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1. EIN ABENTEUER NAMENS „EUROPA“

Als Zeus in Gestalt eines Stiers Prinzessin Europa entführt hatte, sandte ihr Vater Agenor, der König von Tyrus, seine Söhne auf die Suche nach seiner verlorenen Tochter. Einer von ihnen, Kadmos, segelte nach Rhodos, landete in Thrakien und machte sich auf, die Länder zu erkunden, die später den Namen seiner unglücklichen Schwester annehmen sollten. In Delphi fragte er das Orakel nach dem Aufenthaltsort seiner Schwester. In diesem speziellen Punkt antwortete Pythia, wie gewohnt, ausweichend – aber sie gab Kadmos folgenden Rat: „Du wirst sie nicht finden. Verschaffe dir lieber eine Kuh, folge ihr und treibe sie vorwärts, gib ihr keine Ruhe; an der Stelle, wo sie vor Erschöpfung niedersinkt, baue eine Stadt.“ So wurde, dieser Erzählung zufolge, Theben erbaut (und so – wie wir, im Nachhinein klüger, beobachten wollen – wurde eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, die Euripides und Sophokles als das Garn diente, aus dem sie die europäische Idee des Rechts spannen, die Ödipus befähigte, das zu praktizieren, was der gemeinsame Rahmen für Charakter, Qualen und Lebensdramen der Europäer werden sollte). „Europa suchen“, kommentiert Denis de Rougemont die Lektion Kadmos’, „heißt es schaffen.“ „Europa besteht durch seine Suche nach dem Unendlichen, und eben das nenne ich Abenteuer.“1

Abenteuer? Seiner Etymologie nach bedeutete das Wort ursprünglich Begebenheit, gewagtes Beginnen mit ungewissem Ausgang, Schicksal – etwas, was ohne Plan geschieht, Chance, Zufall, Glücksfall. Es bezeichnete ein Ereignis, das mit Gefahr oder drohendem Verlust verbunden war; Risiko, Wagnis, riskante Unternehmung oder glücklose Verrichtung. Später, unseren modernen Zeiten näher, erhielt „Abenteuer“ den Sinn: seine Chancen auf die Probe stellen, Wagnis oder Experiment – ein neuartiges oder aufregendes Unternehmen, das bislang unerprobt war. Gleichzeitig entstand eine Ableitung: der Abenteurer – ein höchst ambivalentes Nomen, das in einem Atemzug von blindem Schicksal und Schläue, von Geschicklichkeit und Vorsicht, von Ziellosigkeit und Entschlossenheit raunt. Wir können annehmen, dass die Bedeutungsveränderungen dem Reifeprozess des europäischen Geistes folgten: dass dieser sich mit seinem eigenen „Wesen“ abfand.

Die Sage von Kadmos’ Reisen war übrigens nicht die einzige antike Geschichte, die eine solche Botschaft überbrachte; weit gefehlt. In einer anderen Geschichte setzten die Phönizier Segel, um den mythischen Kontinent zu finden, und ergriffen Besitz von der geographischen Realität, die einmal Europa werden sollte. Nach einer weiteren Geschichte sandte Noah nach der Sintflut, als er die Welt unter seine drei Söhne aufteilte, Jafet (nebenbei bemerkt: im Hebräischen „Schönheit“) nach Europa, um dort Gottes Versprechen/Gebot „Seid fruchtbar und vermehret euch; bevölkert die Erde und vermehrt euch auf ihr“ (Genesis 9,7) zu befolgen. Er stattete ihn mit Waffen aus und ermutigte ihn mit dem Versprechen unendlicher Expansion: „Raum schaffe Gott für Jafet“ (Genesis 9,27), „dilatatio“ nach der Vulgata und den Kirchenvätern. Die Kommentatoren der biblischen Botschaft weisen darauf hin, dass Noah bei der Instruktion seiner Söhne einzig auf Jafets Tugend und Fleiß gebaut haben müsse, da er ihn mit keinem anderen Werkzeug des Erfolgs ausstattete.

Alle diese Geschichten durchzieht ein gemeinsamer Faden: Europa ist nicht etwas, das man entdeckt; Europa ist etwas, das gemacht, geschaffen, gebaut werden muss. Und es bedarf einer Menge an Einfallsreichtum, Zielstrebigkeit und harter Arbeit, um diese Mission zu erfüllen. Vielleicht eine Arbeit, die niemals endet, eine Herausforderung, der man sich immer erst noch ganz stellen muss, eine Erwartung, deren Erfüllung immer noch aussteht.

Die Erzählungen unterscheiden sich voneinander, aber in allen war Europa ausnahmslos ein Ort des Abenteuers. Abenteuer wie die endlosen Reisen, die unternommen wurden, um es zu entdecken, zu erfinden oder zu beschwören, Reisen wie diejenigen, welche das Leben des Odysseus ausfüllten. Ihm widerstrebte es, zu der langweiligen Sicherheit seines heimischen Ithaka zurückzukehren, da ihn unbekannte Risiken stärker reizten als die Bequemlichkeiten des Familienalltags, und er wurde (vielleicht aus diesem Grunde) als Vorläufer, Vorvater oder Prototyp des Europäers gerühmt. Europäer waren die Abenteurer unter den Liebhabern von Frieden und Ruhe, zwanghafte und unermüdliche Wanderer unter Scheuen und Sesshaften, Landstreicher und Stromer unter denen, die ihr Leben lieber in einer Welt verbringen wollten, das am äußersten Dorfzaun endete.

Es gibt eine alte, bislang nicht beigelegte Debatte: Hatte H. G. Wells – forschender und einsichtsvoller Beobachter, der er war – recht, als er behauptete: „Im Land der Blinden ist der Einäugige König“? Oder ist es eher so, dass in einem Land von Blinden der Einäugige nur ein Ungeheuer sein kann, eine finstere Kreatur, gefürchtet von allen „normalen“ Landbewohnern? Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Debatte ungelöst bleiben, da die Argumente auf beiden Seiten schwer wiegen und jede Seite auf ihre Weise überzeugend ist. Es muss freilich darauf hingewiesen werden, dass beide Antagonisten in der Debatte ein „Entweder-oder“ unterstellen, wo es keines gibt. Eine in ihrem verbalen Duell verloren gegangene Möglichkeit ist eine „Und-und“-Situation: dass der Einäugige sowohl König wie Ungeheuer ist (gewiss kein seltenes Ereignis in der vergangenen und gegenwärtigen Geschichte). Geliebt und gehasst. Begehrt und verpönt. Respektiert und beschimpft. Ein verehrungswürdiges Idol und ein bis zum letzten Atemzug zu bekämpfender Satan – bei einigen Gelegenheiten gleichzeitig, zu anderen Zeiten in schneller Abfolge. Es gibt Situationen, in denen der selbstsichere einäugige König ungerührt die wenigen Monsterjäger, Lästerer und Untergangspropheten, die aus der Wildnis rufen, ignorieren und als belanglos abtun kann. Es gibt freilich andere Zeiten, zu denen das einäugige Monster am liebsten auf seine königlichen Ansprüche samt königlichen Vorrechten und Pflichten verzichten, Schutz suchen und die Tür hinter sich schließen würde. Aber vielleicht steht es auch nicht in der Macht des Einäugigen und sicher nicht allein in seiner Macht, zwischen Königswürde und Monstrosität zu wählen – wie der europäische Abenteurer aus seinen eigenen stürmischen Abenteuern gelernt hat und zu seiner Verblüffung oder Verzweiflung immer noch lernt.

Mehr als zwei Jahrtausende sind vergangen, seit die Erzählungen vom Ursprung Europas, die europaschaffenden Erzählungen verfasst wurden. Die Reise, die als Abenteuer begonnen und fortgeführt wurde, hat eine dicke und schwere Schicht von Stolz und Scham, von Leistung und Schuld hinterlassen; und sie hat lange genug gedauert, um die Träume und Ambitionen zu Stereotypen gerinnen zu lassen, die Stereotypen zu „Wesenheiten“ erstarren und die Wesenheiten zu „Tatsachen“ verknöchern zu lassen, die als genauso hart wie alle sonstigen Tatsachen gelten. Dementsprechend wird erwartet, dass Europa, trotz allem, was es zu dem gemacht hat, was es geworden ist, eine Realität ist, die verortet, inventarisiert und abgeheftet werden könnte (sollte?). In einem Zeitalter der Territorialität und territorialen Souveränität gelten alle Realitäten als räumlich definiert und territorial fixiert – und Europa ist keine Ausnahme, so wenig wie der „europäische Charakter“ und die „Europäer“ selbst.

Aleksander Wat, ein bemerkenswerter polnischer Avantgarde-Dichter, der zwischen den revolutionären Barrikaden und den Gulags hin und her geschleppt wurde, die zu seinen Lebzeiten über den Kontinent Europa verstreut waren, und der reichlich Gelegenheit gehabt hatte, die süßen Träume und das bittere Erwachen des vergangenen Jahrhunderts – bekannt für seinen Reichtum an Hoffnungen und das Elend seiner Frustrationen – bis zur Neige auszukosten, musterte die Schatzkisten und Mülleimer seines Gedächtnisses, um das Geheimnis des „europäischen Charakters“ zu lösen. Wie wäre ein „typischer Europäer“? Und er antwortete: „Feinfühlig, empfindlich, gebildet, jemand, der sein Wort nicht bricht, der dem Hungrigen nicht sein letztes Stück Brot stiehlt und der seine Zellengenossen nicht an den Wärter verrät …“ Und dann, nach längerem Nachdenken, fügte er hinzu: „Ich habe einen solchen Menschen getroffen. Er war Armenier.“

Man kann über Wats Definition „des Europäers“ streiten (schließlich liegt es im Charakter der Europäer, sich ihres wahren Charakters nicht sicher zu sein, verschiedene Meinungen zu haben und endlos darüber zu streiten), aber man würde, wie ich vermute und hoffe, wohl kaum die beiden Behauptungen bestreiten, die in Wats moralischer Geschichte enthalten sind. Erstens, das „Wesen Europas“ neigt dazu, dem „real existierenden Europa“ vorauszugehen: Es ist das „Wesen des Europäerseins“, ein Wesen zu haben, das der Realität immer voraus ist, und es ist das Wesen der europäischen Realitäten, dem Wesen Europas immer hinterher zu sein. Zweitens: Während das „wirklich existierende Europa“, das Europa der Politiker, der Kartographen und all seiner ernannten oder selbsternannten Sprecher ein geographischer Begriff und ein räumlich begrenztes Gebilde sein mag, ist doch das „Wesen“ Europas weder das erste noch das zweite. Man ist nicht notwendig Europäer einfach nur deshalb, weil man zufällig in einer Stadt geboren ist oder wohnt, die auf der politischen Karte Europas verzeichnet ist. Aber man kann Europäer sein, selbst wenn man niemals in einer seiner Städte gewesen ist.

Jorge Luis Borges, einer der herausragendsten unter den großen Europäern in jedem Sinn außer dem geographischen, schrieb von der „Verwirrung“, die zwangsläufig immer dann entstehe, wenn die „absurde Zufälligkeit“ einer Identität erwogen wird, die an einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit gefesselt ist, woraus sich unweigerlich ergebe, dass sie eher einer Fiktion gleiche als allem, was wir für „Realität“ halten.2 Dies mag eine universale Eigenschaft aller Identitäten sein, die auf die Tatsache der Erblichkeit und Zugehörigkeit zurückgeführt werden, aber im Fall der „europäischen Identität“ ist dieser Zug, diese „absurde Zufälligkeit“ vielleicht auffälliger und verwirrender als in den meisten Fällen. Alex Warleigh fasste kürzlich die gegenwärtige Verwirrung bei allen Versuchen, die europäische Identität zu erfassen, in der Bemerkung zusammen, dass die Europäer (im Sinne der nationalen EU-Mitgliedsstaaten) „eher dazu neigen, ihre Verschiedenheit zu betonen als das, was sie gemeinsam haben“, während dann, „wenn man von einer „europäischen Identität“ redet, es nicht mehr länger möglich ist, deren Umfang in einer analytisch vernünftigen Weise auf EU-Mitglieder zu beschränken.“3 Und wie Norman Davies, ein brillanter Historiker, betont, ist es zu allen Zeiten schwierig gewesen zu entscheiden, wo Europa beginnt und wo es endet – geographisch, kulturell oder ethnisch. Nichts hat sich in dieser Hinsicht gegenwärtig geändert. Die einzige Neuigkeit ist die schnell wachsende Anzahl von ständigen und von ad-hoc-Kommissionen, akademischen Kongressen und anderen öffentlichen Zusammenkünften, die sich ausschließlich – oder doch beinahe ausschließlich – der Quadratur dieses besonderen Kreises widmen.

Wann immer wir das Wort „Europa“ hören, ist uns nicht unmittelbar klar, ob es sich auf die beschränkte, an den Boden gebundene territoriale Realität bezieht, innerhalb der festen und sorgfältig gezogenen Grenzen von bislang nicht widerrufenen politischen Verträgen und Gesetzestexten – oder auf das freischwebende Wesen, das keine Grenzen kennt und allen räumlichen Bindungen und Grenzen trotzt. Und eben diese Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, von Europa zu sprechen, während man die Frage des Wesens und die Tatsachen der Realität klar und sauber voneinander trennt, unterscheidet das Sprechen von Europa von dem gewöhnlichen Sprechen über Gebilde mit geographischen Bezugspunkten.

Die quälende Unfassbarkeit und die störrische Extra-territorialität des „Wesens“ schwächen und untergraben die solide Territorialität der europäischen Realitäten. Das geographische Europa hatte niemals feste Grenzen, und es ist unwahrscheinlich, dass es sie jemals erwirbt, solange das „Wesen“ weiterhin wie bisher freischwebend und, wenn überhaupt, nur locker an irgendeine besondere Stelle im Raum gebunden ist. Und sooft auch die Staaten Europas versuchen, ihre gemeinsamen „kontinentalen“ Grenzen festzulegen, und schwer bewaffnete Grenzwachen sowie Einwanderungs- und Zollbeamte anheuern, um sie abzusichern, so gelingt es ihnen doch niemals, sie zu versiegeln, sie dicht und undurchlässig zu machen. Jede Linie, die Europa einkreist, wird eine Herausforderung für den Rest des Planeten darstellen und eine ständige Einladung, sie zu überschreiten.

Europa als Ideal (nennen wir es Europäismus) trotzt einem monopolistischen Besitzanspruch. Es kann dem „Anderen“ nicht verwehrt werden, da es das Phänomen der „Andersheit“ verkörpert: In der Praxis des Europäismus wird die ewige Anstrengung, zu trennen, zu vertreiben und zu externalisieren, ständig vereitelt durch das Hineinziehen, das Zulassen, die Akkommodation und Assimilation des „Externen“. Hans-Georg Gadamer sah dies als den „besonderen Vorzug“ Europas an: seine Fähigkeit, „mit dem anderen [zu] leben, als der Andere des Anderen [zu] leben“, die Fähigkeit und Notwendigkeit zu „lernen, mit anderen zu leben, auch wenn die anderen anders sind“. „Wir sind alle Andere, und wir sind alle wir selbst.“ Das europäische Leben wird in der ständigen Gegenwart und in der Gesellschaft der Anderen und Verschiedenen geführt, und die europäische Lebensform ist eine ständige Unterhandlung, die weitergeht trotz der Andersheit und Verschiedenheit, die alle trennt, die an dieser Verhandlung beteiligt sind.4

Vielleicht ist Europa aufgrund einer solchen Internalisierung des Unterschieds, die seine Lage kennzeichnet, zur Geburtsstätte einer (wie es Krzystof Pomian denkwürdig formuliert hat) transgressiven Zivilisation geworden – einer Zivilisation der Überschreitung (und vice versa).5 Wir können vielleicht sagen, dass diese Zivilisation oder Kultur, gemessen an ihren Horizonten und Ambitionen (wenngleich nicht immer an ihren Taten), eine Lebensform war und bleibt, die gegen Grenzen allergisch ist – ja, gegen alle Festigkeit und Begrenztheit. Sie erträgt Grenzen nur schlecht; es ist, als ob sie Grenzen nur zöge, um ihren unkontrollierbaren Drang zur Grenzüberschreitung aufs Korn zu nehmen. Es ist eine an sich expansive Kultur – eine Eigenschaft, die eng mit der Tatsache verbunden ist, dass Europa Ort des einzigen sozialen Gebildes war, das außer eine Zivilisation zu sein, sich selbst „Zivilisation“ genannt und als Zivilisation gesehen hat, das heißt als ein Produkt der Wahl, des Entwurfs und der Planung. Dadurch gab es der Gesamtheit aller Dinge, einschließlich seiner selbst, eine neue Form als ein prinzipiell unvollendetes Objekt, ein Objekt der genauen Prüfung, der Kritik und möglicherweise einer Hilfsaktion. In ihrer europäischen Fassung ist „Zivilisation“ (oder „Kultur“, ein Begriff, der trotz der subtilen Argumente von Philosophen und der weniger subtilen Anstrengungen nationalistischer Politiker schwer von dem der „Zivilisation“ zu trennen ist) ein kontinuierlicher Prozess – ewig unvollkommen, aber beharrlich nach Perfektion strebend –, die Welt neu zu machen. Selbst wenn der Prozess im Namen der Bewahrung abläuft, so ist doch die hoffnungslose Unfähigkeit der Dinge, so zu bleiben, wie sie sind, und ihre Gewohnheit, erfolgreich aller ungebührlichen Pfuscherei zu trotzen (außer wenn an ihnen gebührend herumgepfuscht wird), die gemeinsame Prämisse aller Bewahrung. Er wird, auch von Konservativen, als Job angesehen, der erledigt werden muss, und in der Tat ist diese Annahme der primäre Grund dafür, diesen Job als Job anzusehen, der erledigt werden muss.

Um eine witzige Bemerkung von Hector Hugh Munro (Saki) zu paraphrasieren, könnten wir sagen, dass die Völker Europas mehr Geschichte gemacht haben, als sie vor Ort verbrauchen konnten. Soweit es die Geschichte betraf, war Europa entschieden ein Exportland mit einer (bis in die jüngste Zeit) beständig positiven Außenhandelsbilanz.

Die Behauptung, jede menschliche Gruppe habe eine „Kultur“, ist banal, aber sie wäre nicht banal, hätte Europa nicht Kultur als eine Tätigkeit entdeckt, die von Menschen an der menschlichen Welt verrichtet wird. Es war jene Entdeckung, die (um Martin Heideggers denkwürdige Ausdrücke zu verwenden) die Totalität der menschlichen Welt aus den dunklen Weiten des Zuhandenen (das heißt des tatsächlich, routinemäßig und unproblematisch Gegebenen) herauszog und sie auf die hell erleuchtete Bühne des Vorhandenen (das heißt den Bereich der Dinge, die, um in die Hand zu passen, beobachtet, gehandhabt, in Angriff genommen, geknetet, geformt, verändert werden müssen) verpflanzte. Anders als das Universum des Zuhandenen, verbietet die Welt des Vorhandenen jeden Stillstand; sie ist eine ständige Einladung, ja ein Gebot zu handeln.

Sobald diese Entdeckung der Welt-als-Kultur einmal gemacht war, brauchte es nicht lange, bis sie zu Allgemeinwissen wurde. Sie war, können wir sagen, eine Art von Wissen, das als solches ungeeignet war, Privateigentum, geschweige denn ein Monopol zu sein, so sehr die Advokaten und Wächter der „intellektuellen Eigentumsrechte“ dies auch versuchen mochten. Die Idee der Kultur stand schließlich für die Entdeckung, dass alle Menschendinge von Menschen gemacht waren und dass sie andernfalls keine Menschendinge wären. Ungeachtet dieses gemeinsamen Wissens waren die Beziehungen zwischen der europäischen Kultur, der einzigen Kultur der Selbstentdeckung, und all den anderen Kulturen des Planeten nichts weniger als symmetrisch.

Wie Denis de Rougemont es kurz und knapp ausgedrückt hat,6 entdeckte Europa alle Länder der Erde, aber niemand hat jemals Europa entdeckt. Es beherrschte der Reihe nach jeden Kontinent, wurde aber seinerseits niemals von irgendeinem anderen beherrscht. Und es erfand eine Zivilisation, welche der Rest der Welt nachzuahmen versuchte oder nachzuahmen gezwungen wurde, während ein umgekehrter Prozess (auf jeden Fall bis jetzt) niemals stattgefunden hat. Dies alles sind „harte Tatsachen“ einer Geschichte, die uns und den Rest des Planeten mit uns auf den Platz gebracht hat, den wir jetzt alle teilen. Man kann, macht Rougemont geltend, Europa durch seine „globalisierende Funktion“ definieren. Europa mochte beharrlich und für lange Zeit ein uncharakteristisch abenteuerlicher Winkel des Globus gewesen ein – aber die Abenteuer, zu denen es sich in den mehr als zweitausend Jahren seiner Geschichte einschiffte, „erwiesen sich als entscheidend für die gesamte Menschheit“. Man versuche nur einmal, sich eine Welt vorzustellen, in deren Geschichte Europa fehlt.

Goethe nannte die europäische Kultur prometheisch. Prometheus stahl den Göttern das Feuer und verriet auf diese Weise deren Geheimnis an die Menschen. Einmal den Händen der Götter entwunden, wurde das Feuer eifrig von sämtlichen menschlichen Haushalten gesucht und von denen, deren Suche erfolgreich war, triumphierend entfacht und am Brennen gehalten. Wäre das jedoch geschehen ohne die Schläue, Anmaßung und Tollkühnheit des Prometheus?

Diese entscheidenden Tatsachen der Geschichte werden heute gerne schamhaft verhehlt, und wenn man an sie erinnert, wird man häufig unverhohlen im Namen der gegenwärtigen Version von „politischer Korrektheit“ angegriffen. Was motiviert die Angreifer?

Unzweifelhaft ist es manchmal ein Gefühl von Unbehagen, verursacht durch die Leichtigkeit, mit der man allem Sprechen von Europas einzigartigen Qualitäten und seiner historischen Rolle die Sünde des „Europazentrismus“ vorwerfen kann. Das ist in der Tat ein schwerer Vorwurf, aber er sollte sich gegen die Tendenzen Europas in der Vergangenheit richten, ein Selbstgespräch zu führen, wenn ein Dialog angezeigt gewesen wäre; gegen seine Neigung, sich die Autorität eines Lehrers anzumaßen und seinen Widerwillen gegen die Rolle des Lernenden; gegen den notorischen Missbrauch der militärischen und ökonomischen Überlegenheit Europas, die seine augenfällige jahrhundertelange Präsenz in der Weltgeschichte kennzeichnete; gegen die selbstherrliche Behandlung, die Europa anderen Formen des menschlichen Lebens zuteil werden ließ, und gegen seine Gleichgültigkeit gegenüber den Wünschen und Stimmen derer, die sie praktizierten; oder gegen die Gräueltaten, die unter dem Deckmantel der Zivilisierungsmission begangen wurden – aber nicht gegen eine nüchterne Einschätzung von Europas Funktion als Hefe und bewegender Geist in der langen, gewundenen und immer noch unvollendeten Vereinigung der Menschheit auf dem ganzen Planeten.

Es gibt Gründe zu vermuten, dass bei anderen Gelegenheiten das Motiv dafür, die europäische Einzigartigkeit zu leugnen, etwas weniger edel ist – veranlasst durch andere Beweggründe als zwar verspätete, doch gleichwohl heilsame Bescheidenheit oder Reue. Man darf eher einen bewussten oder, wahrscheinlicher noch, einen unterbewussten Drang unterstellen, unsere europäischen Hände von einigen unschönen Konsequenzen der europäischen Begabung reinzuwaschen – von Qualitäten, die dazu bestimmt waren, Europa zu einem Bestandteil eines „planetarischen Ferments“ und einer intrinsisch expansiven und erweiterbaren Lebensform zu machen (siehe zum Beispiel eine jüngst erfolgte Intervention von Göran Therborn7); ein wenig schmeichelhafter Wunsch mit dem Ziel, die beschwerliche Befassung mit seiner Pflicht gegenüber dem Rest der Menschheit zu vermeiden – eine immer noch ausstehende Pflicht und ein moralischer Imperativ, der schärfer und zwingender ist als jemals in der Vergangenheit? Scham über eine abenteuerliche Vergangenheit oder die Schändlichkeit des expliziten oder impliziten Wunsches, einen Strich unter das europäische Abenteuer zu ziehen?

Es war nicht einfach nur Kultur, die sich als Europas Entdeckung/Erfindung erwies. Europa erfand auch das Bedürfnis und die Aufgabe, Kultur zu kultivieren.

Kultur, das sei noch einmal betont, ist eine unaufhörliche Aktivität, die Welt Stück für Stück aus der heiteren, aber schläfrigen Trägheit der Zuhandenheit herauszuziehen und sie in ein einzigartig menschliches Reich der Vorhandenheit zu verpflanzen – aus der Welt einen Gegenstand kritischer Forschung und kreativer Handlung zu machen. Diese Leistung wird immer aufs Neue täglich überall erbracht, wo Menschen leben; die ewige Wiedergeburt und Wiederverkörperung der Welt ist eben das, worin jegliche Form des In-der-Welt-Seins besteht.

Aber Europa ging einen Schritt weiter als der Rest der Menschheit im Allgemeinen – und tat diesen Schritt vor jedermann sonst; zugleich bahnte es durch diesen Schritt den Weg für alle anderen. Es vollzog dieselbe Übertragung von Zuhandenheit in Vorhandenheit auf zwei Ebenen: Es machte die Kultur selbst zum Gegenstand der Kultur … Zunächst war es „die Welt da draußen“, die aus dem Halbschatten der Zuhandenheit in das Scheinwerfer- und Rampenlicht der Vorhandenheit übertragen wurde – aber danach wurde der Akt des Übertragens selbst einer solchen Operation unterzogen (wie Hegel sagen würde: Jene primäre Übertragung wurde aus der Modalität des an sich in die des für sich gehoben). Es war die menschliche Weise des In-der-Welt-Seins selber, die als ein vorhandenes Objekt neu entworfen wurde, als ein in Angriff zu nehmendes Problem. Kultur – ebender Prozess der Produktion der menschlichen Welt – wurde zum Objekt der menschlichen theoretischen und praktischen Kritik und der nachfolgenden Kultivierung.

Erst Europa hat verkündet, dass „die Welt durch Kultur gemacht wird“ – aber ebenso hat erst Europa entdeckt/entschieden, dass, da Kultur von Menschen gemacht wird, Kultur zu machen ein menschlicher Job, eine menschliche Bestimmung/Berufung/Aufgabe ist – vielleicht sein sollte. Erst in Europa haben sich Menschen in eine gewisse Distanz zu ihrem eigenen Modus des In-der-Welt-Seins gesetzt und dadurch Autonomie gegenüber ihrer eigenen Form des Menschseins gewonnen. Wie Eduardo Lourenço, portugiesischer Schriftsteller und nacheinander Einwohner von Deutschland, Brasilien und Frankreich, beobachtet hat, ist die europäische Kultur vielleicht aus diesem Grund eine „Kultur der Ungewissheit“ – eine „Kultur der Ruhelosigkeit, der Angst und des Zweifels“,8 eine Kultur des radikalen Widerstands gegen jegliche Form der Gewissheit; und es könnte kaum anders sein, da wir wissen, dass Kultur eine Art intellektueller und geistiger Praxis ist, die keinerlei Grundlage hat außer, wie Platon schon vor langer Zeit gezeigt hat, dem Dialog, den das Denken mit sich selbst führt. Aber das Ergebnis ist, dass wir, die Europäer, vielleicht das einzige Volk sind, das (als historische Subjekte und Akteure der Kultur) keinerlei Identität hat – keine bestimmte Identität oder keine, die als bestimmt gilt und angesehen wird: „Wir wissen nicht, wer wir sind“ und noch weniger wissen wir, was wir noch werden können und was wir über uns noch lernen können. Der Drang zu wissen und/oder zu werden, was wir sind, lässt niemals nach noch wird jemals der Zweifel hinsichtlich dessen zerstreut, was wir noch werden können, wenn wir jenem Drang folgen. Europas Kultur ist eine Kultur, die keine Ruhe kennt: Es ist eine Kultur, die sich davon nährt, dass sie die Ordnung der Dinge in Frage stellt – und davon, dass sie die Art und Weise in Frage stellt, sie in Frage zu stellen.

Eine andere Art von Kultur, eine schweigende Kultur, eine Kultur, die gar nicht merkt, dass sie eine Kultur ist, eine Kultur, die das Wissen davon, eine Kultur zu sein, geheim hält, eine Kultur, die anonym oder unter einem angenommenen Namen auftritt, eine Kultur, die beharrlich ihre menschlichen Ursprünge verleugnet und sich hinter dem majestätischen Gebäude eines göttlichen Erlasses und eines himmlischen Tribunals verbirgt oder eine bedingungslose Kapitulation vor den unkontrollierbaren und undurchschaubaren Gesetzen der Geschichte unterzeichnet – eine solche Kultur mag eine Dienstmagd, eine Kraftstoffquelle und ein Reparaturladen sein, der dem gegenwärtigen Gewebe der menschlichen Interaktion namens „Gesellschaft“ Dienste leistet. Die europäische Kultur freilich ist alles andere als schweigsam und sich selbst verleugnend – und aus diesem Grunde kann sie nur ein Dorn im Fleische der Gesellschaft sein, ein Stachel im Gesellschaftsleib, ein Pochen des Gewissens. Tag und Nacht zieht sie die Gesellschaft zur Rechenschaft, und die meiste Zeit über lässt sie sie auf der Anklagebank. Sie wird das „Ist“ nicht als die Antwort auf das „Soll“ nehmen – geschweige denn für eine endgültige Antwort.

Europa hat sich in diese Rolle eines Maßschneiders für das menschliche Universum eingeübt – indem es diese Aufgabe an sich selbst praktiziert. Aber sobald einmal die unwiderruflichen Urteile von Göttern oder der Natur als Trug entlarvt und das Schweigen und die Selbstverleugnung der Kultur – jeder Kultur – ihrer Plausibilität beraubt waren, hat es auch jeden andern Teil des menschlichen Universums bloßgelegt und verletzlich gemacht, jede andere Form des menschlichen Zusammenseins und jede andere Struktur menschlicher Interaktion. Wie Paul Valéry zu Beginn des letzten Jahrhunderts beobachtete (zu der Zeit, als Europa, auf dem Zenit seiner planetarischen Herrschaft, die ersten Umrisse eines Abhangs auf der anderen Seite des Gebirgspasses erblickte oder ahnte), reflektierte die „Europäisierung“ der Welt Europas Drang, den Rest der Welt ohne jedes Schuldgefühl nach europäischen Zielen neu zu schaffen.

Die Neuschaffung der Welt nach europäischem Muster versprach allen die Freiheit der Selbstbehauptung, aber zu einem Preis, der höher war, als die meisten Objekte der Generalüberholung zu zahlen bereit waren. Von jedem, den sie auf ihren weltweiten Reisen antrafen, verlangten die Boten Europas das äußerste Opfer: das Aufgeben der Sicherheit, die auf monotoner Selbstreproduktion beruhte. Zutiefst beeindruckt von Michel de Montaignes Urteilsspruch, dass wir „in der Tat keine andere Messlatte für Wahrheit und Vernunft kennen als das Beispiel und Vorbilder der Meinungen und Gepflogenheiten des Landes, in dem wir leben“9, machte Europa den Weg frei für Toleranz der Andersheit, während es gleichzeitig einen Zermürbungskrieg gegen jede andere Art von Andersheit oder Gleichheit führte, die außerstande war oder sich weigerte, diesen seinen Maßstäben zu genügen. Für Europa war der Rest des Planeten nicht ein Quelle von Bedrohungen, sondern ein Schatzhaus von Herausforderungen.

Viele Jahrhunderte lang war Europa ein rühriger Exporteur seines eigenen Überschusses an Geschichte, der den Rest des Planeten anregte/zwang, an seiner Konsumtion teilzuhaben. Diese langen Jahrhunderte eines einseitigen ungleichgewichtigen Handels schlagen nun auf Europa zurück und konfrontieren es mit der entmutigenden Aufgabe, den Überschuss der planetarischen Geschichte vor Ort zu verzehren.

Von Beginn des europäischen Abenteuers an, aber besonders während der jüngsten und am lebhaftesten erinnerten oder zumindest am häufigsten ins Gedächtnis zurückgerufenen Jahrhunderte seiner Geschichte war der Planet für Europas ruhelose, furchtlose und abenteuerliche Geister der Spielplatz Europas. Diese Jahrhunderte sind in europäischen Geschichtsbüchern als das „Zeitalter der geographischen Entdeckungen“ verzeichnet. Europäische Entdeckungen natürlich: von europäischen Boten und Abgesandten und zum Nutzen Europas.

Riesige Länder lagen dahingebreitet in der Erwartung, entdeckt zu werden. „Entdecken“ bedeutete nicht einfach finden und auf den Seekarten verzeichnen. Es bedeutete, die Schätze bloßzulegen, die bis dahin träge, kaum genutzt oder missbraucht dalagen oder allerlei falsche, phantastische, unvernünftige Verwendungen gefunden hatten – Schätze, die an die Eingeborenen verschwendet waren, die keinerlei Vorstellungen von ihrem Wert besaßen, Adern von Reichtümern, die danach riefen, abgebaut zu werden –, und sie dann zu ernten und an andere Orten zu verlegen, wo sie einer besseren, sinnvollen Verwendung zugeführt werden konnten. Es bedeutet auch das Eröffnen riesiger, bislang verlassener oder stark vernachlässigter Räume für menschliche Besiedlung und produktive Verwendung.

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