Читать книгу: «Die Großmeister des Mordes: Alfred Bekker präsentiert 12 Strand Krimis», страница 18

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»Du …«

Jack Corrington hörte sich Nic Orlandos dröhnenden Wutausbruch nicht an. Er hängte eiskalt ein, aß im nächsten Fastfood-Laden eine Kleinigkeit und spülte die Herz-Tablette mit grünem Tee hinunter.

Als er eine Stunde später ins Motel zurückkehrte, erlebte er eine höchst unerfreuliche Überraschung. Er wurde erwartet. Aber nicht nur von Thandie Scott, sondern auch von Craig Travis, Eddie Gallo, Chris Keeslar und Jeff Fahey. Es war kaum noch Platz im Zimmer. Die vielen Anwesenden liefen Gefahr, sich gegenseitig auf die Zehen zu treten. Jack Corringtons Hand zuckte zum Revolver. Doch ehe er ihn auf die unerwünschten »Gäste« richten konnte, hackte ihm Chris Keeslar das Schießeisen mit der Handkante blitzschnell aus den Fingern.

Corrington schrie auf. Die Waffe polterte auf den Boden. Corrington hielt sich das schmerzende Handgelenk. Er befürchtete, dass es gebrochen war.

»Jack«, schluchzte Thandie.

»Schnauze!«, herrschte Travis sie an.

»Es tut mir leid, Jack«, jammerte Thandie trotzdem. Ihre Lippen zuckten.

Travis grinste schadenfroh. »Sie hat dich verpfiffen.«

»Das ist nicht wahr!«, rief Thandie.

»Weiber«, sagte Travis verächtlich. »Man kann sich einfach nicht auf sie verlassen. Sie hat Nic angerufen.«

Thandie sah Corrington mit tränenglänzenden Augen an. »Ich habe Nic gebeten, dich am Leben zu lassen. Ehrlich. Nur deshalb habe ich ihn angerufen. Er sagte, wenn ich dich dazu bringe, ihm das Gas zu geben, würde er Gnade vor Recht ergehen lassen. Dann würde dir nichts geschehen.«

»Geh nach Hause, Thandie!«, verlangte Travis scharf.

Sie rührte sich nicht von der Stelle.

»Hau ab!«, brüllte Travis sie an.

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. Und dann setzte sie sich mit hölzernen Schritten in Bewegung. Sie hatte nicht den Mut, nicht zu gehorchen.

Beim Hinausgehen warf sie Corrington einen Blick zu, als müsse sie sich von ihm für immer verabschieden. Und ihre Augen schienen fragen zu wollen: »Warum hast du nicht auf mich gehört, Jack? Warum warst du bloß so stur?«

Sobald sie den Raum verlassen und sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sagte Craig Travis: »So. Und nun zu dir, Scheißkerl. Es kommen verdammt harte Zeiten auf dich zu, wenn du das Maul nicht aufmachst, das kann ich dir flüstern. Wir haben alle eine Stinkwut auf dich. Aus den verschiedensten Gründen. Eddie, weil du ihn ausgeknockt hast. Ich, weil du deine dreckigen Griffel nicht von Thandie lassen konntest. Und Chris und Jeff haben dich sowieso noch nie besonders leiden können.«

Corrington hatte Angst. Natürlich hatte er Angst. Jeder hätte sich in dieser Situation halb tot gefürchtet. Craig Travis, Eddie Gallo, Chris Keeslar und Jeff Fahey waren ein Todes-Quartett der übelsten Sorte.

Wer sich in ihrer Gewalt befand, stand mit einem Bein im Grab und mit dem andern ganz knapp daneben. Jack Corringtons Blutdruck stieg.

Sein Puls raste. Er schwitzte. Durch seinen heißen Kopf wirbelten tausend Gedanken. Solange sie nicht wissen, wo ich das Grodin versteckt habe, müssen sie mich am Leben lassen, dachte er aufgewühlt. Aber sie werden mir sehr weh tun, damit ich es ihnen verrate.

»Dann wollen wir es mal in Güte versuchen«, sagte Travis in nettem Plauderton. »Wo ist das Gas, Jack?«

»Es ist nicht hier«, antwortete Corrington. Er bemühte sich um einen festen, furchtlosen Klang seiner Stimme.

Travis sah ihn missmutig an. Er runzelte die Stirn. »Ich habe nicht gefragt, wo es nicht ist, Jack-Baby. Ich will wissen, wo es ist.«

»Ich habe es versteckt«, sagte Corrington. Seine Kniescheiben vibrierten.

»Wo?«, fragte Travis.

»In einem Schließfach.«

»Wo?«

Corrington antwortete nicht.

»Wo?«, wiederholte Travis, als wäre er noch eine Weile sehr geduldig. »Wo befindet sich dieses Schließfach, Jack? Wenn du es uns nicht freiwillig sagst, sind wir gezwungen, Gewalt anzuwenden.«

»Darf ich ihm als Erster die Fresse polieren, Craig?«, fragte Eddie Gallo fiebrig. Er schien es kaum erwarten zu können, ordentlich zuzulangen. »Ich bin ihm noch was schuldig.« Grimmig hob er seine Fäuste.

Travis trat einen Schritt näher. Er starrte Corrington aus nächster Nähe in die Augen. »Ich frage dich zum letzten Mal, Jack«, sagte er ganz sanft. »Wo ist das Grodin? In welchem Schließfach hast du es versteckt?«

Corrington schwieg.

Travis wartete. Als von Corrington aber nichts kam, nickte er und trat zurück. »Okay. Wenn du es nicht anders haben willst. Wenn du auf die harte Tour stehst. Ich hätte dich ehrlich gesagt nicht für dermaßen pervers gehalten. Aber bitte. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.« Er sah Gallo an und machte eine einladende Handbewegung. »Der Masochist gehört dir, Eddie.«

Gallo baute sich vor Corrington auf.

»Augenblick«, stieß Jack Corrington hastig hervor.

Sein Herz raste. So hochtourig durfte es nicht lange laufen. Das verkraftete es nicht - nicht mehr. Früher war das kein Problem gewesen, aber seit kurzem machte es ihm immer Besorgnis erregender zu schaffen.

»Was denn?«, fragte Travis. Er legte Gallo die Hand auf die Schulter, damit er noch nicht zuschlug.

»Das Gas befindet sich in einem Aluminiumkoffer«, sagte Corrington. »Zusammen mit einem Sprengsatz. Wenn ich euch den Koffer gebe und euch verrate, wie man ihn öffnet, ohne dass er euch um die Ohren fliegt – lasst ihr mich dann laufen?«

Travis senkte den Kopf und dachte mit gefurchter Stirn nach. Knisternde Spannung füllte den Raum. Jack Corringtons Herz rumpelte heftig.

Jetzt hob Travis den Kopf wieder. Er sah Corrington an und meinte: »Ich denke, das kann ich verantworten.«

Gallo drehte sich enttäuscht zu ihm um. »Hör mal, Craig, der will die Sache doch bloß verschleppen. Er hat bestimmt nicht wirklich die Absicht, das Grodin rauszurücken. Ich kenne ihn. Er ist ein gottverdammter, verschlagener, hinterhältiger Bastard. Du darfst ihm nicht trauen. Er hofft, auf dem Weg zum Schließfach die Flitze machen zu können.«

»Das wird ihm nicht gelingen«, sagte Craig Travis überzeugt. »Dafür werden wir sorgen.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür. »Vamos!«

Jeff Fahey wollte die Tür öffnen. Da passierte etwas, worauf die Gangster nicht vorbereitet waren. Jack Corringtons Herz war dem enormen Stress nicht länger gewachsen. Es platzte regelrecht. Corrington riss entsetzt die Augen auf, griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Brust und brach röchelnd zusammen. Keeslar beugte sich über ihn.

»Was ist mit ihm?«, wollte Travis nervös wissen. »Ist er tot?«

Keeslar blickte zu ihm hoch und nickte.

»Verfluchte Scheiße«, sagte Eddie Gallo. »Was machen wir jetzt?«

»Er hat dem Boss erzählt, dass er bei irgendjemandem ein Testament hinterlegt hat«, sagte Travis. »Den müssen wir finden. Sonst erleben wir demnächst einen Tanz auf dem Vulkan.«

Kapitel 10

John Smith meldete sich nicht mehr. Ich fragte mich, warum nicht? Hatte er mit dem Nervengas irgendwelche Probleme? Wieso setzte er mich nicht mit weiteren Anrufen unter Druck? Meinte er, was er bisher gesagt hatte, würde reichen?

Wir durchleuchteten Hermes Baker, den Sicherheitsmann, und statteten seiner todkranken Frau einen Besuch ab. Sie sah Mitleid erregend aus, war entsetzlich mager und brauchte Krücken zum Gehen.

Vor Mund und Nase hatte sie eine durchsichtige Sauerstoffmaske. Als wir ihr so schonend wie nur irgend möglich beibrachten, was geschehen war, brach sie in Tränen aus und konnte sich sehr lange nicht beruhigen.

Zu groß war der Schmerz über den unverhofften Verlust ihres Mannes. Irgendwann konnte sie dann wenigstens ein paar Fragen beantworten, und es kam dabei heraus, dass Hermes Baker in letzter Zeit geradezu krankhaft optimistisch gewesen war. Als hätte er ganz genau gewusst, dass er demnächst das große Los ziehen würde. Dass er einen Hauptgewinn in astronomischer Höhe schon so gut wie in der Tasche hatte.

Jemand schien ihm viel Geld in Aussicht gestellt zu haben. Wer, das wusste Ms Baker nicht. Und auch nicht, wofür. Ein reicher Gönner? Bestimmt nicht.

Eher jemand, der dringend Insider-Informationen benötigte. Tipps, wie man am schnellsten und problemlosesten an das von Brian Grodin entwickelte Nervengas kam. Er hatte – davon ging ich aus - die Informationen von Baker bekommen, und der Sicherheitsmann war dafür nicht mit Geld, sondern mit einer Kugel in den Kopf bezahlt worden.

Mit wem Hermes Baker in den vergangenen Wochen oder Monaten Kontakt gehabt hatte, entzog sich der Kenntnis seiner Frau. Darüber konnte sie uns nichts erzählen.

Ihr Blick ging mir unangenehm tief unter die Haut, als wir uns verabschiedeten. Sie schien genau zu spüren und zu wissen, dass das letzte Kapitel in ihrem Lebensbuch nur noch ganz wenige Seiten hatte.

Captain Duane Martinos Pressekonferenz, an der wir im Hintergrund – als stille Beobachter - teilgenommen hatten, war der reinste Eiertanz gewesen.

Der Leiter der Mordkommission hatte den unermüdlich bohrenden Journalisten nicht zu viel verraten wollen. Sie wollten sich aber auch nicht mit zu wenig Informationen zufrieden geben oder sich mit plattgedroschenen Phrasen und fadenscheinigen Allgemeinplätzen abspeisen lassen.

Der Captain gab gerade so viel Preis, wie er zu diesem Zeitpunkt verantworten konnte. Niemand erfuhr von ihm aber, was aus den »Grodin Labs« gestohlen worden war, denn damit hätte er in der Stadt eine Panik ungeahnten Ausmaßes ausgelöst, die es unbedingt zu vermeiden galt.

Die Lawine kam für uns – hinter den Kulissen - in dem Moment so richtig ins Rollen, als man in einem unscheinbaren Motel am Stadtrand einen Mann namens Jack Corrington tot auffand. Herzschlag. An und für sich war das keine Sensation.

Aber der Mann hatte dreieinhalb Jahre im Knast verbracht und war erst vor kurzem rausgekommen. Und er war einer der besten Einbrecher gewesen, die die Unterwelt seit langem hervorgebracht hatte.

Es hatte kaum die Runde gemacht, dass Corrington tot war, da meldete sich Claudio Argone bei uns. Der V-Mann wusste zu berichten, dass der Tote zu Lebzeiten für Nic Orlando gearbeitet hatte.

Angeblich nach seiner Entlassung gleich wieder. Weiter hatte Claudio Argone erfahren, dass Orlando aus irgendeinem Grund stinksauer auf Jack Corrington gewesen war. Dass Orlandos Männer Corrington eifrig und verbissen gesucht hatten. Und dass man sie vor jenem Motel am Stadtrand gesehen hatte, in dem Corrington tot aufgefunden worden war.

Hatte Corrington für Orlando das Grodin gestohlen? Mit wem? Wer war sein Komplize gewesen? Es waren zwei Täter in die »Grodin Labs« eingebrochen. Wer hatte die Sicherheitsleute erschossen? Corrington? Nach Claudio Argones Dafürhalten musste es der andere getan haben. Weil Jack Corrington nur in höchster Bedrängnis zur Waffe gegriffen hätte.

Hatte Orlando mich angerufen und für das Nervengas mit verstellter Stimme zwanzig Millionen Dollar verlangt? War Nic Orlando John Smith? Die losgetretene Lawine wurde rasch lauter. Ihr donnerndes Getöse nahm im Minutentakt zu, und so kam es, dass eine junge, sehr attraktive blonde Frau namens Thandie Scott – Besitzerin einer Dessous-Boutique namens »Sonata« - bei uns erschien und unter Tränen behauptete, sie hätte Jack Corrington umgebracht.

»Das kann nicht sein«, sagte ich.

»Doch«, widersprach sie verzweifelt. »Ich habe Jack auf dem Gewissen.«

»Sein Herz ist geborsten«, sagte Milo.

»Dazu wäre es nicht gekommen, wenn ich Nic Orlando nicht angerufen hätte«, jammerte Thandie Scott. »Erst durch mich erfuhr Nic, wo wir uns versteckt hatten. Ich wollte Jack helfen, habe Nic angefleht, ihm nichts anzutun, ihm zu verzeihen. Ich hätte wissen müssen, dass ich damit nichts erreiche, dass sich Nic nicht erweichen lässt. Er hat seine Männer zu mir ins Motel geschickt. Sie haben da auf Jack gewartet. Ich konnte ihn nicht warnen. Als er kam, haben sie mich nach Hause geschickt – und wenig später war er tot.«

Ich fragte nach den Namen der Männer. Sie nannte sie. Milo schrieb sie auf. Aber Thandie Scott hatte noch sehr viel mehr für uns.

In ihr brach ein Damm. Wir brauchten keine Fragen zu stellen. Sie wollte in unserem Büro alles loswerden, was sie wusste. Dass Jack Corrington und Eddie Gallo in Nic Orlandos Auftrag in die »Grodin Labs« eingebrochen waren. Dass Eddie Gallo in Nic Orlandos Auftrag die beiden Securitys erschossen hatte. Dass Jack Corrington daraufhin das Gas nicht abgeliefert, sondern selbst zu verkaufen versucht hatte …

Sie redete ununterbrochen. Wie ein Wasserfall. Milo machte sich laufend Notizen. Thandie Scott hatte nichts dagegen. Im Gegenteil.

Manchmal sah es so aus, als würde sie ihm diktieren, was er aufschreiben sollte. Es musste alles aus ihr raus. Aber nicht, damit sie sich selbst reinwusch. Nein. Sie wollte sich an Orlando und seinen Banditen rächen.

Als man Jack Corrington eingesperrt hatte, war sie Craig Travis' Geliebte geworden, doch sie war an dessen Seite keinen Tag glücklich gewesen.

Erst seit Corringtons Tod wusste sie – leider zu spät -, wie sehr sie ihn geliebt hatte, und dass er der einzige Mann gewesen wäre, mit dem sie hätte alt werden wollen.

Allmählich versiegte Thandie Scotts Informationsstrom. Sie hatte uns ihr Herz restlos ausgeschüttet und uns viele wertvolle Dinge verraten.

Wir wussten nur noch eines nicht: Wo Jack Corrington seine Beute versteckt hatte. Bedauerlicherweise wusste das auch Thandie Scott nicht.

Sie betrachtete ihre schmalen, zitternden Hände, die in ihrem Schoß lagen, und seufzte schwer. »Ich habe Jack angefleht, aufzugeben, Vernunft anzunehmen, Nic das für ihn unverkäufliche Gas zu überlassen. Doch das wollte er partout nicht. ›Du hast keinen einzigen Freund mehr da draußen, Jack‹, habe ich ihm ins Gewissen geredet. Doch er war anderer Meinung und nicht bereit, das Handtuch zu werfen. Als er das Motel verließ, wollte ich wissen, wohin er gehe. Er antwortete: ›Zu meinem Bruder.‹«

Ich horchte auf. »Jack Corrington hatte einen Bruder?«

»Eben nicht«, sagte Thandie Scott. »Das weiß ich ganz genau.«

»Wen kann er gemeint haben?«, fragte mein Partner neugierig.

Thandie Scott zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur mit absoluter Sicherheit, dass Jack Corrington keinen leiblichen Bruder hatte. Ich war mit ihm lange zusammen, kenne seine Vergangenheit – von Kindheit an. Er hatte keine Geheimnisse vor mir.«

»Vielleicht hatte er einen Jugendfreund, der ihm wie ein Bruder war«, sagte ich.

Thandie Scott dachte nach. Dann nickte sie. »Ja. So jemanden hat es gegeben.«

»Wissen Sie seinen Namen?«, fragte ich.

Den wusste sie nicht. Oder nicht mehr.

*

Eric Levant hatte Ordnung gemacht. Aber nur ein bisschen. Zu einer gründlichen Aufräumaktion in seinem Büro-Apartment hatte er keine Lust.

Seit Jack Corrington sich verabschiedet hatte, hatte Levant zwar großen Durst gehabt, aber nichts getrunken. Das war eine Leistung, die man nicht unterschätzen durfte.

Normalerweise hätte er seinen »Brand« bereits mit einer oder zwei Flaschen Bier gelöscht. Die Hitze in seiner Gurgel war nämlich enorm.

Wie vereinbart, hatte Jack jede Stunde kurz angerufen. Nun wäre sein nächster Anruf fällig gewesen, doch das Telefon blieb stumm, und das behagte dem Anwalt ganz und gar nicht. Er begann sich Sorgen um seinen Blutsbruder zu machen, blickte auf seine Armbanduhr und murmelte: »Zehn Minuten. Er hätte schon vor zehn Minuten anrufen sollen. Junge, was ist mit dir? Komm schon. Lass es klingeln. Lass mich hören, dass es dir gut geht, dass alles in Ordnung ist.«

Er ging in seinem Büro nervös auf und ab. Wie viel Zeit sollte er verstreichen lassen? Fünfzehn Minuten? Mehr? Nein, mehr auf keinen Fall. Jack ist ein pünktlicher Mensch, dachte Eric Levant. Wenn er eine Viertelstunde überzieht, tut er dies bestimmt nicht aus freien Stücken. Dann ist etwas passiert. Dann hindert ihn jemand daran, anzurufen. Dann befindet er sich in jemandes Gewalt.

Elf Minuten …

Bist du Nic Orlando in die Hände gefallen?, dachte Levant. Oder hat sich jemand die fünfzig Riesen verdient, die Orlando auf deinen Kopf ausgesetzt hat?

Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Jetzt ging es einfach nicht mehr ohne Bier. Er griff nach einer Flasche, öffnete sie und trank. Ah, tat das gut. Diese prickelnde Kälte in der heißen Kehle. Jetzt war die Spannung gleich leichter zu ertragen.

Zwölf Minuten …

Eric Levant kehrte in sein Büro zurück. Er setzte sich jedoch nicht. Sitzen konnte er jetzt nicht. Statt dessen ging er vor seinem Schreibtisch rastlos auf und ab, trank immer wieder einen Schluck Bier und starrte das Telefon an, als wollte er es hypnotisieren.

Dreizehn Minuten …

Die Bierflasche war leer. War sie überhaupt richtig voll gewesen, als er sie aus dem Kühlschrank genommen hatte? Er bezweifelte es. Er hatte sie doch nur einige wenige Male an die Lippen gesetzt. Sie konnte unmöglich korrekt abgefüllt gewesen sein.

Vierzehn Minuten …

Eric Levant spekulierte immer ernsthafter damit, sich noch eine Flasche zu holen. Schließlich war die erste nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen, und er war nach wie vor sehr durstig.

Vierzehn Minuten, dachte er. Jetzt glaube ich schon nicht mehr, dass Jack sich noch melden wird. Liebe Güte, ich habe bereits vierzehn Minuten vertrödelt. Ich muss mir Jacks Testament ansehen.

Fünfzehn Minuten …

Der Anwalt wartete nicht länger. Sein Blick löste sich vom Telefon und schwenkte zum Panzerschrank hinüber. Das Ding war groß, schwer und alt.

Eric Levant öffnete ihn. Vermutlich war das der letzte Dienst, den er seinem Freund erweisen konnte. Was immer in dem Testament stand – er würde Jacks letzten Willen erfüllen.

*

»Was hast du da?«, fragte Craig Travis.

»Jacks Geldbörse«, antwortete Eddie Gallo.

»Du hast sie an dich genommen?«

Gallo griente. »Er braucht sie ja nicht mehr.«

Sie befanden sich in Nic Orlandos Penthouse und hielten Kriegsrat. Der Gangsterboss stand mächtig unter Strom. Er sah seine Felle davonschwimmen.

Immerhin hatte Jack Corrington sein Testament gemacht und gesagt, er müsse sich stündlich melden, sonst käme ein Stein ins Rollen, den niemand aufhalten könne.

Wahrheit? Bluff? Wenn es tatsächlich so ein Testament gab – bei wem hatte Corrington es hinterlegt? Wem hatte er vertraut? Orlando stellte diese Frage in den Raum, doch seine Männer vermochten sie nicht zu beantworten.

Travis hatte berichtet, dass sich das Nervengas in einem Aluminiumkoffer befand. Zusammen mit einem Sprengsatz. Das machte Orlando große Sorgen.

Wer wird ihn zünden?, überlegte der Gangsterboss. Wer, Jack? Eine Person deines Vertrauens? Weiß sie, dass sie damit einen kleinen Weltuntergang auslöst? Hast du ihr das gesagt? Wie lange wird sie warten? Wann wird sie auf den Knopf drücken? Hat sie es bereits getan? Wann sollen wir die Stadt verlassen? Ist es dafür bereits zu spät?

Eddie Gallo fingerte sich durch Corringtons Geldbörse. Er nahm das gesamte Bargeld heraus, und niemand hatte etwas dagegen, dass er es einsteckte.

Er durchstöberte sämtliche Fächer. Als er mehrere Visitenkarten zu Tage beförderte und nebeneinander auf den Tisch legte, stutzte Orlando.

»Eric Levant«, las er aufgewühlt. »Rechtsanwalt. Und Jacks dickster Sandkisten-Freund, soweit ich mich erinnere. Ich schneide jedem von euch ein Jahr lang die Zehennägel, wenn Jack Corrington sein Testament nicht bei dem Burschen hinterlegt hat.« Er sprang auf. »Los, Freunde. Holen wir uns das Grodin, bevor Levant es hochgehen lässt.«

*

Eric Levant öffnete das cremefarbene Kuvert. Ein Schließfachschlüssel rutschte heraus und klimperte auf den Schreibtisch.

Levant beachtete ihn vorerst kaum. Das Schriftstück, das sich im Umschlag befand, interessierte ihn viel mehr. Er nahm es heraus und entfaltete es.

Corrington hatte mit der Hand geschrieben:

Eric, mein Blutsbruder!

Wenn du diese Zeilen liest, befinde ich mich bereits in den ewigen Jagdgründen. Solltest du weiterhin so viel saufen, werden wir uns bald wiedersehen. Ich werde auf jeden Fall jetzt schon sicherheitshalber einen Platz für dich frei halten, alter Mistkerl.

Bedauerlicherweise ist bei meinem letzten Coup einiges schiefgelaufen, und nun bin ich tot und habe keine Verwendung mehr für das, was ich geklaut habe. Da ich aber auf keinen Fall möchte, dass meine Beute, das Kampfgas Grodin, Nic Orlando - der direkt oder indirekt schuld an meinem plötzlichen Dahinscheiden ist - in die Hände fällt, möchte ich, dass du folgendes tust: Du begibst dich zur Grand Central Station und öffnest das Schließfach, zu dem du den Schlüssel hast.

Im Fach befindet sich ein Aluminiumkoffer. Sobald du die Zahlenkombination der Schlösser veränderst, setzt du einen Zeitzünder in Gang.

Das tust du. Mehr nicht. Dann schließt du das Fach wieder und verlässt umgehend die Stadt. Alles andere erledigt sich dann von selbst.

New York wird untergehen. Aber das braucht unser Gewissen nicht zu belasten, denn diese verfluchte Stadt hat nichts Besseres verdient.

Wir waren hier, in dieser Hölle auf Erden, von Anfang an nur schäbige Außenseiter. Niemand hat uns jemals eine echte Chance gegeben.

Mich hat man geächtet, gedemütigt, verhaftet, vor Gericht gezerrt, beschämt, eingesperrt … Und auf dich, den alkoholkranken Anwalt, schauen alle verächtlich und angewidert hinunter, als wärst du der allerletzte Dreck.

Diese hochnäsige, ignorante Brut meidet dich wie die Pest, will mit dir nichts zu tun haben und lässt dich kaum mal was verdienen.

Man fasst dich Unwürdigen nicht einmal mit der Kneifzange an. Du bist in den Augen aller ein jämmerlicher Versager. Ein Schandfleck auf der Weste der ach so sauberen Gesellschaft, den man ausradieren sollte. Es wird Zeit, dass New York, der größte Misthaufen der Welt, der nie etwas für uns übrig hatte, einen Denkzettel bekommt.

Also tu es!

Solltest du noch Fragen haben - du weißt, wo ich jetzt bin.

Mach's gut.

Dein Blutsbruder Jack.

»Solltest du noch Fragen haben …«, murmelte Levant. »Mann, was bist – äh - warst du für ein Zyniker.«

Er legte das Blatt auf den Schreibtisch, nahm den Schließfachschlüssel in die Hand, hob ihn hoch und drehte ihn vor seinen Augen hin und her. Seine Finger zitterten. Aber nicht nur deshalb, weil er alkoholkrank war.

Was für ein Testament, Jack, dachte er. So eines hat es mit Sicherheit noch nie gegeben. Nirgendwo auf der Welt. Es ist einzigartig. Du hast mit allem, was du über diese gottverfluchte Stadt - und die Menschen, die in ihr leben - geschrieben hast, Recht. Sie ist zum Kotzen. Sie mag uns nicht. Mochte uns noch nie. Wir waren immer ungeliebte Außenseiter, lästige Läuse in einem edlen Pelz. Auch ich habe mir schon oft gedacht, dass sie mal einen gehörigen Denkzettel verdient hätte, um ein für allemal klarzustellen, dass man mit uns nicht so umspringen darf.

Seine Hand schloss sich um den Schlüssel.

Um den Schlüssel der Vergeltung …

*

Thandie Scott erhob sich mit hängenden Schultern. Sie gab zuerst Milo und dann mir die Hand – eine sehr kalte, sehr schlaffe Hand - und schickte sich sodann an, unser Büro zu verlassen. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich zu uns um. »Sollte mir der Name dieses Jugendfreundes einfallen, rufe ich Sie an«, sagte sie.

Ich nickte – mit wenig Hoffnung. »Damit wäre uns sehr geholfen.«

Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Thandie hatte uns sehr viel erzählt. Das Tüpfelchen auf dem i, das Sahnehäubchen, wäre der Name des Jugendfreundes gewesen, der Jack Corrington wie ein Bruder gewesen war, doch mit diesem hatte sie uns bedauerlicherweise nicht dienen können.

Ich sah meinen Partner an und atmete laut aus. Milo wollte etwas sagen, doch er kam nicht dazu, denn die Tür, die sich soeben hinter Thandie Scott geschlossen hatte, wurde geöffnet, und die blonde Frau stand wieder im Rahmen.

»Eric«, sagte sie aufgeregt. Ihre Augen funkelten. »Ich war schon fast beim Lift, da fiel mir urplötzlich der Name ein. Der Mann heißt Eric.«

»Eric – und wie weiter?«, fragte ich. Auf einmal hatte ich sehr viel mehr Hoffnung.

Thandie kniff die Augen zusammen und kehrte in ihrem Gedächtnis das Unterste nach oben. »Lay …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie versuchte es noch mal. »Lon …« Sie schüttelte abermals den Kopf. »Auch nicht.« Sie schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Der Name fing mit L an. Da bin ich mir ganz sicher. Eric – Eric - Eric Le-Le-Levant. Ja. Levant. Das ist der Name. Eric Levant. Jack hat ihn mal seinen Blutsbruder genannt.«

Mein Partner ließ sogleich die Finger über sein Keyboard tanzen, und wenige Sekunden später hatten wir, was wir brauchten. Beruf, Anschrift, Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Homepage. Sogar mit einem Foto konnte das Internet aufwarten. Milo druckte alles aus, und danach hatten wir es sehr eilig, das Field Office zu verlassen. Wir nahmen Thandie Scott im Sportwagen mit und setzten sie unterwegs dort ab, wo sie es wollte.

Sie verschwand im dichten Menschenstrom. Eine traurige, vom Schicksal erbarmungslos geschlagene Frau, die nun gezwungen war, ihr Leben neu zu ordnen. Als wir das Haus erreichten, in dem Eric Levant, Jack Corringtons Blutsbruder, wohnte und arbeitete, zog Milo mit einem Mal die Luft scharf ein – und ich sah im selben Moment, warum.

Etwa hundert Meter von dem Haus entfernt stand eine weiße Stretchlimousine, aus der sich soeben Nic Orlando, Craig Travis, Chris Keeslar und Jeff Fahey falteten.

Die Mienen der Gangster verhießen nichts Gutes. Ich stoppte meinen Wagen. Orlando und seine Männer setzten sich grimmig in Bewegung.

Doch nach wenigen Schritten mussten sie umdisponieren, denn da stürmte Eric Levant plötzlich aus dem Haus. Das Gesicht gelblich wie alter Käse aus den Niederlanden, der Blick finster und entschlossen.

Er lief über die Straße, ohne sich um den Verkehr zu kümmern, stieg in eine schäbige Rostlaube, startete den Motor und fuhr sofort los.

Milo und ich hatten die Sportwagentüren bereits geöffnet. Jetzt klappten wir sie wieder zu, und ich ließ den Motor an. Orlando und seine ehrlosen Spießgesellen, kehrten um und verfrachteten sich in das weiße Schlachtschiff. Sie folgten dem Anwalt, und wir folgten ihnen.

Eric Levants Ziel war die Grand Central Station.

»O mein Gott!«, stöhnte mein Partner, Böses ahnend.

Levant ließ seinen alten Wagen einfach in der Abschleppzone stehen und eilte in das Gebäude. Wusste er, dass er Orlando und seine Männer – und uns - auf den Fersen hatte? Offenbar nicht. Er stürzte sich ins Menschengetümmel und war gleich darauf nicht mehr zu sehen.

Als mein Partner und ich aus dem Sportwagen sprangen, liefen Nic Orlando, Craig Travis, Jeff Fahey und Chris Keeslar bereits hastig hinter dem Anwalt her.

Sie waren ziemlich rücksichtslos, stießen jeden, der ihnen im Weg war, brutal zur Seite. Das brachte ihnen eine Menge Proteste ein.

Doch sie kümmerten sich nicht darum. Ihnen war nur eines wichtig: Sie wollten Eric Levant so rasch wie möglich zu fassen kriegen.

Wir folgten den Gangstern. Ich öffnete mein Jackett, um schneller an die SIG Sauer zu kommen, falls es nötig sein sollte, und ich war ziemlich sicher, dass es in Kürze nötig sein würde.

*

Eric Levant sah weder nach links noch nach rechts. Er fasste in seine Hosentasche und holte den Schließfachschlüssel heraus. Eines verstehe ich nicht, Jack, dachte er, während er einer Gruppe Jugendlicher auswich, die ihm – »We Shall Overcome« singend - in die Quere kam. Du willst, dass ich die Bombe hochgehen lasse und schickst mich aus der Stadt, damit mir nichts passiert. Aber was ist mit Thandie Scott? Hast du auch an sie gedacht? Ich glaube nicht. Obwohl du sie geliebt hast, soll sie sterben. Ist das wirklich dein Wille? Möchtest du sie zu dir holen, damit sie nicht zu Craig Travis zurückgehen kann? Er sah einen farbigen Cop. Groß, breitschultrig, bärenstark. Der Uniformierte blickte in seine Richtung. Levants Herzschlag beschleunigte. Sieht er mir an, was ich vor habe?, fragte er sich. Steht es mir ins Gesicht geschrieben, dass ich die Absicht habe, New York auszurotten? Der Anwalt schlug die Augen nieder. Der Cop setzte sich in Bewegung. Verfluchte Scheiße, dachte Levant. Was will er von mir? Er kann unmöglich wissen, dass ich … Wenn er mich kassiert, kann ich nicht tun, was du von mir erwartest, Jack. Er schleppt mich vielleicht aufs Revier und stellt mir viele Fragen. An und für sich wäre das nicht schlimm. Ich kann schweigen wie ein Grab. Aber wenn ich längere Zeit nichts zu trinken bekomme, wird mein Widerstand sehr schnell brüchig. Levant schwenkte nach links ab. Das musste er sowieso, um zu den Schließfächern zu gelangen. Er sah aus den Augenwinkeln, dass der Cop von einer hübschen jungen Frau angesprochen wurde, stehen blieb und freundlich lächelnd Auskunft gab.

Der will ja gar nichts von dir, dachte er erleichtert. Aber ist es ein Wunder, wenn man in einer solchen Situation anfängt, überall Gespenster zu sehen?

Er holte den Schließfachschlüssel heraus.

Du hast mir eine große Last aufgebürdet, Jack, ging es ihm durch den Kopf. Bist du dir dessen bewusst? Ich weiß nicht, ob ich sie werde tragen können. Wie soll ich das, was du von mir verlangst, vor meinem Gewissen verantworten? Es stimmt zwar, was in deinem Testament steht. Aber ich hasse New York nicht nur. Ich liebe es auch – manchmal. Mich verbindet mit dieser Stadt eine verrückte Hassliebe, und damit stehe ich bestimmt nicht allein da. Obwohl ich sie bisweilen überhaupt nicht mag, könnte ich mir doch nicht vorstellen, in irgendeiner anderen amerikanischen Stadt zu leben. Jack. Jack. Soll ich wirklich so viel Leben vernichten? Auch unschuldiges? Darfst du das von mir verlangen, Blutsbruder? Er erreichte die Schließfächer und blieb stehen. Wo war das Fach, zu dem der Schlüssel passte? Während er es suchte, leckte er sich die trockenen Lippen.

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
1312 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783956179587
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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