in einem Dorf nahe der Stadt aufhielt und in wenigen Tagen wieder im Kloster eintreffen würde. Donatus hörte diese Neuigkeit mit Freuden. Unter der Anleitung von Bruder Valentinus langweilte er sich, denn der strenge, alte Mann hielt sich nicht gern mit müßigen Gesprächen auf. Deshalb erbat er sich für den Morgen, an dem Bruder Sebastianus zurückerwartet wurde, gleich nach den Laudes für einige Stunden Ausgang, um am Stadttor auf ihn zu warten.

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