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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
GEBOREN 2012
Warum wir das Unmögliche wagen Alexander Geseke wurde im Februar geboren. Was wird er in 20 Jahren essen, wie in 40 Jahren leben? ZEIT ONLINE wirft in der Themenwoche Geboren 2012 den Blick nach vorn.
"Dass wir es schaffen, eine Familie zu sein" Trotz bevorstehender Geburt sind die Gesekes gelassen: Alexander ist ihr zweites Kind. Grundpositiv sehen sie seine Zukunft.
Alexanders Zukunft beginnt mit 3.690 Gramm Zur Welt kommen: Familie Geseke erwartet in der Klinik ihr zweites Kind. Doch Alexander lässt sich Zeit, sein Weg ins Leben ist ein Drama – wie jede Geburt.
LERNEN 2022
Hausaufgaben sind archaischer Unsinn Statt "Buch vergessen" heißt es jetzt "Akku leer". Rechnen, schreiben und lesen lernen Kinder trotzdem. Aber wie? K. Polke-Majewski berichtet aus der Zukunft.
Wer kluge Eltern hat, steigt auf Der Bildungsforscher Heinz-Elmar Tenorth prognostiziert Mittelschichtskindern eine leuchtende Zukunft. Migranten aber drohe leicht der Absturz, sagt er im Interview.
Zukunftswunsch mehr Zeit Wenn Lehrer sagen sollen, wie sie in 30 Jahren unterrichten werden, haben sie viele gute Ideen. Doch was lässt sich umsetzen? Drei Protokolle aus der Praxis.
2040 fließt Wissen frei durchs Netz Der Buchdruck ist bald Geschichte. Das Wissen wird künftig keine Grenzen mehr kennen, schreibt Medienwissenschaftler Jeff Jarvis in einem Brief an ein Kind der Zukunft.
POLITIK 2030
Scheitert die Energiewende an einer Eiche? Alexander wird politisch, die Stromtrasse soll unterirdisch liegen. Die Bürger sind zwar mächtig, aber Brüssel ist mächtiger. Ein Bericht aus der Zukunft.
"Stabilität und Wandel gehören zusammen" Demokratie kann sich nur entfalten, wenn die staatlichen Institutionen stabil sind, sagt der Zukunftsforscher und Politologe Philipp Genschel.
Wer regiert uns morgen? Starke Bürger, wankende Parteien, ostdeutsche Experimente: Wie funktioniert das politische Geschäft der Zukunft? Vier Politiker wagen den Blick voraus.
ESSEN 2032
Da sagt der Kühlschrank etwas anderes Der Bio-Mais kommt aus Rumänien und Quengelware ist verboten. Wie werden wir künftig einkaufen und essen? Ein Bericht aus der Zukunft.
"Bio ist ein Vertrauensanker" In zwanzig Jahren werden viele Menschen fast nur noch auswärts essen, prognostiziert der Agrarwissenschaftler Achim Spiller.
KOMMUNIKATION 2037
Ein Holo für den Hemdenschneider Hologramme in der Stadt, Computer am Handgelenk: Im Jahr 2037 ist Kommunikation noch leichter, schwereloser geworden. Ein Bericht aus der Zukunft.
"Das Recht auf freie Meinungsäußerung war in Gefahr" Der Science-Fiction-Schriftsteller Daniel Suarez schreibt einen Brief an den Netzbürger Alexander im Jahr 2037 – und hofft auf ein demokratisches Internet.
ARBEIT 2042
Gleitzeit für immer Kein fester Job, virtuelle Konferenzen im Arbeitszimmer: Die Grenze zwischen Privatem und Beruf ist für Alexander verschwunden. Ein Bericht aus dem Jahr 2042.
"Dem Kleinindustriellen gehört die Zukunft" Der Zukunftsforscher Holger Becker träumt im Interview von einer Renaissance des Unternehmertums – und von schwindenden Grenzen zwischen Arbeit und Kapital.
WOHNEN 2047
Tomaten aus dem Parkhaus Wie werden wir wohnen? Einsam auf dem Land, im Loft in der Innenstadt oder ohne Auto, aber mit Gemüsebeet am Bordstein? Ein Bericht aus dem Jahr 2047.
Zu viel Beton vertreibt die Menschen Europas Städte haben eine große Zukunft, schreibt der Stadtsoziologe Armin Hentschel im Gastbeitrag. Doch sie wird anders ausfallen, als die Planer erwarten.
"Unsere Fehler sind Eure Herausforderungen" Der Kampf gegen Armut, für globale Fairness und nachhaltiges Leben hat gerade erst begonnen. Hunter Lovins, Trägerin des Alternativen Nobelpreises, blickt in die Zukunft.
LIEBE 2048
Und ewig lockt das Netzwerk Im Jahr 2048 ist die Liebe tolerant und pragmatisch. Kompliziert bleibt das Leben trotzdem. Ein Bericht aus der Zukunft.
IM KRANKENHAUS 2050
Alexander wird durchsichtig Dank moderner Diagnostik, digitalen Krankendaten und elektronischer Helfer sind Unfallopfer 2050 besser versorgt als je zuvor.
ELTERN WERDEN 2052
Was ist ein Baby? In 40 Jahren werden Eltern vor der Geburt über Aussehen und Gesundheit ihrer Babys entscheiden. Schwangerschaften werden selten sein, Kinder rar.
LESERREAKTIONEN
In Astronautenkleidung an der Gesamtschule andocken 3D-Drucker und vernetzte Kühlschränke werden Normalität, Hologramme ersetzen den Schulatlas und die Hälfte der Bevölkerung ist in Rente. Zukunftsprognosen unserer Leser.
Oma muss 2037 im Wohnzimmer schlafen Kleine Wohnung, kranke Kinder, keine Jobs: Leserin Heike Nürnberg zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft. Doch gegen die Alzheimer-Krankheit gibt es wirksame Medikamente.
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Impressum
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Vorwort
Geboren 2012
Wenig fasziniert Menschen so sehr wie die Zukunft. Wie werden wir morgen leben? Wie werden sich unsere Umwelt und unsere Gesellschaft verändern? ZEIT ONLINE wagt den Blick voraus. In den 24 Artikeln dieses E-Books fragen wir: Was für ein Leben wird ein Mensch haben, wenn er 2012 geboren wird? Wie wird er lernen, essen, kommunizieren, arbeiten, wie wohnen, lieben, krank werden, regiert werden? Wie wird es schließlich sein, wenn er selbst Kinder bekommt?
Die Antworten, die diese Serie gibt, sind keine allgemeinen. Denn Alexander Geseke, der Held der einzelnen Geschichten, wurde tatsächlich am 3. Februar in Hamburg geboren. Ein echter Mensch also, am Anfang seines Lebens. Geboren 2012 erzählt, was Alexander in seinem Leben begegnen könnte. Allerdings: Alexander ist nicht der richtige Name der Hauptperson, auch die Namen seiner Eltern wurden geändert.
Karsten Polke-Majewski Stellv. Chefredakteur von ZEIT ONLINE
Hier finden Sie eine Übersicht aller E-Books von ZEIT ONLINE www.zeit.de/ebooks.
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Zukunftsforschung
Warum wir das Unmögliche wagen
Alexander Geseke wurde im Februar geboren. Was wird er in 20 Jahren essen, wie in 40 Jahren leben? ZEIT ONLINE wirft in der Themenwoche Geboren 2012 den Blick nach vorn.
VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI
Drei Anrufe: "Wie werden wir in vierzig Jahren leben?"
"Das kann ich Ihnen sagen", antwortet der Stadtplaner. "Was genau wollen Sie wissen?"
"Einige Ideen haben wir da schon", sagt der Bildungsforscher. "Obwohl es ja immer schwierig ist, in die Zukunft zu schauen."
"Wie soll ich das wissen? Ich weiß ja noch nicht einmal, was in drei Monaten sein wird", stöhnt der Politiker.
Die Zukunft ist eine schwierige Angelegenheit. Je weiter wir vorausschauen, desto leichter verlieren wir uns in mehr oder weniger begründbaren Wahrscheinlichkeiten. Sie speisen sich aus den großen Trends unserer Zeit: Klima- und demografischer Wandel, Energiekrise, Globalisierung und Kapitalismuskritik. Was davon wird Wirklichkeit, was wird sich als Trugbild erweisen? "Nichts", schrieb Elisabeth von Thadden in der ZEIT, "scheint gegenwärtig gewisser zu sein als eine umfassende Ungewissheit, was werden soll."
Sollten wir uns also lieber gar nicht mit dem Kommenden beschäftigen, wo die Gegenwart schon Mühen genug zu bieten hat? Ganz und gar nicht. Denn die Zukunft ist weit mehr als trüber Nebel am Morgen. Sie ist der Hort unserer Hoffnungen.
Seit die westliche Zivilisation ihre Fortschrittsidee entwickelte, ist das Morgen zum Ziel alles Heutigen geworden. Zugleich betrachtet, wer auf das Zukünftige blickt, immer das Gestern und Heute, sein Entstehen, seine Chancen, auch seine Gefahren und Missverständnisse. Denn wenn wir eine Welt beschreiben, die es noch nicht gibt, können wir sie uns nicht anders vorstellen als in der Kategorie dessen, was schon ist.
Zukunft als Mode
Ein Beispiel: In den gesellschaftsutopischen Entwürfen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, von Aldous Huxleys Schöne neue Welt bis zu George Orwells 1984 , schloss sich die Zukunft unmittelbar an die autoritär geprägten politischen Erfahrungen der damaligen Gegenwart an. Technischer und politischer Fortschritt, so schien es, mussten sich totalitär verbinden, Technik würde zwangsläufig zum Mittel der Repression werden.
Unsere heutige Erfahrung lehrt dagegen, dass das so sein kann, wenn beispielsweise im Iran oder in China gewaltige Überwachungsapparate aufgebaut werden. Gleichzeitig wissen wir aber, dass die modernen Kommunikationstechniken demokratische Umbrüche, sogar Revolutionen beflügeln können, wie wir sie im arabischen Frühling erlebten. Huxleys und Orwells Entwürfe bleiben also mögliche Szenarien – unter anderen.
Richtig in Mode kam die Zukunft in den fünfziger und sechziger Jahren. Forscher unterschiedlichster Disziplinen prognostizierten damals mit größter Gewissheit, was die kommenden Jahre bringen würden. Viele ihrer Ideen erscheinen uns heute naiv: fliegende Autos, atomar betriebene Meerwasserentsalzungsanlagen, perfekte Übersetzungsroboter, die menschliche Besiedelung des Mars. Wunderbarer Unsinn, der die Phantasie anregt, aber eben auch belegt, was alle schon wussten: Der Haken an der Zukunft bleibt, dass wir sie nicht kennen.
Unter dieser populären Oberfläche wurden gleichwohl richtige Gedanken entwickelt. Robert Jungk, der erste so benannte Zukunftsforscher, formulierte als Arbeitshypothese: "Ich sehe voraus, dass ich vieles unrichtig oder gar nicht werde vorausgesehen haben." Womit er seine Arbeit nicht ad absurdum führen wollte, sondern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der wissenschaftliche Blick in die Zukunft nicht von vermeintlichen Gewissheiten, sondern von Fragen geprägt sein sollte. Seither suchen Futurologen nicht mehr zu behaupten, was kommt, sondern sie wollen Möglichkeiten entwerfen, was alles sein könnte und mit welcher Wahrscheinlichkeit.
Auf die technikbegeisterten Propheten folgten in den siebziger Jahren die Warner des Club of Rome : Die Überbevölkerung bedrohe die Erde, fossile Energieträger gingen zu Ende, die Umwelt werde unwiederbringlich zerstört, das Ende des Wachstums werde innerhalb von hundert Jahren erreicht sein, der Planet steuere auf einen Kollaps zu.
Auch diese Untergangsszenarien haben sich bislang nicht bewahrheitet, wiewohl Demografie und Klimawandel aller Voraussicht nach die wichtigsten Themen unserer Zeit bleiben werden. Ebenso beschäftigt uns angesichts der anhaltenden Finanz- und Schuldenkrise so intensiv wie selten, wie viel und welche Art Wachstum unsere kapitalistische Lebensweise braucht, und wie viel der Planet ertragen kann.
Was also lässt sich aus fast einem Jahrhundert Zukunftsforschung lernen? Dass jede Prognose eine Aufforderung an uns enthält, uns zu entscheiden. Wie wollen wir leben: Im Einklang mit der Natur, in friedlichem demokratischen Miteinander, ohne Angst vor Fremden, in ökonomischer Sicherheit, mit einer guten Balance zwischen Arbeit und Freizeit, Familie und persönlicher Unabhängigkeit? Oder doch ganz anders?
Jede dieser Fragen ist gleichzeitig auf die Gegenwart und auf die Zukunft gerichtet. Rolf Kreibich vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin beschreibt das so: "Vor allem die durch die modernen Naturwissenschaften ausgelösten technischen Innovationen bewirken in immer kürzeren Zeitintervallen grundlegende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen." Der Mensch fühle sich selbst als Gestalter. "Das Morgen wird immer weniger als Schicksal begriffen, sondern erscheint bestimmbar und gestaltbar, somit bestimmt auch die Zukunft immer mehr und immer schneller das Denken und Handeln in der Gegenwart."
Große Veränderungen vollziehen sich langsam
Gelernt haben wir auch, dass die Zukunft keine völlig neuen Menschen aus uns macht. Unsere grundsätzlichen Fragen werden sich nicht wesentlich ändern. Was sich wandelt, sind die Rahmenbedingungen, ist die Art und Weise, wie wir auf diese Fragen antworten.
Einige äußere Faktoren, die uns in Zukunft stark beeinflussen werden, scheinen absehbar. Neben den schon genannten großen Trends werden das wohl die Weiterentwicklung der digitalen Technik sowie der Bio- und Umwelttechnologien sein. Alle diese Faktoren lassen aber keine plötzlichen Umstürze erwarten. Der Geograf und Zukunftsforscher Laurence C. Smith schrieb im vergangenen Jahr: "Große Veränderungen lassen die Sache gemächlich angehen und machen keinen großen Lärm dabei."
Wie also werden wir in vierzig Jahren leben? ZEIT ONLINE will sich dieser Frage mit einem Gedankenexperiment nähern. In einer Serie stellen wir zehn Fragen an die Zukunft. Und wir beantworten sie ganz subjektiv am Beispiel eines einzigen Menschen.
Am 3. Februar 2012 wurde Alexander Geseke in Hamburg geboren. Was wird aus seinem Leben? Wie wurde er geboren, wie wird er lernen, essen, kommunizieren, arbeiten, wohnen, lieben, krank werden, regiert werden? Wie wird es schließlich sein, wenn er selbst Kinder bekommt? Zehn Reportagen aus einer erdachten Zukunft werden Alexanders Lebenslauf folgen und auf diese Fragen Antworten geben, getragen vom aktuellen Stand der Forschung.
Warum Alexander und niemand anderes? Weil seine Zukunft in diesem Jahr beginnt. Weil die Welt begreifbarer wird, wenn wir sie uns an einem Individuum erschließen. Weil dieser eine Mensch als Folie dafür dienen kann, wie es auch anderen ergehen könnte – oder eben gerade nicht.
Damit unser Experiment funktioniert, ist noch eine wichtige Grundannahme nötig: Wir entwerfen keine Zukunft, die auf völlig unerwarteten Ereignissen basiert. Es werden also keine sogenannten Schwarze Schwäne vorkommen, keine neuen Weltkriege, keine Meteroriteneinschläge oder unheilbare Seuchen, die den Lauf der Welt grundlegend verändern. Allerdings soll das Gedankenexperiment Spaß machen. Die Autoren werden ihrer Fantasie freien Lauf lassen – in den beschriebenen Grenzen.
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"Dass wir es schaffen, eine Familie zu sein"
Trotz bevorstehender Geburt sind die Gesekes gelassen: Alexander ist ihr zweites Kind. Grundpositiv sehen sie seine Zukunft.
VON SVEN STOCKRAHM
Welche Gedanken machen sich Eltern, wenn sie ein Kind erwarten? Jens und Nikoletta Geseke* haben am 3. Februar 2012 das zweite Mal Nachwuchs bekommen. Ihre zweieinhalbjährige Tochter Kyra hat nun einen Bruder – Alexander.
Warum gerade Familie Geseke? Ihr Sohn Alexander ist die Hauptfigur der ZEIT ONLINE-Serie Geboren 2012, mit ihm beginnt eine fiktive Reise in die Zukunft. Wie wird er lernen und lieben, wie künftig wohnen und kommunizieren? All unsere Antworten gründet auf dem Wissen, das Zukunftsforscher für ihre Prognosen heranziehen.
Alexander ist rein zufällig Held dieser Serie geworden. Seine Eltern stehen für viele Paare, die heute Kinder bekommen. Jens und Nikoletta Geseke kennen und lieben sich seit ihrer Schulzeit. Selbst Kinder zu haben war für die beiden immer selbstverständlich. Beide haben Geschwister, besonders Nikolettas Familie ist groß. Ihre Eltern kamen einst aus Griechenland nach Deutschland. Kyra und Alexander wachsen zweisprachig auf, besonders ihre Oma und ihre Mutter sprechen im Alltag oft Griechisch mit ihr.
Die Gesekes sind Anfang dreißig, Jens ist studierter Informatiker, Nikoletta angehende Ärztin der Gynäkologie. Die kleine Familie lebt im Hamburger Nordosten in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Und natürlich machen sie sich Gedanken über ihre Zukunft: Wie und wo wollen wir leben, was können wir uns leisten, was wird aus unseren Kindern?
*Namen von der Redaktion geändert
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Geboren werden 2012
Alexanders Zukunft beginnt mit 3.690 Gramm
Zur Welt kommen: Familie Geseke erwartet in der Klinik ihr zweites Kind. Doch Alexander lässt sich Zeit, sein Weg ins Leben ist ein Drama – wie jede Geburt.
VON SVEN STOCKRAHM
"Ein wenig ist es so, als warte man auf den ersten Schnee", sagt Jens Geseke* und blickt auf seine Frau. Nikoletta hat sich auf die breite, kniehohe und schaumstoffweiche Liege gesetzt. Ruhig atmend, dennoch angespannt, harrt die junge Frau aus. Dann lässt der Schmerz nach, während sich ihre Gebärmutter wieder entspannt. Die Gesekes sind seit fast fünf Stunden im Kreißsaal der Klinik im Hamburger Nordosten. Sie warten auf Alexander, ihr zweites Kind.
Der ungeborene Sohn hat es sich offenbar gemütlich gemacht. Es ist kurz vor 11 Uhr am Morgen, der Winter hält seit einer Woche die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. "Gestern war der Stichtag", sagt Nikoletta Geseke. Auch wenn die angehende Gynäkologin weiß, dass der errechnete Geburtstermin nicht entscheidet, wann die Wehen tatsächlich einsetzen. "Es wird jetzt aber Zeit", sagt sie und streichelt über ihren Bauch. Heute sei es soweit, "doch der Muttermund ist gerade erst drei bis vier Zentimeter geöffnet". Es kann also dauern, zehn Zentimeter müssten es schon sein, auch die Fruchtblase ist noch nicht geplatzt.
"Bei Kyra ging es viel schneller", erzählt Jens Geseke. Die zweieinhalbjährige Tochter der Gesekes ist bei ihnen zu Hause. Nikolettas griechische Mutter passt auf sie auf. Sie sei ganz aufgeregt gewesen, als sie aufwachte und Mama und Papa nicht da waren, hat die Oma am Telefon berichtet. "Aber als ihr klar war, dass wir im Krankenhaus sind und ihr Brüderchen kommt, hat sie sich ganz unbeeindruckt wieder schlafen gelegt", sagt Jens.
An Ausruhen ist für seine Frau nicht zu denken. Gerade hat die Ärztin sie noch einmal an den Kardiotokografen angeschlossen. Sensoren kleben an Nikoletta Gesekes Bauch, dunkle Kabel reichen bis zum zwei Meter entfernten Messgerät, das stetig Papier ausspuckt, bedruckt mit Alexanders Herzschlag und der Muskelkontraktion der Gebärmutter. Die Ausschläge, die eine Nadel mit Stiftkopf auf das Papier kritzelt, erinnern unweigerlich an die zackigen Spitzen, die auch Seismometer von rumorenden Erdplatten zeichnen. Zusammen mit ihrer Hebamme analysiert Nikoletta die Werte – auch ihre Kollegen auf der Station sind gespannt. "Es ist schon komisch, gleichzeitig Gebärende und Ärztin zu sein", sagt sie.
Zeit, ein wenig nachzuhelfen
Die Wehen kommen weiter unregelmäßig, Alex' Herz wummert bei 140 Schlägen in der Minute. Weiter warten. Jens legt sich zu seiner Frau auf die Liege. Fast schon heimelig ist es in diesem Kreißsaal. Tageslicht fällt von draußen durch die papierdünnen Stoffvorhänge und spiegelt sich auf dem gebohnerten Linoleumboden, der eingerahmt ist von orangefarbenen und karminroten Wänden. Kitschig, aber irgendwie auch beruhigend wirkt der Delfin, der auf dem Bild an der Wand aus dem Wasser springt. Darunter eine großzügige Geburtswanne – sie wird heute unbenutzt bleiben.
Um 14 Uhr hat Nikoletta schon mehrmals die ihr so bekannte Station der Klinik abmarschiert. Vorbei an den Säuglingsfotos, die am Eingang in einem Plastikvorhang stecken. Die Pauls, Theodors und Maries sind alle hier zur Welt gekommen, Nikoletta war selbst als Ärztin bei einigen der Geburten dabei. Rund 1.000 Kinder schreien sich auf dieser Station jedes Jahr ins Leben.
Gerade einmal fünf Zentimeter weit hat sich Nikolettas Muttermund nun geöffnet. Zeit, ein wenig nachzuhelfen. Die Ärztin sticht eine Kanüle in Nikolettas rechten Handrücken. Ein dünner Schlauch wird befestigt. Er reicht bis zu dem Plastikbeutel, der an einem Metallständer auf Rädern baumelt. Ein Tropf. Langsam dringt eine klare Flüssigkeit in Nikolettas Venen, darin das Hormon Oxytocin. Es regt die Gebärmuttermuskulatur an.
Gegen 16 Uhr beginnt die schmerzhafteste Stunde in Nikolettas Leben. Sie sitzt auf dem Kreißbett, verbunden mit Kardiotokograf und tropfendem Oxytocin. Die Hebamme öffnet die Fruchtblase. Nikolettas Schreie hallen durch die Geburtsstation. Jens hält die Hand seiner Frau, versucht sie zu beruhigen. Die Wehen werden unerträglich, Nikoletta verliert für Momente jegliche Kontrolle über ihren Körper. Das Atmen fällt schwer. Sie spürt, wie Alex' Kopf auf ihr Schambein drückt.
"Das Köpfchen ist noch immer über dem Beckeneingang", stöhnt Nikoletta. Sie kann nicht pressen. Wird der Stress für den Kleinen zu groß?
Ärztin und Hebamme entscheiden, Alexanders Blut zu untersuchen. Nach fünf Versuchen kratzt eine winzige Glaskapillare sein Köpfchen. Das angesaugte Blut hat einen ph-Wert von 7,3. Gerade noch im unkritischen Bereich. Sollte der Säuregehalt aber weiter steigen, werden Hebamme und Ärztin Alexander sofort auf die Welt holen – nebenan im OP.
Ein Schnitt trennt Alex von seiner Mutter
Weitere Minuten verstreichen. Nikoletta bäumt sich auf, stemmt sich auf die Knie und beugt sich über die Lehne des aufgestockten Kreißbetts. Ihre Kolleginnen flüstern. Allen Dreien kommt der gleiche Gedanke. "Ich will einen Kaiserschnitt", schreit Nikoletta. Noch zögern Hebamme und Ärztin, sie entscheiden, nicht Nikoletta. Die Wehen kommen nun alle zwei bis drei Minuten. Ab in den OP? Plötzlich kann Nikoletta pressen. Schweißnass überwindet sie die nächste halbe Stunde. Fest verkrampft sich ihre Hand in der ihres Mannes. "Wir schaffen das", sagt Jens.
Um 17 Minuten nach fünf rutscht Alexander in die Arme der Hebamme. Ein Schnitt trennt ihn von Mutter und Nabelschnur. Auf einen Schlag sind Nikolettas Schmerzen gewichen, die Stunden im Krankenhaus vergessen, die anstrengenden Monate der Schwangerschaft unbedeutend. Ihr kommen die Tränen, auch der Hebamme und der Ärztin glänzen die Augen – nicht jeden Tag holen sie den Nachwuchs einer Kollegin und Freundin ins Leben.
Jens atmet tief durch. Bei allen löst sich die Anspannung. Alexander brüllt kräftig, 52 Zentimeter misst er, 3.690 Gramm ist er schwer – geboren am 3. Februar 2012. Seine Zukunft hat begonnen.
*Namen von der Redaktion geändert
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