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Einführung: Die Soziologie nach dem Holocaust

In Zukunft werden auch die Todeslager und ›Muselmänner‹ zu den materiellen und geistigen Hervorbringungen der Zivilisation zu zählen sein.

Richard Rubenstein und John Roth, »Approaches to Auschwitz«.

Wir begegnen in der Soziologie zwei Formen der Bewußtseinstrübung und Blindheit gegenüber dem Holocaust und seinen Konsequenzen für eine Theorie der Zivilisation und Moderne.

Das soziologische Denken wertet den Holocaust einerseits als etwas, das den Juden widerfuhr, als Ereignis spezifisch jüdischer Geschichte und damit als singuläres Ereignis, nicht weiter beunruhigend und ohne Relevanz für die soziologische Theorie. Der Holocaust gilt dann als Kulminationspunkt des christlich-europäischen Antisemitismus, als solcher seinerseits singulär und ohne Vergleich in einer langen, facettenreichen Tradition ethnischer und religiöser Vorurteile und Übergriffe. Derart ragt der Antisemitismus wegen seiner geschichtlich einzigartigen Systematik, seiner ideologischen Intensität und Internationalität, aber auch aufgrund seines besonderen regionalen und konfessionellen Nährbodens aus allen anderen gesellschaftlichen Antagonismen heraus. Der Holocaust, gedacht gewissermaßen als Fortsetzung des Antisemitismus mit anderen Mitteln, wird vor diesem Hintergrund zur monströsen historischen Ausnahme stilisiert. Die daraus abzuleitenden Erklärungen erhellen zwar die Pathologie der ihn hervorbringenden Gesellschaft, lassen aber keine Rückschlüsse auf ihren »gesunden/normalen« Zustand zu. Weder der orthodoxe soziologische Modernitätsund Zivilisationsbegriff, noch gar die Grundlagen dieser Wissenschaft scheinen von daher revisionsbedürftig.

Die andere Richtung soziologischer Betrachtung versucht diesen Fehler im Ansatz zu vermeiden, führt jedoch zur selben Konsequenz. Der Holocaust ist demnach in seiner Anhäufung von Monstrositäten zwar ein Extremfall – die einzelnen Phänomene, isoliert betrachtet, jedoch durchaus »normal«. Die These: Man könne (und müsse) mit diesen resistenten und universell anzutreffenden Phänomenen leben, da die soziale Ordnung sie normalerweise zähme, wenn nicht sogar neutralisiere. Der Holocaust erhält in dieser Sicht den Status eines Extremfalles unter vielen anderen »analogen« sozialen Konflikten oder Übergriffen. Die radikalste Denkrichtung behauptet gar, für den Holocaust seien bestimmte archaische, kulturell nicht auslöschbare, das hieße also »naturgegebene« Prädispositionen des Menschen verantwortlich – etwa unter Berufung auf Lorenz und die Aggression als Instinkt oder die von Arthur Koestler postulierte emotionale Prävalenz der stammesgeschichtlich älteren Hirnschichten.1 Die für den Holocaust vermeintlich verantwortlichen Faktoren werden aus dem Feld soziologischer Betrachtung eliminiert, wenn man sie als »präsozial« und immun gegen kulturelle Einflüsse betrachtet. Man kann den Holocaust dann allenfalls noch unter der schrecklich-finsteren – aber zumindest theoretisch faßbaren – Kategorie des Genozids subsumieren; oder ihn dem Kapitel ethnisch, kulturell oder rassistisch motivierter Unterdrückung und Verfolgung zuweisen.2

Unabhängig davon, welchem der beiden Ansätze die Soziologie folgt – der Holocaust läßt sich in die Kontinuität von Geschichte einfügen:

Das Kunststück, den Holocaust bei aller Singularität als normales Ereignis aufzufassen, gelingt unter Hinweis auf andere historisch belegte Greuel, von den Kreuzzügen über das Gemetzel an katharischen Ketzern und den türkischen Völkermord an den Armeniern bis hin zur britischen Erfindung des Konzentrationslagers in den Burenkriegen.3

Der Holocaust wird vielfach in die jahrhundertealte Tradition der jüdischen Ghettoisierung, Diskriminierung und Pogrome gestellt – als grauenerregende, wenngleich logische Konsequenz ethnisch und religiös motivierten Hasses. Derart ist die Sprengkraft des Schreckens entschärft, die grundlegende Revision der soziologischen Theorien überflüssig. Der gängige Modernitätsbegriff gerät nicht in Zweifel, daß die Analyse ihres latenten Potentials unterbleibt. Die ›erklärenden‹ und ›sinnstiftenden‹ Axiome und Methoden der Soziologie werden als perfektes gesellschaftspolitisches Rüstzeug angesehen. Das Resultat ist allgemeine Selbstzufriedenheit. Die modernen soziologischen Erklärungsmodelle, in einer bestimmten Konstellationsebene als theoretischer Rahmen wie pragmatischer Leitfaden soziologischen Handelns bewährt, bleiben der Kritik entzogen – auch trotz und nach dem Holocaust.

Kritik an dieser saturierten Soziologie wird bisher in erster Linie von Historikern und Theologen vorgetragen – ohne von der Soziologie ernsthaft zur Kenntnis genommen worden zu sein. Verglichen mit der beeindrukkenden Menge der gründlichen Studien von Historikern und der Weite der Auseinandersetzung unter christlichen und jüdischen Theologen nimmt sich der Beitrag der Soziologie zur Untersuchung des Holocaust dürftig und überflüssig aus. Ein Blick auf den gegenwärtigen soziologischen Forschungsstand zu diesem Thema offenbart das Paradox: Der Holocaust gibt mehr Aufschluß über den Stand der Soziologie, als diese in der jetzigen Form imstande ist, zur Erklärung des Holocaust beizutragen. Die Soziologen haben sich diesem alarmierenden Befund bisher nicht gestellt, geschweige denn sich damit auseinandergesetzt.

Wie man sich die soziologische Bewältigung des ›Komplexes Holocaust‹ vorzustellen hat, belegt ein Zitat des berühmten Everett C. Hughes:

Das nationalsozialistische Regime in Deutschland befahl das ungeheuerlichste Stück ›Vernichtungsarbeit‹, das die Juden in ihrer Geschichte zu erleiden hatten. Die entscheidenden Fragen angesichts eines solchen historischen Faktums lauten: (1) Wer erledigte dieser Arbeit? – und (2) Warum leisteten die ›guten‹ Menschen dagegen keinen Widerstand? Was wir brauchen, ist genaue Kenntnis über ihren Aufstieg zur Macht und bessere Mittel, sie von der Macht fernzuhalten.

Ganz im bewährten Stil soziologischer Praxis fordert Hughes eine gründliche psychosoziale Diagnose. Untersuchungsgegenstand sei die spezifische Kombination von Faktoren, die spezifische Verhaltensmuster bei den Erfüllungsgehilfen von ›Vernichtungsarbeit‹ auslösen (bzw. die damit korrelieren). Außerdem jene Faktoren, die den latenten Widerstand gegen diese Tendenz unterdrücken. Ziel dieses soziologischen Ansatzes: ein prädiktives Erklärungsmodell – basierend auf der Vorstellung von einer rational durchorganisierten, kausalen Gesetzmäßigkeiten und statistischer Wahrscheinlichkeit unterworfenen Welt – das den Ausbruch von ›Vernichtungstendenzen‹ verhindern helfen soll. Man hofft, die moderne Zivilisation durch eine konsequente Anwendung jener präventiven soziologischen Modelle garantieren zu können, denen sie angeblich ursächlich ihre rationale ›Beherrschbarkeit‹ verdankt. Allenfalls ein gewisser Nachbesserungsbedarf des – vermeintlich nicht diskreditierten – ›Social Engineering‹ wird eingeräumt.

In einer lesenswerten Studie vom Holocaust hat Helen Fein5 die von Hughes empfohlene Methodik Schritt für Schritt angewandt. Fein untersucht den Zusammenhang einer Reihe psychologischer, ideologischer und struktureller Variablen und der prozentualen Verteilung von Opfern und Überlebenden unter der jüdischen Bevölkerung im nationalsozialistisch besetzten Europa. Nach herkömmlichen soziologischen Maßstäben gelingt Helen Fein eine beeindruckende Forschungsleistung. Faktoren wie die nationale Ausprägung des Antisemitismus, der Grad der jüdischen Akkulturation und Assimilation sowie die daraus resultierende gesellschaftliche Solidarität in den einzelnen Ländern sind sorgfältig analysiert und präzise erfaßt. Einige Korrelationen konnten statistisch erhärtet werden, etwa die zwischen fehlender Solidarität und der Tendenz zur ›Aufhebung persönlicher moralischer Zwänge‹. Gerade die vorbildliche Arbeitsweise H. Feins legt aber die Schwächen der orthodoxen Soziologie auf diesem Gebiet in diesem Zusammenhang, wenn auch schonungslos, bloß. Tatsächlich gibt es ohne eine Revision der grundlegend stillschweigend akzeptierten Prämissen des soziologischen Diskurses keine Alternative zu dem von Fein beschrittenen Weg. Der Holocaust resultiert dieser Betrachtungsweise zufolge aus einer verhängnisvollen, zeitlich begrenzten Verkettung sozialer und psychologischer Faktoren. Das implizit oder explizit bemühte Modell eines human prägenden, prä- und antisoziale Triebe bändigenden zivilisatorischen Korsetts hat auch vor dem Holocaust Bestand. Die These: Moralisches Handeln verdankt sich der sozialen Ordnung, Erosionserscheinungen lassen auf gesellschaftliche Funktionsstörungen schließen. ›Im anomischen – das heißt ›gesetzlosen‹ – Zustand neigt der Mensch zur Rücksichtslosigkeit gegenüber dem anderen.‹6 Im Umkehrschluß hieße dies, daß funktionierende soziale Regeln diese Skrupellosigkeit weitgehend ausschließen. Die Leistung der sozialen Ordnung – und damit auch der modernen Zivilisation, in der bekanntlich das regulative Element einen nie zuvor bekannten Entwicklungsstand erreicht – bestünde demzufolge darin, den Egoismus und die angeborene animalische Grausamkeit des Menschen im moralischen Zaum zu halten. Die enge, durch die eigene methodologische Zurichtung verfälschte These der orthodoxen Soziologie zum Holocaust kann daher nur lauten: Der Holocaust ist ein Betriebsunfall, nicht das Produkt der Moderne.

In einer anderen bemerkenswerten soziologischen Studie zum Thema Holocaust durchleuchtet Nechama Tec das soziale Spektrum von der entgegengesetzten Seite her: Wer waren die Helfer der Verfolgten? [Wer waren] jene, die sich der »Vernichtungsarbeit« widersetzten und ihr Leben für leidende Mitmenschen aufs Spiel setzten, wo ringsum Egoismus herrschte; wer waren sie, die inmitten amoralischer Zeiten moralisch blieben. Getreu dem Gebot der soziologischen Lehre versucht die Autorin zu ergründen, inwieweit ein nach damaliger Anschauung »abartiges« Verhalten sozial determiniert war. Nacheinander prüft sie die Hypothesen, die jeder ernstzunehmende Soziologe in einem solchen Forschungsprojekt herangezogen hätte. Allein die erwünschten Korrelationen zwischen Hilfsbereitschaft auf der einen und den verschiedenen Faktoren wie soziale Schicht, Bildungsstand, Konfessions- und Parteizugehörigkeit auf der anderen Seite lassen sich nicht nachweisen. Tecs Fazit fällt anders aus, als sie selbst – und der soziologisch beschlagene Leser – es erwartet hatte: »Die Retter empfanden ihr eigenes Verhalten als selbstverständlich – sie wandten sich spontan gegen die Schrecken ihrer Zeit.«7 Anders ausgedrückt: Diese Menschen bewiesen Hilfsbereitschaft, weil es in ihrer Natur lag. Daß sie keiner bestimmten Bevölkerungsgruppe und -schicht zuzuordnen waren, bedeutete einen herben Schlag für das Konzept einer »sozialen Determinanz« moralischen Verhaltens. Wenn überhaupt, so wirkten derartige Determinanten nur indirekt, indem sie nämlich nicht stark genug waren, den »Helferinstinkt« zu neutralisieren. Im Gegensatz zu vielen ihrer Fachkollegen kommt Tec der eigentlichen soziologischen Fragestellung nahe: diese nämlich lautet nicht »Wie können wir Soziologen den Holocaust erklären«, sondern »Welche Konsequenzen hat der Holocaust für unser Fach und unsere Methoden«.

Daß diese Frage ungestellt blieb, zeigt, welche sträflichen Versäumnisse in der soziologischen Aufarbeitung des Holocaust immer noch gemacht werden. Die Schlußfolgerungen daraus müssen jedoch genau bedacht sein. Die Bankrotterklärung der etablierten Soziologie zu diesem Thema führt allzu leicht zu Überreaktionen. Wer die Hoffnung aufgegeben hat, den Holocaust in den theoretischen Rahmen eines Scheiterns der Moderne an ihrem selbstgestellten Programm (dazu gehören: Unterdrückung der ewig fremdartigen Momente des Irrationalen, Zähmung der emotional-aggressiven Triebe durch den Zivilisationsprozeß, moralische Bildung durch Sozialisation) zu subsumieren, wählt nur zu gern einen »natürlichen« Ausweg aus dem Dilemma: der Holocaust als »Paradigma« der modernen Zivilisation, im Range eines »natürlichen«, »normalen«, wenn nicht gar alltäglichen Produktes und einer »historischen Tendenz«. Derart wird der Holocaust in den Status einer Wahrheit der Moderne erhoben, anstatt erkannt zu werden als eine der Moderne inhärente Möglichkeit – wobei diese Wahrheit von den ideologischen Phrasen derjenigen, die von der »großen Lüge« zu profitieren hoffen, nur unvollkommen verschleiert werden kann. Auf geradezu perverse Weise führt dieses Denken (von dem im vierten Kapitel noch zu reden sein wird) dazu, daß der Holocaust, dessen historische Bedeutung und theoretische Relevanz man zu betonen meint, im Gegenteil gerade relativiert wird. Mit anderen Worten: Die Schrecken des Holocaust werden tatsächlich identisch mit jenen Leiden, die die moderne Gesellschaft ohne Zweifel tagtäglich im Überfluß verursacht.

Der Holocaust als Test der Moderne

Vor einigen Jahren interviewte ein Journalist von Le Monde ehemalige Geiselopfer. Einer seiner bemerkenswertesten Befunde war eine besonders hohe Scheidungsrate unter Ehepaaren, die eine Geiselnahme gemeinsam als Opfer durchlitten hatten. Irritiert befragte der Journalist die Beteiligten nach den Gründen für ihren Schritt. Nur in wenigen Fällen war die Scheidung bereits vor der Geiselnahme in Erwägung gezogen worden.

Die Befragten beschrieben ihre Erfahrungen unter den alptraumhaften Bedingungen der Geiselnahme jedoch als »augenöffnend«, weil sie den Partner in einem »gänzlich neuen Licht« erlebt hatten. Brave Ehemänner »entpuppten« sich als selbstsüchtige Individuen, die nur die eigene Haut retten wollten; dynamische Geschäftsleute wurden zu erbärmlichen Feiglingen; souveräne »Männer von Welt« verfielen der Lethargie und bejammerten ihr nahes Ende. Der Journalist stieß auf eine heikle Frage: Welche Inkarnation dieser im Sinne des Wortes janusköpfigen Individuen sollte man das »wahre Gesicht« und welches die Maske nennen? Er erkannte, daß die Fragestellung falsch war. Keine Ausprägung war »wahrer« als die andere. Als Möglichkeiten schon immer im Charakter des einzelnen enthalten, zeigten sie sich nur zu unterschiedlicher Zeit und unter andersartigen Umständen. Das »gute« Gesicht schien nur deshalb normal zu sein, da es durch normale Umstände begünstigt wurde. Dennoch war auch die dunkle Seite immer präsent, wenn auch unter der Oberfläche. Der faszinierendste Aspekt dieser Recherchen ist, daß das »andere Gesicht« ohne die Geiselnahme vermutlich für alle Zeit verborgen geblieben wäre. Die Partner hätten ihr Eheglück weiter genießen können, ohne sich der unangenehmen Eigenschaften dessen, den sie zu kennen meinten, je bewußt zu werden. Erst unerwartete und außergewöhnliche Umstände waren imstande, diese ans Licht zu bringen.

Die oben zitierte Stelle aus der Studie von Nechama Tec endet mit folgender Beobachtung: »Ohne den Holocaust hätten die meisten dieser Helfer ihren Lebensweg relativ ungestört fortgesetzt, vielleicht mit sozialem Engagement, jedoch im allgemeinen ein unauffälliges Leben führend. Wir hätten es mit verkappten Helden zu tun gehabt, die von ihren Mitmenschen nicht zu unterscheiden gewesen wären.« Eine der wichtigsten (und überzeugendsten) Schlußfolgerungen ihrer Untersuchung: Es sei unmöglich, Anzeichen, Symptome oder Indikatoren für individuelle Hilfs- und Opferbereitschaft, oder auch Feigheit, angesichts einer Gefahr zu »isolieren«; mithin unmöglich, auch die Wahrscheinlichkeit solcher Manifestationen unabhängig vom »auslösenden« Kontext statistisch zu ermitteln.

John R. Roth hat diesen Gedanken einer Opposition von Potentialität und Realität (zusammenhängenden Modi, von denen nur der eine manifest, d. h. empirisch faßbar wird) in direkten Zusammenhang mit unserem Thema gebracht:

Hätte das Nazi-Regime obsiegt, wäre kraft seiner Autorität befunden worden, im Holocaust seien keine fundamentalen/natürlichen Gesetze mißachtet und kein Verbrechen gegen Gott und die Menschlichkeit begangen worden. Früher oder später hätte vermutlich das Zwangsarbeitssystem zur Disposition gestanden, wobei man die Entscheidung sicherlich nach rationalen Kriterien getroffen hätte.

Insgeheim wird die kollektive Erinnerung an den Holocaust (und geradezu ursächlich auch die Furcht vor der Konfrontation mit dessen historischer Realität) von der Horrorvision und dem nagenden Verdacht überlagert, der Holocaust sei vielleicht gar keine Verirrung vom geraden Weg des Fortschritts, kein Krebsgeschwür am gesunden Organismus der zivilisierten Gesellschaft. Wenn nun der Holocaust gar nicht die Antithese zur modernen Zivilisation (und all dessen, was wir damit verbinden) wäre? Der uneingestandene Verdacht lautet, der Holocaust könne ein verborgenes Antlitz derselben modernen Gesellschaft zutage gefördert haben, deren Erscheinungsbild uns so vertraut ist. Als hätten wir es mit zwei Gesichtern eines einzigen Organismus zu tun. Keine Vorstellung ist unerträglicher als die, daß keins der beiden ohne das andere existiere: wie die zwei Gesichter einer Münze.

Viele wagen nicht den letzten Schritt bis zu dieser schrecklichen Wahrheit. Henry Feingold z. B. besteht darauf, der Holocaust sei ein Bruch in der langen und insgesamt makellosen Entwicklungsgeschichte der modernen Gesellschaft. Der Schritt dorthin sei ebensowenig vorhersehbar gewesen wie etwa der gefährliche neue Stamm eines bezwungen geglaubten Virus.

Die »Endlösung« bezeichnet die Bruchstelle innerhalb der industriellen Entwicklung Europas, die, statt in ein besseres Leben – ursprünglich das Ziel der Aufklärung – in Selbstvernichtung mündete. Es war dasselbe industrielle System und Ethos, das Europa ursprünglich die Vorherrschaft in der Welt gebracht hatte.

Hier wird postuliert, das Rüstzeug für die Weltherrschaft sei qualitativ verschieden von den instrumentalen Voraussetzungen einer funktionierenden »Endlösung«. Und doch verkennt Feingold die Tatsachen nicht:

[Auschwitz] war auch eine sachlich-nüchterne Ausweitung des modernen Fabriksystems. Statt Güter zu produzieren, wurden hier aus dem Rohstoff Mensch Leichen produziert, die man in Einheiten pro Tag säuberlich in Schaubildern festhalten konnte. Die Schornsteine, Inbegriff der Fabrikproduktion, stießen den beißenden, für Verbrennung von Leichen typischen Rauch aus. Über das weitverzweigte europäische Eisenbahnnetz wurde der neuartige Rohstoff herangeschafft wie normales Frachtgut. In den Gaskammern starben die Opfer im Blausäuregas der weltweit führenden deutschen Chemieindustrie. Ingenieure entwarfen die Krematorien; die Bürokratie arbeitete mit einem Elan und einer Effizienz, um die rückständige Länder sie hätten beneiden können. Und selbst das Projekt insgesamt wurde bestimmt von modernem, wenn auch fehlgeleitetem wissenschaftlichen Geist. Das Ganze war im Grunde ein monströser Entwurf sozialen ›Engineerings‹ …9.

Die Wahrheit ist, daß die einzelnen »Elemente« des Holocaust – die ihn in ihrer Summe erst möglich machten – durchaus normal waren – »normal« nicht im Sinne vertrauter, gründlich beschriebener und klassifizierter Phänomene (dazu war die Erfahrung des Holocaust zu neu), sondern weil diese sich dem Begriff der Zivilisation und ihrer Zielvorstellungen, Prioritäten und inhärenten Visionen unterordneten – allen voran dem Streben nach menschlichem Glück und der perfekten Gesellschaft. Stillman und Pfaff schreiben dazu:

Es besteht ein gewiß nicht zufälliger Zusammenhang zwischen der angewandten Technologie der industriellen Massenproduktion, die auf schier unerschöpfliche Ressourcen gestützt ist, und der Tötungsmaschinerie des Konzentrationslagers und dem hemmungslosen Umgang mit dem Leben. Man mag jeden Zusammenhang bestreiten, aber Buchenwald gehört zur westlichen Zivilisation wie »River Rouge« in Detroit – wir dürfen Buchenwald nicht als Verirrung einer sonst heilen industriellen Welt hinstellen.10

Erinnern wir uns an die Schlußfolgerung, zu der Raul Hilberg in seiner unübertroffenen, vorbildhaften Studie zum Holocaust gelangt ist: »Die Vernichtungsmaschinerie unterschied sich grundsätzlich nicht von der gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands insgesamt. Die Vernichtungsmaschine war eine spezifische Ausprägung dieser Ordnung.«11

Richard L. Rubenstein formuliert die meiner Ansicht nach fundamentale Lehre aus dem Holocaust: »Er trägt die Signatur des zivilisatorischen Fortschritts.« Ein janusköpfiger Fortschritt, wie man hinzufügen sollte: In der Endlösung haben das industrielle Potential und das technologische Know-how, dessen sich unsere Zivilisation brüstet, eine Aufgabe nie dagewesener Größenordnung gefunden und diese gemeistert. Und in der Endlösung offenbarte die moderne Gesellschaft erstmalig, welcher Taten sie fähig ist. Nachdem technische Effizienz und perfekte Planung zum Maß aller Dinge erhoben worden sind, müssen wir nun einsehen, daß wir über dem Lobpreis materiellen Fortschritts, den wir der Zivilisation verdanken, dieses wahre Potential sträflich unterschätzt haben.

Die Welt der Konzentrationslager und der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, enthüllt eine eskalierende dunkle Seite der jüdisch-christlichen Zivilisation. Zivilisation bedeutet Sklaverei, Krieg, Ausbeutung und Todeslager. Zivilisation bedeutet aber auch Heilkunst, religöses Ethos, Kunst und Musik. Man hüte sich, Zivilisation und barbarische Grausamkeit als Antithese zu denken … In unserer Zeit wird Grausamkeit, wie fast alle anderen Aspekte des Lebens, nur wesentlich effizienter verwaltet als je zuvor. Grausamkeit ist nicht verschwunden und wird nie verschwinden. Kreativität und Destruktivität sind untrennbare Aspekte dessen, was wir Zivilisation nennen.12

Hilberg ist Historiker, Rubenstein Theologe. Wo sind die soziologischen Studien, in denen ein vergleichbares Problembewußtsein anklingt, in denen der Holocaust als eine Herausforderung für das Selbstverständnis und die Forschungsarbeit der Soziologen begriffen wird? Gemessen am Maßstab der Untersuchungen von Historikern und Theologen wirkt der Beitrag der Soziologie überwiegend wie ein Akt kollektiven Vergessens und Verdrängens.

Im großen und ganzen gesehen hat die Lektion des Holocaust kaum Spuren in der soziologischen Lehrmeinung hinterlassen. Deren bekannte Axiome postulieren die heilsame Vorherrschaft der Vernunft über die Emotionen; die Überlegenheit des Rationalen über irrationales Handeln (als verstünde es sich von selbst); oder sie konstatieren den unvermeidlichen Konflikt zwischen Zweckrationalismus und den moralischen Anforderungen, die eine problembelastete Domäne »persönlicher Beziehungen« sind.

Mir sind nicht viele offizielle Anlässe bekannt, bei denen sich Soziologen in ihrer Eigenschaft als Soziologen mit dem Faktum Holocaust auseinandersetzten. Eine dieser (wenn auch recht kleinen) Veranstaltungen war das Symposium »Western Society after the Holocaust« des »Institute for the Study of Contemporary Social Problems« 1978.13 Bei diesem Symposium unternahm Richard L. Rubenstein den phantasievollen, vielleicht überemotionalen Versuch einer Neuinterpretation der wesentlichen Weberschen Befunde über die Tendenzen der modernen Gesellschaft, und zwar vor dem Hintergrund der Holocaust-Erfahrung. Rubenstein fragte, ob die uns bekannten Tatsachen mit dem theoretischen Instrumentarium Max Webers (von diesem selbst oder seinen Rezipienten) hätten vorausgesehen werden können. Rubenstein meinte diese Frage bejahen zu können, zumindest suggerieren dies seine Thesen: innerhalb der Weberschen Begrifflichkeit von moderner Bürokratie, rationalem Geist, wissenschaftlicher Mentalität, Auslagerung von Werten in den Bereich der Subjektivität sei kein einziger Mechanismus isoliert worden, der nicht auch die Möglichkeit zu Nazigreueln in sich trüge; und mehr noch: aus der von Weber vorgeschlagenen Idealtypik heraus seien die Taten der Nationalsozialisten nicht notwendigerweise als Greuel zu bezeichnen. Beispiel: »Kein von deutschen Medizinern oder Technokraten verübtes Verbrechen steht im Widerspruch zu der Auffassung, daß moralische Werte an sich subjektiv und die Wissenschaft rein instrumenteller Natur und wertfrei sei.« Guenther Roth, bedeutender Weberianer und zurecht anerkannter Soziologe, reagierte mit unverhohlenem Mißfallen: »Ich stimme mit Professor Rubenstein absolut nicht überein. Seine Darlegungen enthalten keinen einzigen Satz, den ich unwidersprochen lassen würde.« Erbost vermutlich über diesen vermeintlichen Angriff auf das Webersche Vermächtnis (provoziert durch die Frage nach der Vorhersehbarkeit) erinnerte Guenther Roth die Versammelten daran, daß Max Weber ein Liberaler gewesen sei, der die Verfassung geliebt und das Wahlrecht für Arbeiter befürwortet habe (wohl um auf diese Weise die Nennung Webers in Zusammenhang mit einer so abscheulichen Angelegenheit wie dem Holocaust ad absurdum zu führen). Roth unterließ es indes, sich inhaltlich mit der These Rubensteins auseinanderzusetzen, und begab sich damit zugleich der Möglichkeit, die »unvorhersehbaren Folgen« jener zunehmenden Herrschaft der Rationalität einer strengen Analyse zu unterziehen, die Weber als wichtigstes Merkmal der Moderne identifiziert und für deren Analyse gerade er so viel geleistet hatte. So verstrich eine Chance ungenutzt, sich mit der furchtbaren »Kehrseite« der scharfsichtigen Theoreme eines Klassikers der Soziologie zu befassen; dabei brauchen wir die Reflexion darüber, ob nicht gerade unser schmerzvolles Wissen vom Holocaust, das wir den Gründervätern der Soziologie natürlich voraushaben, neue Einblicke in früher allenfalls zu erahnende Zusammenhänge und Konsequenzen erlaubt.

Man darf erwarten, daß Guenther Roth unter Soziologen nicht allein dasteht, wenn es darum geht, geheiligte Wahrheiten der Soziologie angesichts erdrückender Fakten zu verteidigen. Die meisten Soziologen werden jedoch kaum je so aus der Reserve gelockt.

Man kann sich in unserem beruflichen Alltag recht gut ohne die Herausforderung Holocaust einrichten. Der soziologische Berufsstand hat den Holocaust nahezu vergessen oder an »Spezialgebiete« delegiert, von wo aus kein Einbrechen in die laufende wissenschaftliche Diskussion droht. Wenn der Holocaust überhaupt soziologisch untersucht wird, gilt er als tragisches Exempel für das, was ungezähmte, angeborene Aggression des Menschen anzurichten vermag. Man verlangt daher, dieses Potential durch Steigerung des Zivilisationsdruckes zu bändigen, und mahnt unermüdlich fachmännische Problemlösungen an. Bisweilen wird der Holocaust gar als Einzelschicksal der Juden, als Konflikt zwischen Juden und Judenhassern abgehandelt (»Fürsprecher« des Staates Israel haben diese Tendenz zur »Privatisierung« häufig gefördert, nicht immer aus eschatologischen Gründen).14

Dieser Stand der Dinge ist nicht nur, und keinesfalls in erster Linie, beunruhigend aus fachlicher Sicht – wenngleich hier natürlich der Intelligenz und gesellschaftlichen Relevanz der Soziologie beträchtlicher Schaden droht. Viel schwerer wiegt eine andere Dimension des Holocaust: »Was in einem solchen Maßstab passieren konnte, kann überall wieder passieren. Es liegt im Bereich menschlicher Möglichkeiten – Auschwitz, ob wir es wollen oder nicht, hat das menschliche Bewußtsein um einen ebenso entscheidenden Schritt erweitert wie die Landung auf dem Mond.«15 Eine entsetzenerregende Vorstellung, da die gesellschaftlichen Bedingungen für Auschwitz eigentlich nicht verschwunden sind. Keine wirksamen Schritte wurden unternommen, die potentiell und prinzipiell mögliche Wiederholung einer Auschwitz-artigen Katastrophe zu verhindern. Leo Kuper schrieb erst kürzlich, daß »souveräne Nationalstaaten ihren Hoheitsanspruch, wenn sie wollen, auf die Verübung von Genozid, Massakern an bestimmten Volksgruppen und ihrem Staatsvolk ausdehnen können …, wobei die UNO dieses Recht sogar noch verteidigt.«16

Wenn uns der Holocaust posthum doch wenigstens diesen Dienst erweisen könnte: einen Einblick in die sonst ignorierten »andersartigen Aspekte« jener gesellschaftlichen Prinzipien zu geben, die in die Entwicklung der Moderne eingebettet sind. Meiner Ansicht nach sollte der Holocaust, inzwischen zum Gegenstand ernsthafter historischer Forschung aufgerückt, als gewissermaßen soziologischer »Versuchsaufbau« aufgefaßt werden: Er hat Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, die sich unter »nicht-experimentellen« Bedingungen nicht hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen, um den Holocaust als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten.

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9783863935733
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