Читать книгу: «Soraja», страница 3

Шрифт:

Als er im Spätherbst auf der Steppe gesehen wurde, war er in Begleitung einer Frau. Die Überbringer der Freudenbotschaft berichteten der Großmutter, dass der Sohn eine Frau mitgebracht habe, die aber von so schwarzer Farbe sei wie die schwarzen Steine ihres Einzimmerhauses. Sie konnte aus Verwirrung ihren Sohn nicht einmal umarmen. Vater erzählte ihr, diese Frau sei nicht seine Frau, er habe sie bei seinem Chef kennengelernt, und weil der Tyrann diese Frau, die aufrichtig sei wie eine der Frauen des Propheten, so schlecht wie einen Teppich unter den Füßen behandelt habe, habe er sie kurzerhand mitgenommen.

Großmutter, umgeben von Schaulustigen, die so überrascht gewesen seien, als wären Sterne auf das Dorf heruntergefallen, weinte nur, sie konnte aber die Frau nicht zurückschicken. Der Winter sollte bald anbrechen, wohin nur mit dieser armen Frau?

Vom ersten Tag an nannte man sie «die Araberin», damals ein Rufname für dunkle Menschen. Als Großmutter aber später sah, dass ihr Sohn entschlossen war, diese Frau zu heiraten, gab sie ihr den Namen Shehnaz, die Zarte, der auch meiner Mutter offenbar gefiel, und sie ersetzte damit ihren griechischen Namen Elena. Dieser Name war ihr von einem Großgrundbesitzer auf Kreta gegeben worden, wo ihre Eltern als Sklaven gehalten worden waren, bevor sie dem türkischen Großgrundbesitzer in der Provinz verkauft wurden.

Shehnaz wurde im Dorf meines Vaters sehr schnell berühmt, nicht nur weil sie dunkel, groß und schlaksig war, sondern auch, weil sie in kurzer Zeit gut Kurdisch lernte, Muslimin wurde, zu beten begann, fleißiger als alle Dorffrauen, und eine ausgezeichnete Köchin war. Diese Kunst hatte sie schon als Kind bei ihrer Mutter gelernt. Ihre Schwiegermutter ließ Shehnaz jeden Tag ihre Haut mit Kamelmilch einreiben in der Hoffnung, ihre schwarze Schwiegertochter würde eine helle Haut bekommen.

Shehnaz fand Akzeptanz im Dorf und vor allem bei ihrer Schwiegermutter, als sie einen Sohn, mich, gebar. Shehnaz sei aber kurz danach jeden Tag dünner geworden, habe sich tapfer gezeigt und nie geklagt, dass sie Schmerzen habe, wurde mir erzählt. Vater habe sie einmal zum Arzt bringen wollen, sie habe sich aber geweigert, er könne ihr nicht helfen. Als ich fünf Jahre alt war und mit meinem Kollegen am Dorfplatz mit einem aus Stofffetzen selbst gebastelten Ball spielte, sah ich, dass ein Sarg von unserem Haus zum Friedhof getragen wurde, von vier Männern, die ich nie zuvor im Dorf gesehen hatte. Einer von ihnen war dunkel wie meine Mutter, er muss ihr Bruder gewesen sein, so wurde jedenfalls später im Dorf erzählt.

Minuten später kam die Schwester meines Vaters zu mir und brachte mich auf dem Traktoranhänger in ihr nahegelegenes Dorf, wo es im Gegensatz zu unserem Dorf einen Krämerladen gab und sie mir jeden Tag Lokum kaufte, das in unserem Dorf rar war. Später, als ich fünfzehn war, witzelte sie, dass ich gesagt habe, ich hätte meine Mutter gegen Lokum eingetauscht. Als ich ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter von meinem Vater auf dem Traktoranhänger in unser Dorf zurückgebracht wurde, hatte Vater schon eine neue Frau, für die ich nie Wärme empfand. Auch sie für mich nicht.

Sie gebar meinem Vater vier Kinder.

Meine jüngere Schwester Selma ist die einzige von den vier Geschwistern, zu der ich in all den Jahren im Ausland Kontakt pflegte, sie rief mich jeden Tag an und wollte wissen, wann ich ankomme. Sie wolle mich am Flughafen abholen, zusammen mit ihrem Mann Serhat und ihrer dreijährigen Tochter Derya. Und jedes Mal fragte sie: «Aber du verschiebst deine Reise nicht wie damals?» Ich antwortete jeweils, dass ich dieses Mal entschlossener sei.

Als ich im Alter von siebzehn Jahren das Elternhaus verließ, um Schauspieler zu werden, war Selma erst ein Jahr alt, heute ist sie dreißig und Chemielehrerin an einem Gymnasium. Das Foto ihrer Tochter habe ich auf dem Bildschirm meines Handys als Hintergrund eingerichtet. Jedes Mal sagte Selma etwa dasselbe am Telefon: Sie freue sich, dass ich in ihre Nähe komme, sie sei begeistert von meiner Idee, zurückzukommen. Sie werde noch einmal beim Ministerium einen Antrag stellen, sie von der Provinz nach Ankara, in meine Nähe, versetzen zu lassen. Ohne Vitamin B sei das aber unmöglich, ohne den Einfluss von mächtigeren Bürokraten könne sie die Behörde nicht dazu bewegen. Immerhin könne sie mich an den Wochenenden in Ankara besuchen, sie könne noch nicht Autofahren, aber ihr Mann habe schon ein Auto. Oder ich könne sie besuchen, die Reise von Ankara in die gottverlassene Kreisstadt dauere ja nur drei Stunden.

Der Architekt Mehmet, den ich mit dem Umbau meiner Wohnung in Ankara beauftragt hatte, gab mir kein genaues Datum an, wann die Wohnung fertig sein würde. Ich dachte eigentlich, schon Ende März, in rund einem Monat, reisen zu können, um den Frühling im Land meiner Kindheitserinnerungen zu verbringen.

Einige Hürden gab es aber noch: Der Mieter wollte nicht aus der Wohnung raus, er war offenbar ein einflussreicher Beamter bei der Sicherheitsbehörde. Er wollte erst nach seiner Versetzung in eine andere Stadt in acht Monaten die zentral gelegene Wohnung freigeben, damit er seine Kinder nicht von der Schule nehmen müsse. Der Architekt war aber zuversichtlich, dass er den Beamten, der sich wie ein betrunkener Gockel aufführe, irgendwie hinauswerfen könne. Dazu sei es aber unumgänglich, dass er einen guten Draht zu einem noch mächtigeren Bürokraten finde. Wenn ich unbedingt Ende dieses Monats kommen wollte, sagte er letzthin schelmisch lachend, könne ich ja in einem Hotelzimmer übernachten, bis meine eigene Wohnung bereit sei. Die Kosten für acht Monate im Hotel würden allerdings mehr als den halben Wert der Stadtwohnung ausmachen.

Mehmet, mit dem ich in der Studienzeit in Istanbul in einem Dachzimmer, das uns von einer hilfsbereiten alten Frau gratis zur Verfügung gestellt worden war, zusammengewohnt hatte, verkündete, er und viele frühere Freunde freuten sich, mich am Flughafen zu empfangen. Wir würden dann ein Bridgespiel machen gehen. Man werde die alten Zeiten, wo man unbekümmert gewesen sei, mit jedem Mädchen geflirtet und tagein, tagaus drauflosgelebt habe, wieder aufleben lassen. Von sich aus sagte er noch, dass keine der damaligen Studienkolleginnen bei dem königlichen Empfang sein würden, weil sie alle unterdessen verheiratet und zu unglücklichen Müttern geworden seien. Das Wort «unglücklich» betonte er extra, mit Schadenfreude in der Stimme.

Ich ging nicht auf das Thema ein, warum die ehemaligen Studienkolleginnen in ihren Ehen nicht glücklich seien, erinnerte mich, dass ich nie gefragt hatte, wie es bei ihm stehe, ob er verheiratet sei und von seiner Ehe als einer glücklichen sprechen würde. Er lachte zuerst, war erstaunt, dass ich nichts wusste. «Nach einem heftigen Krieg bin ich jetzt ein Geschiedener. Wenn meine zwei Kinder volljährig sind und ich keine Alimente mehr zahlen muss, dann werde ich wieder von Glück reden. Die Frau saugt mich im Moment nur aus! Wie ein Kalb das Euter der Mutterkuh!»

Beinahe hätte ich meine Zunge verschluckt, als er nach seinem Satz über seine Scheidung hinzufügte, dass alle Freunde von damals ihn fragten, warum ich nicht geheiratet habe. Man erkläre es so, dass ich mit dem Weggang ins Ausland meinen Kreis verloren und deshalb unter den Fremden keine passende Frau gefunden hätte. Ich erzählte nur, dass eine alte Frau mir kürzlich gesagt habe, ich sei ledig geblieben, weil meine Mutter zu früh gestorben sei und niemand für mich eine Frau gesucht habe. Er lachte. Mir aber blieb ein kleiner Nachgeschmack, dass man mich in Ankara als exotische Pflanze betrachten würde. Und ich war von meinen Freunden aus der Studienzeit enttäuscht, denn wir alle hatten uns damals als freie Menschen verstanden und vor allem die Institution Familie, wie wir sie nannten, infrage gestellt.

Meine innere Stimme riet mir, noch kein Flugticket zu kaufen, mein Herz aber wollte zurück nach Ankara. Mit zitternden Händen und in melancholischer Stimmung buchte ich im Internet ein Ticket. Weil ein einfaches Ticket dreimal so viel kostete wie ein Ticket hin und zurück, buchte ich auch einen Rückflug zwei Monate später.

Meine Freunde in der Schweiz meldeten sich per sms oder Mail. Sie fragten nach dem Datum meines Abschiedsfestes. Ohne Fest wollten sie mich nicht gehen lassen. Und sie wollten ein gemeinsames letztes Foto. Ohne Ausnahme fragten alle, was ich mir als Abschiedsgeschenk wünschte.

Ich hatte kein Datum für das Abschiedsfest, teilte ihnen mit, sie sollten sich die letzte Märzwoche frei halten, an irgendeinem Abend würde dieses Fest stattfinden. Als Geschenk wolle ich ein Versprechen, mich in Ankara zu besuchen, mein Architekt habe auch ein Gästezimmer eingeplant. Mich besuchen wollten alle sowieso, einige erkundigten sich bereits nach Sehenswürdigkeiten und Museen – ich kannte sie selbst nicht –, andere hatten sich im Internet über die Wanderwege in der Umgebung von Ankara informiert, aber nicht viele gefunden. Auch über meinen zweiten Wunsch, jeder solle über unsere gemeinsamen Erinnerungen eine Seite schreiben, waren die Freunde begeistert.

Ich hatte meine Beiträge für die hiesige Altersvorsorge, die ich mitnehmen wollte, noch nicht bekommen, das entsprechende Amt ließ sich Zeit mit der Herausgabe des Geldes. Man zahle die Beiträge noch nicht aus, weil man von einem türkischen Amt entsprechende Dokumente abzuwarten habe, hatte mir die Frau am Telefon gesagt. Außerdem wollte das Amt noch ein auf meinen Namen ausgestelltes Flugticket und die Bestätigung der definitiven Abmeldung bei der Gemeinde sehen.


Ich hatte meine Arbeit als Übersetzer aufgegeben, verfügte über viel zu viel Zeit, wie die Boten im Paradies. Ich, der ich die letzten vierundzwanzig Jahre ununterbrochen gearbeitet hatte, wusste nicht immer, wie ich diese Zeit sinnvoll ausfüllen sollte.

Eines Abends nahm ich die Einladung von Fate an, mich bekochen zu lassen, eher eine Pflicht. Zu meinem Glück war ihr Schwiegersohn Murad nicht zu Hause, wie ich befürchtet hatte. Auch Soraja nicht, zu meiner Enttäuschung. Sie hatte ihren Mann in die Apotheke mitgenommen, vermutlich, weil auch sie ihn und mich nicht zusammen an einem Tisch erleben wollte. Er sollte in den drei Stunden, die ich bei Fate war, jede Medikamentenschachtel einzeln in die Hand nehmen und das Ablaufdatum in eine Liste eintippen.

Fate meinte, dass ihre Tochter mit dieser Aufgabe Murad bestrafe, der ja sonst nichts mache den ganzen langen Tag, zumal sie genau wüsste, dass die Medikamente nicht abgelaufen seien und sie noch die Möglichkeit habe, mit der Maschine, sie meinte den Computer, das Ablaufdatum zu kontrollieren.

Fate hatte ein großes Menü gekocht. Alles, was ich gerne mochte, war auf dem Tisch, von der gegrillten Forelle bis zu Ic¸li Köfte, vom Karottensalat mit Sauce aus Granatapfelkonzentrat bis zu Pide mit Käse und Ei. Es fehlte sozusagen nur die Vogelmilch.

Wir saßen einander gegenüber. Ich betrachtete ihr breites Gesicht, das mir sehr vertraut war. Sie machte einen zufriedenen Eindruck.

Sie sei glücklich, dass ich die Einladung angenommen habe, sie wolle sich mit dieser kleinen Mahlzeit bedanken für die Übersetzungshilfe und vor allem dafür, dass ich dicht gehalten hätte im Kreis der Landsleute, die Gerüchte schneller als den Wind verbreiteten. Man halte Leute, die zu einem Psychiater gingen, immer noch für Irre.

Sie hatte unter den Augen heute keine dunklen Ringe mehr wie vor ein paar Tagen, als ich sie zu Anita begleitet hatte. Ihre Gesichtsfalten waren weniger tief. Sie sagte wiederholt, sie habe ein Menü für Paschas gekocht, ich solle essen wie die Paschas, für sie sei ich wertvoller als diese. Alle Töpfe müssten leer gegessen werden. Ein Blick auf die übervollen Teller verriet die Herkulesaufgabe, die mir noch bevorstand.

Das gute Essen gönne sie mir vom Herzen. Sie habe in ihrem Leben nach ihrem verstorbenen Mann Memed, dessen Wuchs ihr wie der eines stämmigen Baumes in Erinnerung sei, mich als den zweitfreundlichsten Mann kennengelernt. Wir lachten beide, ich sagte ihr, wenn sie mich so lobe, würde ich den Appetit verlieren. Dann würde sie mich erst nach dem Essen loben, meinte sie.

Dann zählte sie einmal mehr alle noch ledigen Frauen auf, die sie hier und in ihrem Dorf kannte, und von jeder Frau wusste sie eine, wie sie zu sagen pflegte, goldeswerte Eigenschaft zu nennen: Die eine war fleißig wie die Bienen, die andere schön wie der Mond, die dritte würde zu ihrem Mann so aufrichtig und loyal sein wie eine der Frauen unseres Propheten. Die vierte war so schön wie die Müjde, die auf der Bühne allerdings im Minirock auftrat. Ich witzelte, was sie dazu sagen würde, wenn meine Zukünftige sich wie Müjde anziehen würde. Sie rief nur: «Gott behüte!»

Fate sagte es offen: Sie wollte mich verheiraten, zumindest verloben, noch bevor ich nach Ankara ging. Sie wollte mich umstimmen, damit ich die Reise absagen würde. Sie schrie mich fast an, es sei eine große Sünde, dass ich mit halb grauen Haaren – sie langte mit ihrer Hand an meine Haare – in diesem Alter noch ledig sei. Sie hatte auch den Grund für mein Ledigsein noch nicht vergessen, obwohl sie glaubte, seit dem Tod ihres Mannes sehr vergesslich geworden zu sein: Weil meine Mutter früh gestorben sei, habe sich niemand so richtig nach einer passenden und würdigen Frau für mich umgeschaut.

Mit einem gezwungenen Lachen versuchte ich, ihren aufdringlichen Verkupplungsversuchen auszuweichen. Ich war ihrer überdrüssig. Ich lenkte ab auf das Thema, das für Fate ein viel größeres Problem war als mein Singlesein: Ihre Tochter Soraja hatte noch immer keine Kinder, obwohl sie seit rund zehn Jahren verheiratet war. Mir selber war natürlich oft die Frage durch den Kopf gegangen, ob Soraja ihren Mann Murad überhaupt an sich heranlasse. Das war die Gelegenheit, und ich fand auch den Mut, ihren Kummer anzusprechen. «Tante Fate, wann werden deine Kinder dich mit einem schönen Enkel beschenken?»

Meine Frage brachte ein Fass zum Überlaufen, sie zögerte keine Sekunde. Zuerst fällte sie ihr schärfstes Urteil über ihren Schwiegersohn. Sie erzählte eifrig und ausführlich, wie unnütz Murad sei. Er könne nicht einmal seinen dreckigen Teller in die Küche tragen und seinen Rasierschaum im Lavabo ausspülen. Sie glaube, dass ihr Schwiegersohn auch im Bett nur über Fußball und Geld rede. Dazu lachte sie und sprach dann vom Geld, das Murads jüngere Brüder in Istanbul stündlich vermehrten. Er sitze kurz nach siebzehn Uhr, wenn die türkischen Banken zumachten, vor der Maschine, berechne die Tagesgewinne der Familienfirma, transferiere einen Teil des Geldes auf sein Konto hier in der Schweiz und gebe das Geld im türkischen Café aus, während er zum Fußball am Bildschirm Toast mit Sucuk esse und gezuckerte Getränke trinke. Sein Bauch sei deshalb gewachsen wie eine Trommel. Den Namen seiner Fußballmannschaft nehme er sicherlich öfter in den Mund als den Namen seiner Frau. Sie flüsterte: «So kann man halt keine Kinder machen. Mein Memed hatte um mich geworben, jedes Mal, wenn er mich wollte, turtelte er wie ein Täuberich um mich herum, kochte eigenhändig meinen Kaffee mit Kardamom, flüsterte mir Worte zu, die süß waren wie Honig. Und Murad? Der kann nicht einmal zwei Sätze aneinanderhängen, ohne zu schreien.»

Unterdessen hatten wir die Teller leer gegessen. Ich trug sie in die Küche und setzte mich wieder an meinen Platz.

«Du hast ihn aber für Soraja gefunden!», provozierte ich sie.

Sie seufzte tief. «Gott soll mich erblinden lassen, wenn ich ihn gefunden habe! Soraja liebe ich wie meinen Augapfel. Wenn du wüsstest, welch großen Streit ich mit dem verstorbenen Memed hatte. Er wollte sie bei der Geburt nach der heiligen Stadt Medine nennen, ich ihr unbedingt den Namen der persischen Königin, die eine große Schönheit war, geben!» Ohne weiterzureden, brachte Fate den doppelstöckigen Teekrug aus Zinn an den Tisch und holte zum Dessert Kadayif aus dem Kühlschrank. Sie schenkte Tee in schmale Gläser ein.

Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: «Wir hatten Angst, dass sie einen Fremden heiratet. Wir hatten bei unseren Bekannten hier so etwas gesehen. Die Tochter heiratete einen Mann aus Argentinien. Die Eltern verstanden nicht einmal, wenn er Guten Tag sagte. Wir waren in Istanbul an der Hochzeit des Sohnes meines Bruders. Soraja hat Murad dort gesehen, in einem wie im Märchen eingerichteten Hochzeitssaal direkt am Bosporus. Murad sah gut aus in seinem dunkelblauen Anzug über einem weißen Hemd. Mit einer Golduhr am Handgelenk zeigte er seinen Reichtum, der leider viele Menschen anzieht. Die verschenkten Goldstücke schwammen wie Fische im Saal. Die Leute tanzten, bis sie nur noch müde herumkrochen. Die Atmosphäre war wie gemacht für Eltern, die ein Kind zu verheiraten hatten. Gerade dort hat Murads Mutter ein Auge auf meine schöne Soraja geworfen.

Heute sage ich, es war ein böses, stechendes Auge. Und Soraja hat schon am nächsten Tag in die Heirat mit Murad eingewilligt, nachdem sie ihn in einem Teegarten mit Blick auf dem Bosporus getroffen hatte. Sie war in Begleitung der Tochter meines älteren Bruders, die Soraja intensiv bearbeitet haben soll, ja zu sagen. Soraja hat sicher auch den Rat ihres Vaters befolgt, der ihr schon als Kind ins Gehirn eingeritzt hatte, sie solle eine ihren Eltern genehme Ehe eingehen, vor allem eine der Familientradition würdige Familie wählen. Und schon am selben Abend kam die Familie vom Murad zu Kaffee und Lokum. Heute würde ich ihr davon abraten, ihn zu heiraten.»

Sie stand auf, stützte sich mit einer Hand auf den Stuhl, rieb ihren Oberschenkel, der schmerzte, und meinte, sie habe Rheuma. Sie starrte die Teegläser an. Es habe sie trotzdem erstaunt, dass Soraja so schnell Ja gesagt habe. Sie als Eltern hätten sich, auch wenn sie die Heirat Sorajas wollten, schon gefragt, welche Tugenden, welche positiven Charaktereigenschaften sie an dem Murad in dieser kurzen Zeit entdeckt haben mochte. Sie setzte sich und rührte lange und geräuschvoll den Zucker im Teeglas um.

Fates Urteil war wie immer scharf: «Soraja hat sich von der Atmosphäre im Hochzeitssaal mitreißen lassen!»

Im Laufe des Abends erzählte Fate, wie sie trotz ihrer Bedenken, dass sie die Familie noch nicht gut kennen würden, die Hochzeit, die von Murads reicher Familie veranstaltet wurde, genossen hätten. Honig sei im Saal geflossen. Wie es für Eltern eine Genugtuung sei, ein Kind zu verheiraten, und wie sie die schöne Erfahrung, Gastgeber der Hochzeit zu sein, gemacht hätten. Das sei eine würdevolle Sache gewesen. Alles sei so großzügig gewesen wie im Märchen. Sie lachte laut: «Soraja war am Fest wie eine Traubendolde, es hing überall Gold an ihr!» Nach der Hochzeit von Soraja war es Memeds Wunsch, auch den Sohn zu verheiraten. Erst danach wollte der fromme Mann sich seinen großen Traum erfüllen, Mekka zu besuchen. Das schaffte er nicht, denn er starb an einem Schlaganfall, seinen Leichnam brachten sie ins anatolische Heimatdorf, und ihr Sohn will sich bis heute nicht binden.

Mit einer scheinheiligen Frage brachte ich sie auf Murad zurück.

Murad fährt jeden Monat für eine Woche nach Istanbul. Dann gibt er als der älteste der fünf Brüder, der als Firmenbesitzer gilt, bei einem Notar für die in den drei Wochen verkauften Wohnungen der Firma seine Unterschrift, und er kommt erst zurück, wenn er als Sponsor seines Clubs von der Ehrentribüne aus ein Fußballspiel gesehen hat.

Murads Familie war ursprünglich in die Stadt Istanbul gekommen, um auf einer alten Holzplattform Gemüse zu verkaufen. Dort hatte sie es zu viel Geld gebracht und genießt jetzt dank ihres Reichtums ein hohes Ansehen unter den Menschen in der Gegend, aus der sie stammt. Auch die Familie war froh, für ihren ältesten Sohn ein frommes Mädchen als Braut gefunden zu haben. Sie hatte befürchtet, der Sohn würde dank des vielen Geldes eine «Dame der Gesellschaft» bekommen und nicht Schritt halten können mit einer Braut, die vielleicht ein Hemd ohne Ärmel anziehen würde, und so ihr Gesicht zu verlieren.

Kurz bevor ich mich auf den Weg machen wollte, erzählte Fate, dass Soraja mit dem Gold, das ihr zur Hochzeit geschenkt worden war, ein paar Tage später in einem bekannten Viertel Istanbuls eine Wohnung mit Blick auf den Bosporus gekauft habe, damals nach dem Erdbeben sehr günstig, weil Millionen Menschen die Stadt verlassen wollten. Heute würden zweimal mehr Menschen in Istanbul leben als vor dem Erdbeben. Der Spruch «Die Steine und Berge Istanbuls sind aus Gold» ziehe Anatolier in die Stadt wie ein Magnet. Heute koste die Wohnung Sorajas über eine Million Dollar. Jetzt machten Murads Geschwister ihr diese Wohnung streitig, sie wollten gar nicht zulassen, dass ihr die Wohnung überschrieben werde. Stattdessen würden sie ihr eine andere Wohnung anbieten, die weit vom Zentrum entfernt sei und nur einen Zehntel der Wohnung am Bosporus wert sei.

Ich verabschiedete mich von Fate, nachdem sie mein Versprechen eingeholt hatte, dass ich sie vor meiner Abreise wieder besuchen würde. Sie sagte zweimal, sie hoffe immer noch, dass ich mich umstimmen ließe. Ich war schon draußen, als sie mich nochmals hineinrief und die Türe leise zumachte.

Sie flüsterte so geheimnisvoll, als planten wir, eine Bank auszurauben: «Weißt du, warum ich Murad hasse, obwohl er mir gegenüber immer respektvoll und mein einziger Schwiegersohn ist? Jedes Mal wenn er nach Hause kommt, küsst er mir auch die Hände.»

«Nein, weiß ich nicht.»

Weil ich Fates Humor kannte, erlaubte ich mir einen frechen Satz: «Weil er dir kein Enkelkind schenken konnte!»

Sie lachte zuerst aus vollem Hals. Dann überraschte sie mich: «Murad ist ein Gauner. Was das Geschäft betrifft, ist er gar kein Gläubiger wie mein Memed. Murad spricht viel von Gott, aber er hat Gott längst vergessen, wenns um Geschäfte geht!»

Fate wusste, dass Murads Familie fünf Hektaren Wald eines Geländes mit Aussicht auf das Marmarameer hatte abbrennen lassen, um darauf Wohnungen zu bauen, die dann während des Baubooms in Istanbul teuer verkauft wurden. Murad und seine Brüder hatten nach dem Waldbrand den Gemeindepräsidenten bestochen, das Land als Bauland zu deklarieren. Danach gab es eine Ausschreibung, und natürlich waren sie es, die den Zuschlag zum Bauen bekamen. Mit diesen fünf Hektaren Land, die sie sich auf übelste Weise unter den Nagel rissen, wurden sie zu angesehenen Reichen.

Murad rühme sich, schlau und geschäftstüchtig zu sein, er sei aber in Wahrheit ein Verbrecher, sagte Fate. Sie werde es nicht erlauben, dass seine Brüder Soraja die Wohnung wegnehmen würden. Dies habe sie sich nun zum Lebensziel gemacht, und sie werde im Notfall auch ihre Brüder und deren Kinder, die als Studierte wahre Löwen seien, einschalten.

Sie ließ mich noch einen Moccakaffee mit Kardamom und viel Zucker für sie kochen. Den tranken wir, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Ich hatte ein paar Mal ihre Halsadern beobachtet, wie sie pochten vor lauter Aufregung. Offenbar machte das Unrecht, das ihre Tochter bedrohte, sie wütend. Das Telefon läutete zweimal, das Zeichen von Soraja, dass der Besuch gehen müsse, dass nämlich Murad und sie gleich kommen würden. Fate gab mit ihrem besorgten Blick zu verstehen, dass ich mich zu beeilen hätte.


Eine Woche nach der Begegnung mit der mysteriösen Frau in Anitas Praxis erinnerte mich eine sms wieder an sie. Sehr ungewollt. Am Tag zuvor hatte ich vergessen, auf dem Nachhauseweg ein frisches Brot zu kaufen, wie es mir oft passiert war in all den Jahren. Nach der morgendlichen Dusche holte ich ein kleines Brötchen aus dem Tiefkühler. Die duftende Kaffeetasse in der Hand, wartete ich vor dem Backofen und beobachtete das Brot, das dabei war, aufzutauen. Das Piepsen einer SMS mischte sich in das leise Geräusch des Backofens.

Es war Anita, was mich überraschte, als sei an diesem Morgen die Sonne im Westen aufgegangen. Sie fragte, ob ich Zeit habe, sie in der Praxis zu besuchen, sie wolle mir eine Broschüre zum Übersetzen geben. Ohne zu zögern, schrieb ich, dass ich sehr viel Zeit hätte, mehr als die Boten im Paradies. Sie schrieb umgehend zurück: «Also dann 12.30 im Warteraum. Viele Grüße. A.»

Die vier Stunden danach kamen mir so lange wie ein Jahr vor. Ich war nicht sicher, ob der angebliche Übersetzungsauftrag nicht ein Vorwand war, ob die Einladung nicht vielmehr zu tun hatte mit der Fee, nach der ich so aufdringlich bei ihr gesucht und wofür ich mich später geschämt hatte. Mein Wunsch, sie zu sehen, war unterdessen nicht mehr ganz so akut wie vor einer Woche. Ich holte das Brot aus dem Ofen, bestrich es im Stehen mit Butter, die gleich schmolz, lief beim Essen in meiner kleinen Wohnstube hin und her. Die Gegenstände: der Esstisch, die vier Stühle, das einzige Sofa, alles, was ich vor der Abreise aufräumen oder einpacken sollte, stachen in meine Augen wie Dornen. Ich lachte, als ich laut zu mir sagte: «Wäre statt Anita die Fate bekannt mit dieser Fee, hätte sie sicher versucht, mich mit ihr zu verheiraten.»

Einige Minuten lang schaute ich vom dritten Stock aus dem Fenster hinunter auf die Straße. Der Morgenverkehr hatte sich schon beruhigt. Der Lastwagen des Fleischlieferanten, auf dessen Plane Hühner, Kühe und Würste abgebildet waren, wurde wie immer um Punkt neun Uhr vor der Metzgerei geparkt. Der Motorroller der Postfrau ratterte.

Ich wusch mein Frühstücksgeschirr ab, es war nicht viel: eine Kaffeetasse, ein Teller und ein Messer, dann ging ich hinaus. Um mir die Zeit bis zum Mittag zu verkürzen, machte ich mich auf den Weg, meine Landsleute, die ich ohnehin auf meiner Liste hatte, vor meiner Abreise in ihrem Restaurant zu besuchen. Die Sonne schien und blendete mich auf dem Fahrrad. Aber Anfang März einen so klaren, wolkenlosen Tag erleben zu können, war eine Seltenheit und machte nicht nur die Vögel fröhlich.


Serdar und Rabia waren beschäftigt wie Bienen, als ich das Restaurant betrat. Sie deckte die Tische ab, er war hinter der Theke. Er hob den Kopf, mit einem Lächeln begrüßte er mich und schaute auf den Wandkalender, den ihm eine Zulieferfirma für Fleisch geschenkt hatte. «Wie viele Tage noch bis zur Abreise des Zugvogels?» Und seine Frau Rabia, die eine erdbeerfarbene Serviette zu einer Pyramide faltete, hob ihren Kopf: «Ich glaube immer noch nicht, dass er sich tatsächlich entschieden hat, zurückzukehren. Manche Zugvögel verpassen ja auch den Zug, dann bleiben sie noch ein Jahr hier. Sie begnügen sich doch mit der Wärme hier.» Die Zweideutigkeit in ihrem Ton war nicht zu überhören.

«Was sagst du jetzt zu Rabias Prognose?», fragte Serdar, während er mir über die Theke die Hand reichte. Ich ließ die Frage unbeantwortet und setzte mich an die Theke, schaute ihm zu, wie er ein Fleischstück fein filetierte. Vier Stammgäste hätten reserviert und ein arbeitsintensives Menu bestellt, Serdar müsse schon jetzt anfangen. Weil ich, seit wir uns kennen, immer von der Rückkehr sprach, nannten sie mich im Spaß den Zugvogel.

Serdar und Rabia hatte ich als Übersetzer bei Asylverfahren kennengelernt. Sie hatten in der Türkei durch die Militärpolizei einiges zu erdulden gehabt. Sogar ihr Haus wurde in Brand gesteckt. Der selber nicht gläubige Serdar erzählte immer wieder als Beispiel für die erlebten Schikanen vom verbrannten Koran im Gästezimmer. Sein Vater hatte den Kommandanten inständig gebeten, den Koran vor dem Feuer retten zu dürfen. Einzig diesen. Aber der Kommandant hatte es ihm nicht erlaubt und ihm auch nicht in die Augen geschaut.

Monate und Jahre danach hatte ich auch für viele ihrer Verwandten, die in das sichere Alpenland geflohen waren, übersetzt. Jetzt besaßen all diese Leute, die aus einer gebildeten kurdischen Familie stammten, einer Familie, die sich in ihrem Land aristokratisch gegeben hatte, Geschäfte im Bereich der Gastronomie; der eine führte eine Kebabimbissbude, der andere backte Brot für Imbissbuden, wieder ein anderer verkaufte Käse für die Pizzerien, einer führte ein Buchhaltungsbüro. Der jüngste hatte eine ehemalige Wurstfabrik übernommen, stelle dort mit zwanzig Angestellten Fleischprodukte her.

Rabia und Serdar waren liebenswürdige Menschen, zu denen ich den Kontakt nicht abreißen ließ. Sie waren mir eine vertraute Anlaufstelle. Ich besuchte sie oft in ihrem Restaurant, auch in der Wohnung, am Sonntag, wenn sie überhaupt einen freien Tag hatten, zum Frühstück, einem Frühstück wie in unseren Dörfern mit Oliven, Fetakäse, Eiern, Tomaten, Gurken und frisch gebackenem, noch warmem Brot. Sie sagten, dass sie nur sonntags an die Heimat dachten, denn sechs Tage die Woche seien sie fünfzehn Stunden lang für ihre Gäste da.

Sie selbst waren jedoch nie gerne zu mir gekommen. Als alleinstehender Mann war ich eine exotische Pflanze, ich war bei den Familien nie ganz integriert. Serdar hatte mir immer wieder gesagt, ich solle ein paar Verwandte, nur gerade ein paar, hierher bringen lassen, so wie er, dann hätte ich einen Kreis, in dem ich gut aufgehoben sei. In guten und schlechten Zeiten. So einsam wie ich könnten nicht einmal die Katzen leben. Ich entgegnete ihm, mein Problem sei, dass ich eine zu kleine Familie hätte. Von den vier Geschwistern, die alle einen Beruf gelernt hätten, wolle niemand auswandern.

Serdar gab mir einen Espresso. Rabia gesellte sich zu mir, sie stand an die Theke gelehnt. Wir sprachen über unser Land, über die Leute, die an diesem Tag verhaftet worden waren. Sie hatte schon Zeitungen gelesen im Internet und berichtete über die politischen Neuigkeiten, die an sich nichts Neues waren: Verhaftungen, Repression, Bombardements in den Bergen. Serdars Frage, ob ich trotz dieser politischen Unruhen zurückwolle, ließ ich unbeantwortet. Darauf meinte er mit einer Prise Sarkasmus in der Stimme, dass ich ja wieder zurückkommen könne, wenn es mir in Ankara nicht gefallen sollte, als kinderloser Mann könne ich mich leichter dazu entschließen, Wohnorte zu wechseln.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 435,42 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
242 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783857919879
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
177