Читать книгу: «Emsgrab», страница 3
5.
Nördliches Rheiderland
Jugendliche … – Langeweile … !!
Er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Diese Ignoranten! Konnten sie nicht erkennen, dass dies ein Teil seines berechtigten Protestes war? Die Planung und das Warten auf den günstigen Moment … Der Nebel, der ihn unsichtbar machte … Die Steine aus der Uferbefestigung …
Bei den nächsten Aktionen muss ich ein Zeichen hinterlassen, dachte er.
Ich werde mir etwas Passendes ausdenken.
6.
Polizeigebäude und WSP-Station Leer
»Fingerabdrücke auf Steinen?« Der Beamte vom Erkennungsdienst schüttelte den Kopf. »Das kannst du vergessen. Was hast du außerdem am Tatort unternommen?«
Onno erklärte seine Tatortarbeit.
»Na gut … Das Einzige, was jetzt noch Sinn hat, ist eine Suche nach Spuren am Flussufer in Nähe der Brücke.«
Onno ärgerte sich ein wenig, darauf hätte er auch selbst kommen können.
Aber außer schmutzigen Stiefeln brachte die Suche am Flussufer nichts.
Zurück auf der Station griff Onno zum Telefon. Der Tatort konnte freigegeben werden und Elzinga informierte den Beauftragten der Baggerfirma, Gerd Peters, dass mit den Reparaturarbeiten an Bord des Baggers begonnen werden konnte.
Elzinga sah auf, als sein neuer Kollege Hans Schulz hereinkam. Der Berliner versah erst seit einigen Wochen auf der Station Dienst. Schulz ist unglaublich dünn und groß, dachte Onno. Der wird sich noch oft die Birne stoßen.
Hans Schulz plapperte munter drauflos. »Hallo, Onno. Schön, dass du zurück bist. Was meinten die Kollegen von der Kripo?«
»Ich hatte den Eindruck, die waren leicht genervt«, sagte Elzinga. »Kein Wunder – Frühdienst nach einem Wochenende! Du weißt doch, was da los war.«
»Das ist mein Stichwort, Onno – wir beide müssen zum Sielhafen. Dort ist in der Nacht ein Kutter halb abgesoffen. Die Feuerwehr ist schon unterwegs.«
Im Sielhafen angekommen, stellten die beiden WSP-Beamten erstaunt fest, dass nicht einer der alten Holzkutter teilweise untergegangen war, sondern einer der neuen, modernen Fischkutter.
»Wie haren düchtig Glück und hem dat Water rutkregen, bevör he komplet ofsopen is«, sagte der Einsatzleiter der Feuerwehr.
Hans Schulz sah Onno Elzinga an. »Was hat er gesagt?«
Elzinga grinste, im Sielhafen wurde nur Platt gesprochen und Hans Schulz hatte seine Probleme damit. »Er meinte, dass sie Glück hatten und das Wasser abpumpen konnten, ehe der Kahn komplett abgesoffen ist.«
Im Gespräch mit Jan Brons, dem Eigentümer des Kutters, und den Feuerwehrkräften fand Elzinga schnell heraus, was passiert war. In der Nacht hatten Spaziergänger ein Alarmsignal auf einem Kutter gehört. Eingedrungenes Wasser hatte den automatischen Bilgenalarm ausgelöst.
Im Dorf kannte jeder jeden, und so waren der Eigner und die Feuerwehr sofort informiert worden. Jan Brons hatte erstaunt festgestellt, dass die Eingangstür des Kutters nicht abgeschlossen war. Noch größer war sein Erstaunen gewesen, als er die Ursache für den Wassereinbruch gesehen hatte: ein geöffnetes Seeventil. Er hatte bereits bis zum Bauch im Wasser gestanden, als es ihm endlich gelungen war, dass Ventil zu schließen.
Die freiwillige Feuerwehr Ditzum hatte das eingedrungene Wasser zwar schnell abpumpen können, trotzdem war der Schaden bereits erheblich gewesen.
»Dor het en bi west, man ick was dat net!«
»Was hat er gesagt?«, fragte Schulz.
»Es war kein Unfall. Jemand hat sich am Seeventil zu schaffen gemacht.«
»Ich kann mir vorstellen, was passiert ist«, sagte Hans Schulz. »Auch wenn ich kein Platt spreche, ist mir bekannt, dass die teilweise Finanzierung der neuen Kutter durch die große Werft das Dorf praktisch in zwei Lager gespalten hat.«
Onno Elzinga schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen, dass hier einer so weit gehen sollte. Ich ruf erst mal wieder bei unseren Kollegen von der Kripo an. Die werden sich freuen.«
Elzinga merkte, dass Schulz ihn beobachtete, als er über Handy mit den Kollegen der Kripo sprach, um die Spurensicherung anzufordern. Und er ahnte schon nach kurzer Zeit, warum. Zunächst entstanden Falten auf seiner Stirn, dann wurde ihm heiß, und das bedeutete wahrscheinlich, dass ihm Röte vom Hals aufwärts in Richtung Gesicht stieg. Gott sei Dank ist mein Hemdkragen offen, sonst würde der gleich platzen, dachte Elzinga und sah Schulz mühsam ein Grinsen unterdrücken.
Das Gespräch verlief ganz und gar nicht so, wie Elzinga es erwartet hatte. Und das hatte Schulz, obwohl er der Jüngere war, natürlich mal wieder gewusst. Hatte Elzinga denn wirklich erwartet, dass die Kollegen bei dem Wust an Arbeit begeistert auf die Bitte der Wasserschutz-Kollegen um Unterstützung reagieren würden?
»Sie können nicht kommen«, sagte Elzinga. »Wir sollen uns selber helfen.«
Hans Schulz schüttelte den Kopf über ihn. »Was erwartest du eigentlich? Dass sie Hurra rufen? Die Reformen setzen die Kollegen doch nur unter Druck. Immer weniger Leute arbeiten immer mehr, das ist neuerdings die Devise. Die müssen entscheiden, was wirklich wichtig ist und dabei fallen wir leider oft hinten runter. Ich kann das gut verstehen.«
Inzwischen hatte die Feuerwehr ihre Ausrüstung eingepackt. Eine um den Kutter gelegte Ölsperre blieb zurück. Das mit nach außenbords gepumpte Öl aus der Bilge hatte sich darin gesammelt und sollte später entsorgt werden.
»Hans, wir befragen den Eigner noch mal und machen Fotos an Bord. Kannst du die Taschenlampe und die Fototasche mitnehmen? Ich nehme den Spurensicherungskoffer.«
Der Fischer saß niedergeschlagen auf dem Steuerstuhl und sah den beiden Beamten entgegen. Als Elzinga sein Gesicht sah, wusste er, dass Jan Brons auf keinen Fall seinen Kutter selbst hatte versenken wollen.
Der Türgriff zum Ruderhaus und die Hebel für die Tür zum Maschinenraum waren inzwischen von etlichen Personen berührt worden. Trotzdem versuchte Elzinga, brauchbare Fingerabdrücke zu finden. Vergeblich. Gemeinsam besichtigten sie anschließend den Maschinenraum und vor allem das Seeventil.
Wer immer das geöffnet hatte: Er hatte genau gewusst, was er tat. Ein versehentliches Öffnen war ausgeschlossen.
»Die Eingangstür weist keine Einbruchsspuren auf«, sagte Hans Schulz. »Entweder stand sie offen oder es wurde mit einem Dietrich gearbeitet. Das Schloss ist ziemlich primitiv.«
Der Fischer sah Hans Schulz mit säuerlicher Miene an. »Ick heb doch al secht, de Dör was ofschloten, man se stunn in ’t Nacht open.«
Elzinga beruhigte den Fischer. Er hatte schon die Aussage notiert, dass Jan Brons die Tür unverschlossen vorgefunden hatte. Jetzt versuchte Elzinga, den Tatzeitraum möglichst eng zu begrenzen. Der Fischer hatte abends seinen Kutter verlassen und die Eingangstür verschlossen.
Die Spaziergänger, die den Bilgenalarm gehört hatten, waren angetrunkene Gäste gewesen, die die kleine Hafenkneipe verlassen und sich im Nebel kurz verlaufen hatten. Plötzlich hatten sie vor den festgemachten Fischkuttern gestanden. Die Tat musste sich demnach in der Nacht bis etwa zwei Uhr morgens ereignet haben.
»Diese Zeugen müssen wir noch unbedingt befragen«, dachte Elzinga laut. Die nächste Frage ging ihm nur schwer über die Lippen. »Haben Sie irgendwelche Feinde, Herr Brons?«
»Ich weiß, worauf Sie anspielen. Aber das können Sie vergessen. Ja, es gibt Meinungsverschiedenheiten unter den Fischern. Einige nehmen es uns übel, dass wir unsere Klage gegen die Umbaumaßnahmen am Fluss zurückgenommen haben. Es ist auch richtig, dass wir dafür einen Teil der Kosten für die neuen Kutter erhalten haben. Es ist aber auch wahr, dass unsere Fischgründe vor der Haustür zum Teil durch die Baggermaßnahmen vernichtet worden sind. Die Verlierer waren wir von Anfang an. Auf diesen faulen Kompromiss haben wir uns eingelassen, weil wir nicht die Buhmänner sein wollten, falls die große Werft pleitegeht und viertausend Leute in unserer Region arbeitslos werden. Sie sind von hier und Sie wissen, was Arbeitslosigkeit in unserer Region bedeutet. Früher waren unsere Fanggründe in Ordnung und wir konnten mit unseren Holzkuttern gut klarkommen. Wir fischten hier und waren öfters zu Hause. Jetzt sind wir gezwungen, weiter rauszufahren. Die Kutter liegen in Holland und Nordfriesland und wir sind nur noch am Wochenende zu Hause. Die modernen Kutter benötigen mehr Diesel und die Wartung ist erheblich teurer. Das wissen auch alle, die Ahnung haben. Von Neid und Missgunst kann also keine Rede sein. So sieht es aus.«
Onno Elzinga war platt. Mit diesem Wortschwall hatte er nicht gerechnet, schon gar nicht auf Hochdeutsch.
Die Äußerungen zeigten, dass die Eingriffe in die Flusslandschaft ein sehr heißes Eisen waren, sie gingen sogar den sonst eher ruhigen Fischern gewaltig unter die Haut.
Außerdem waren die Fischer ein Volk für sich und viele aus dem Sielhafen hatten einen großen inneren Kampf geführt, bevor die Mehrheit von ihnen sich den schlichten Sachzwängen letztendlich gebeugt hatte – in der sicheren Gewissheit, dass sie die Entwicklung nicht aufhalten konnten.
Die weitere Polizeiarbeit verlief aus Sicht von Elzinga negativ. Keine auswertbaren Spuren und die Zeugenbefragungen ergaben auch keine neuen Anhaltspunkte.
Auf der Rückfahrt dachte Elzinga im Streifenwagen laut: »Eins ist sicher: Von alleine ist das Ventil nicht aufgegangen.«
»Versicherungsbetrug durch den Eigner?«, fragte Hans Schulz.
»Das glaub ich nicht. Der Kutter ist für ihn ein Stück Zuhause. Er verbringt mehr Zeit auf dem Kutter als bei seiner Frau. Da steckt viel Herzblut drin. Mein Gefühl sagt mir, das ist ein ehrlicher Mann.« In Gedanken fügte er hinzu: Und viel tiefsinniger, als ich dachte. »Außerdem hätte er sich für einen solchen Versuch nicht den flachen Hafen ausgesucht.«
»Er war sich zuletzt aber offenbar gar nicht mehr so sicher, ob er die Eingangstür abgeschlossen hatte. Ist doch merkwürdig.«
»Was glaubst du, Hans, was passiert, wenn du deine Wohnung abschließt und ich dich anschließend ein paarmal frage, ob du auch wirklich abgeschlossen hast? Wetten, du fährst zurück und stellst fest, dass die Tür natürlich abgeschlossen ist? – Ich habe eine andere Idee. Was ist, wenn zwischen dem Steinewerfer an der Brücke und der Sabotage ein Zusammenhang besteht?«
»Nu hör aber auf, Onno! Was soll das denn für ein Zusammenhang sein?«
»Ich weiß nicht. Nur so ein Gefühl.«
»Du mit deinem gefühlten kriminalistischen Spürsinn.« Hans Schulz grinste. »Anderes Thema. Und zwar Krabbenbrötchen, wo wir gerade hier sind.«
Elzinga lachte. »Ich zerbreche mir meinen scharfen norddeutschen Verstand und du denkst bloß ans Essen.«
»Ach, und du verzichtest …? Wegen Feiertagsspecksyndrom …?«
»In Ordnung, lass uns die heimische Wirtschaft unterstützen. Aber gegessen wird nicht im Auto, sondern auf der Dienststelle bei einer Tasse Tee.«
Hans Schulz grinste und steuerte zielsicher den Fischhändler seines Vertrauens an.
7.
Nördliches Rheiderland
Am nächsten Morgen saß er im dunklen Wohnzimmer und wartete auf den Zeitungszusteller.
Endlich hörte er ihn kommen, wartete kurz ab, bis der Mann wieder verschwunden war, riss die Haustür auf und nahm die Zeitung aus dem Kasten.
Es musste doch irgendwo etwas zu finden sein … – Das konnte nicht sein – nur eine kurze Notiz im Lokalteil?!
Kutter fast gesunken … Schaden erheblich … Sabotage oder Unfall … Wasserschutzpolizei ermittelt noch …
Was, das war alles?
Er hatte diesmal viel riskiert. Es war zum Verrücktwerden. Komisch, das war genau das Wort: »verrückt« hatte seine Frau ihn genannt und ihren Koffer gepackt.
Warte nur, mein Schatz, dachte er, auch du wirst mich wieder lieben, sobald alle begreifen, was ich vollbracht habe.
Sein Blick war starr auf einen Punkt im Wohnzimmer gerichtet. So saß er noch, als die Sonne bereits aufgegangen war.
8.
An Bord des Polizeibootes
»Onno, Maschinen klar!«
Mit einem satten Dröhnen starteten die Dieselmotoren.
»Leinen los.« Elzinga legte mit dem Dienstboot vom Anleger der Dienststelle ab und nahm Kurs auf die Schleuse.
Das Ruderhaus wurde vom grünen Licht des Radars schwach beleuchtet. Alle anderen Lichtquellen waren heruntergedreht worden. Die Aufgaben der Bootsbesatzung waren klar verteilt: Hans Schulz war Ausguck an Deck, Ferdinand Diekmann Radarbeobachter und Onno Elzinga steuerte das Boot.
Der Blick durch die Fenster war sinnlos und in der Binnenschifffahrt bei Nebelfahrt zudem verboten. Die Schleuseneinfahrt war auf dem Radarbild klar zu erkennen.
Der Nebel drang durch die halb geöffnete Ruderhaustür. Schulz hatte sich schon öfter über die Zugluft beschwert. Elzinga hatte ihm erklärt, dass die Tür absichtlich nicht geschlossen wurde. »Stell dir, vor wir kollidieren im Nebel mit einem anderen Fahrzeug. Die Türen verziehen sich und können nicht geöffnet werden. Die Fenster und Bullaugen kannst du auch nicht einschlagen: seeschlagsicher und zwei Zentimeter dick. Das nennt man dann wohl Mausefalle, also lass die Tür auf.«
»Du kannst einem ja das Gruseln beibringen«, hatte Schulz gemurrt.
»Leer Lock«, meldete sich Elzinga bei der Schleuse, »wir liegen fest. Ihr könnt zumachen.« Er legte den Hörer des Funkgerätes in die Halterung zurück.
»Okay, Onno wir müssen einiges ausgleichen. Es dauert einen Moment«, kam es von der Schleuse zurück.
Hans Schulz stand an Deck und achtete darauf, dass sich der Festmacher zwischen Schleusenwand und dem Boot nicht beklemmte.
»Was liegt eigentlich genau an?«, fragte Elzinga den Kollegen Diekmann.
»Ich weiß nur, dass sich im Nebel ein Schiff auf einer Buhne festgefahren hat. Die Meldung haben wir von der Verkehrszentrale. Ein holländisches Binnenschiff. Es soll keine akute Gefahr für die Besatzung bestehen. Der Unfallort liegt unterhalb des Sperrwerkes.«
»Siebzehn Kilometer bis zur Unfallstelle bei Sichtweite von fünfzig Meter und darunter. Mahlzeit. Außerdem fahren wir mit dem Strom. Das Boot wird schlecht zu manövrieren sein.«
»Dafür sind wir schneller da!«
*
Landseite Sperrwerk
Die Sprühdose mit der Signalfarbe, Bolzenschneider und die Eisensäge alles zusammen in den Rucksack … Die nächste Aktion sollte eindeutig werden und das Zeichen, das er diesmal hinterlassen wollte, würde diese Ignoranten endlich erkennen lassen, wer diese Taten vollbrachte. Die Voraussetzungen waren ideal: Nebel und Dunkelheit. Die hydraulischen Leitungen der Sperrwerksmechanik waren diesmal sein Ziel.
9.
An Bord des Polizeibootes
Die Stille an Bord wurde greifbar. Das Radarbild zeigte, dass die Sperrwerksöffnung jetzt genau vor ihnen lag. Hans hatte den Navigationsscheinwerfer eingeschaltet und suchte mit dem starken Lichtkegel die Öffnung oder wenigstens die davor ausgebrachten Tonnen im Fahrwasser.
Das Boot geriet in die starke Strömung vor den Pfeilern des Sperrwerks. Jetzt war wichtig, dass der Kurs nicht von der Vorauslinie des Radargerätes abwich. Das erforderte schnelle Ruderbewegungen, die allein mit dem Handruder nicht zu schaffen waren. Onno bediente das Ruder mit Hilfe des zusätzlichen elektrischen Schalthebels.
*
Landseite Sperrwerk
Er hörte das Motorengeräusch und sah einen Lichtkegel, der durch den Nebel nach ihm tastete. Das konnte doch nicht sein – sie hatten ihn entdeckt?! In Panik ließ er alles liegen und rannte zurück zum Sicherungszaun.
*
An Bord des Polizeibootes
»Hans, mach doch endlich den Scheinwerfer aus, der hilft auch nicht und stört uns nur.«
Das Boot passierte sicher die Öffnung des Sperrwerkes und nahm Kurs auf den Unfallort, der auf dem 1,6-sm-Bereich des Radargerätes bereits erkennbar war.
»Mist«, schimpfte Elzinga. »Ausgerechnet ein Tanker!«
Dessen rotes Rundumlicht leuchtete schwach durch den Nebel. Der Schiffsführer hatte offensichtlich eine erforderliche Kursänderung an einer Tonne versäumt und war mit dem Vorschiff auf einer Sandbank festgekommen.
Elzinga nahm über Seefunk Kontakt auf. Die Schiffsführung teilte ihm mit, dass das Achterschiff noch auf Maschinenmanöver reagieren würde, aber das Vorschiff bekamen sie nicht frei.
»Das Wasser fällt. Schlepper haben zu viel Tiefgang und können den Tanker nicht erreichen«, sagte Elzinga nachdenklich. Er informierte die Verkehrszentrale und überlegte zusammen mit seinen Kollegen, was zu tun sei.
»Wieso haben sie nicht gleich einen Schlepper bestellt?«, maulte Ferdinand Diekmann. »Das dauert jetzt viel zu lange und der Tanker bricht uns auseinander.«
»Der Schiffsführer weiß ganz genau, dass er bei den Wetterverhältnissen nicht fahren durfte«, sagte Onno Elzinga. »Der hatte wohl die Hoffnung, ohne Aufsehen von selbst freizukommen. – Hans, Ferdinand holt die dicke Schleppleine aus der Vorpiek. Wir versuchen es selbst. Ich spreche das mit der Schiffsführung ab. Die nehmen das Tau an und sollen es auf der vordersten Pollerbank belegen. Ich versuche, das Vorschiff runterzuziehen. Sobald ich das Signal gebe, bringt ihr euch in Sicherheit. Das Schlepptau wird enorm belastet und ihr solltet nicht in der Nähe des Taus sein, falls die Schleppverbindung reißt.«
Nach einer letzten Absprache mit der Schiffsführung gab Onno Elzinga das vereinbarte Signal. Der Bugstrahl und der Hauptantrieb des Tankers wurden auf volle Leistung geschaltet.
Elzinga legte beide Fahrhebel zunächst auf langsame Fahrt voraus. Die Schleppverbindung zwischen dem Polizeiboot und dem Vorschiff des Tankers spannte sich. Vorsichtig erhöhte Elzinga die Drehzahl der siebenhundert PS starken Motoren, bis beide Maschinen in Vollast liefen.
Die Schleppverbindung hielt.
»Da kannste Geige drauf spielen«, meinte Hans Schulz. Er rieb sich die Stirn, in der Aufregung hatte er vergessen, bei der Tür den Kopf einzuziehen.
Die drei Kollegen verfolgten vom Ruderhaus des Bootes aus gebannt das Manöver. Diekmann fragte: »Bewegt er sich?«
Schulz schrie gegen den Krach der Maschinen an: »Ich glaube … Warte … Tatsächlich: Das Vorschiff des Tankers kommt frei!«
In diesem Moment hörten sie auch schon die aufgeregte Stimme des Schiffsführers aus dem Lautsprecher: »Polizeiboot – wir sind frei!«
»Das war knapp und für uns ein hohes Risiko, schließlich sind wir kein Schlepper«, sagte Ferdinand Diekmann erleichtert.
»Danach fragt jetzt keiner mehr.« Onno Elzinga atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Holt das Tau ein, sonst haben wir es noch in der Schraube.«
Onno Elzinga wies den Schiffsführer an, den Außenhafen Emden anzulaufen. Dort sollte die Fachbehörde den Tanker auf Schäden durch die Grundberührung untersuchen. »Wir fahren voraus und werden Sie bis zum Hafen begleiten«, gab Elzinga durch. »Den Unfall nehmen wir dort auf. Ohne die Genehmigung durch die Fachbehörde dürfen Sie aus dem Hafen nicht auslaufen. Haben Sie das verstanden?«
Die Stimme des Tankerschiffsführers klang schon etwas entspannter, als er sagte: »Geht klar. Wir sind nur froh, dass wir wieder freigekommen sind!«
›Wir auch‹, hätte Elzinga fast gesagt und sah den Kollegen an, dass sie dasselbe dachten.
Hans Schulz hatte sich seine Einsatztasche gegriffen und schien schon zu überlegen, was er später alles bei der Unfallaufnahme beachten musste. Hoffentlich vergaß er nichts. Insbesondere für diese Fahrt des Tankers im Nebel waren etliche Spezialvorschriften zu beachten. Onno Elzinga sah, wie Hans Schulz die Formulare durchschaute, um zu prüfen, ob er auch alles dabeihatte.
»Vergiss bloß nicht den Alcotest«, erinnerte ihn Elzinga.
Hans Schulz wühlte in der Einsatztasche und sah Elzinga an. »Schon eingepackt!«
»Und denk auch daran, für eine entspannte Atmosphäre während der Unfallaufnahme zu sorgen!«, grinste Elzinga.
»Du verarschst mich!« Schulz sah seinen Kollegen Elzinga dabei unsicher an.
»Noch nichts von No-blame-atmosphere gehört?«, fragte Ferdinand Diekmann lachend. Die Anspannung ließ nach, und die Besatzung des Polizeibootes kehrte zu den üblichen Frotzeleien zurück.
»Was meint ihr eigentlich?«, fragte Hans Schulz verwirrt.
»Die neuen Vorgaben für die Untersuchung von Seeunfällen«, erklärte Elzinga. »Wir arbeiten für die neue Bundesstelle, die die Seeunfälle ähnlich wie Flugunfälle untersucht. Bei der ersten Aufnahme soll für eine entspannte Atmosphäre gesorgt werden.«
»Wie soll das denn gehen? Der Schiffer weiß doch ganz genau, was auf ihn zukommt«, meinte Hans Schulz.
Diekmann nickte. »Hat sich was mit Entspannung, wenn ein Verfahren wegen Verkehrsgefährdung droht!«
»Wir sollten uns wohl lieber auf unseren Kurs konzentrieren, sonst dürfen nachher wir in einer entspannten Atmosphäre peinliche Fragen beantworten«, grinste Elzinga.
*
Außenhafen Emden
Sie beobachteten, wie der Tanker mit der Backbordseite am Anleger festgemacht wurde.
Diekmann öffnete die Ruderhaustür und rief Elzinga zu: »Fender an Steuerbord und auf dem Mittelpoller eindampfen?«
Elzinga nickte. »Ja, ich leg mit der Steuerbordseite direkt vor dem Tanker an.«
Diekmann und Schulz machten die Fender und Festmacher an der Steuerbordseite klar und Elzinga manövrierte das Boot an den Anleger.
Die Kollegen an Deck waren noch mit dem Festmachen beschäftigt, als ein Streifenwagen auf dem Anleger in Höhe des Dienstbootes anhielt.
»Hansen persönlich!«, bemerkte Ferdinand Diekmann.
»Der will sicher die Lage peilen«, meinte Hans Schulz. »Find ich auch gut, dass er sich vor Ort sehen lässt.«
»Hauptsache, er fällt uns nicht aufs Deck.« Sie sahen zu, wie Hansen die Leiter herunterkletterte.
»Moin, Kollegen! Erzählt mal, was war denn nun?«
Die Bootsbesatzung erklärte ihrem Chef, was sie bis jetzt wussten.
»So«, beendete Elzinga seinen Bericht, »und Hans soll schon mal an Bord des Tankers und Ferdinand und ich wollen nur noch das Boot ordentlich festmachen und ihm dann helfen.«
»Äh, ich weiß, aber … ich hätte da noch einen kleinen Auftrag für euch beide, und wir müssen umdisponieren.« Hansen hielt beschwichtigend die Hände hoch. »Einen Gefangentransport von Borkum bis Emden. Es ist wichtig, sonst würde ich euch nicht fragen. Und nein, bevor ihr fragt: Fähre ist nicht möglich.« Hansen kletterte über die Reling und griff nach der ersten Sprosse der Leiter. »Ich werde Hans beim Seeunfall selbst unterstützen, und ihr beide könnt jetzt mit dem letzten Strom nach Borkum fahren. Die zwei Kollegen, die den Gefangenen überführen sollen, werden euch im Schutzhafen erwarten.«
Hans Schulz griff sich seine Tasche und sah Elzinga und Diekmann verzweifelt an. »Das fehlt mir noch«, sagte er leise. »Der Chef zugegen bei der Unfallaufnahme …!«
Elzinga und Diekmann sahen vom Streifenboot aus zu, wie die Kollegen an Bord des Tankers gingen. »Das ist ja nun mal blöd gelaufen«, sagte Elzinga. »Hans war schon nervös und jetzt hat er auch noch Hansen im Genick.«
»Tja, typisch Hansens Überfalltaktik«, bemerkte Diekmann. »Zum Protest kamen wir gar nicht.«
»Das, Kollege, war sicher so gewollt! – Wann ist Niedrigwasser in Emden … Das wird eng«, meinte Elzinga. »Dann man lego.«
*
Auf der Fahrt von Emden zur Insel Borkum
Kurz darauf meldete sich Elzinga über Schiffsfunk bei der Verkehrszentrale an der Knock, gab Auslaufsignal und das Boot nahm Kurs auf Borkum. Mit dem Ebbstrom kamen sie zügig voran. Über den Geisedamm an der linken Seite konnte Onno auf die Weite des Dollarts blicken. Vor ihnen lag nun die Flusskurve an der Knock. Diese verlief in einem weiten Bogen nach rechts. Bei Hochwasser konnte man dem inneren Kurvenverlauf folgen, dem sogenannten K.-Weg. Diese Abkürzung war aber bei Niedrigwasser riskant, weil in diesem Bereich die Wassertiefe stark abnahm. Kein schönes Gefühl, wenn der elektronische Tiefenanzeiger plötzlich immer weniger Wasser unter dem Kiel anzeigte. Elzinga zog es deshalb vor, den sicheren weiten Bogen zu fahren.
Die Sicht war mäßig und je weiter sie Richtung See fuhren, desto mehr vergrößerte sich der Abstand der Fahrwassertonnen. Das UKW-Funkgerät wurde regelmäßig auf die jeweiligen Verkehrskanäle umgeschaltet. Sie passierten Eemshaven und die Ems wurde immer breiter und – was Onno besonders freute – immer sauberer. Der Bug des Bootes teilte klares Wasser. Die Bootsmotoren dröhnten und die salzige Meeresluft strömte durch die zur Leeseite geöffnete Ruderhaustür. Diekmann hatte Tee gemacht und beide hielten eine Tasse in der Hand und sahen zu, wie der Horizont immer weiter wurde. Jeder war kurz in seiner eigenen Traumwelt gefangen.
»Einfach schön!«, seufzte Ferdinand Diekmann schließlich. »Was meinst du, wir fahren einfach immer weiter raus bis nach England und noch weiter.«
»Schön wär’s … Aber du weißt ja: Fischerbalje und dann Kursänderung nach Steuerbord. Vorbei der Traum von der großen Seefahrt.« Onno Elzinga trank die Tasse leer und nickte Diekmann zu. »Ich kann gut verstehen, dass unsere Touristen immer wiederkommen.«
An der Fischerbalje legte Elzinga das Ruder hart Steuerbord und nahm Kurs auf den Schutzhafen von Borkum. Er meldete sich bei Borkum Radar und als sie den Sportboothafen passierten, gab er das Einlaufsignal. Als Liegeplatz wurde ihnen Brücke 2 zugeteilt. Diekmann machte Fender und Festmacher klar und Elzinga legte vorsichtig mit der Steuerbordseite an.
*
Schutzhafen der Insel Borkum
An der Landseite stand ein Streifenwagen, ein alter Bulli. Ein uniformierter Kollege und zwei Zivilpersonen stiegen aus und kamen über den abschüssigen und quietschenden Anleger zum Dienstboot herüber.
»Der in der Mitte hat die Acht um«, sagte Ferdinand Diekmann. »Der in Uniform ist Kollege Lütters und den andern, den in Zivil, den kenn ich nicht.«
»Ich glaube, das ist der Broning.« Als die drei näher heran waren, öffnete Elzinga die Relingspforte. »Moin, Kollegen! Kommt an Bord und passt auf, bei der Eingangstür ist eine tiefe Stufe.«
Im Ruderhaus gaben sich die Kollegen die Hand. »Mein Kollege Ferdinand Diekmann«, stellte Elzinga vor, »und ich bin Onno Elzinga.«
Der Kollege in Zivil trug eine alte Lederjacke. Die dunkle Cargohose und das helle Bauwollhemd sahen so aus, als hätten sie lange kein Bügeleisen mehr gesehen. Er sah Elzinga an. »Gesehen haben wir uns schon mal, glaube ich zumindest, aber trotzdem: Jan Broning, 1. FK Kripo Leer, und das hier ist Kollege Lütters von der Station Borkum.«
Elzinga verkniff sich ein Grinsen. Größer hätten die Gegensätze zwischen den beiden Männern, die vor ihm standen, nicht sein können. Elzinga schätzte Bronings Körpergröße auf einsneunzig. Er hatte breite Schultern, aber auch einen leichten Bauchansatz. Haare und Bart sahen ungepflegt aus. Lütters war klein und dick. Seine Uniformhose und das Hemd präsentierten sich ordentlich gebügelt und die Schuhe glänzten. Er bemühte sich, wichtig auszusehen, und verzog keine Miene.
Der Mann in Handschellen räusperte sich, und mit süffisantem Grinsen stellte er sich selbst vor: »Weichers mein Name. Alias Der heiße Detlef. Die Hitze bezieht sich übrigens auf mein unehrenhaftes Handwerk.«
»Nun, Herr Weichers, Humor haben Sie ja«, sagte Elzinga, »hoffentlich auch Vernunft. Ich möchte Ihnen die Handschellen zumindest für die Überfahrt abnehmen, wenn Sie …«
»Bitte! Ich versprech auch, brav zu sein, Herr Flottenkommandeur.« Weichers hielt Elzinga die gefesselten Hände mit einer bühnenreifen Geste entgegen.
»Dann schlage ich vor, Sie gehen mit meinem Kollegen Lütters in die Kombüse. Die Schubladen und Schränke sind abgeschlossen und eine Kamera ist auch vorhanden. Falls Ihnen schlecht werden sollte, melden Sie sich bitte frühzeitig.«
»Jawohl Herr …« Weichers grinste. »Sie wissen schon.«
Lütters nahm dem Gefangenen die Acht ab und führte ihn in die Kombüse.
»Kollege Broning«, sagte Elzinga, »Sie können uns hier oben gerne Gesellschaft leisten.«
»Gerne, aber nur, wenn wir uns duzen. Ich heiß Jan und ich versuch auch, nicht im Wege zu stehen.«
Jan Broning verunsicherte Onno Elzinga etwas, er hätte nicht sagen können, wieso. Lag es am äußeren Erscheinungsbild? Die blonden Haare und der Vollbart waren eindeutig zu lang. Die große und kräftige Gestalt wirkte irgendwie eingesunken und kraftlos. Die breiten Schultern hingen leicht nach vorn. Die Augen waren gerötet. Dazu die dunklen Augenränder und die blasse Gesichtsfarbe … Der Mann sah müde aus, als hätte er seit längerer Zeit schlecht oder gar nicht geschlafen. Eigentlich passt das alles gar nicht zur Ausstrahlung des Mannes. Du hast schon bessere Zeiten erlebt, Kollege, dachte Elzinga.
Er startete die Maschinen und Diekmann ging an Deck und löste die Festmacher. Nach drei kurzen Signaltönen legte Elzinga zunächst die Steuerbordmaschine auf ›Zurück‹, und nachdem das Heck den nötigen Abstand zum Anleger hatte, legte er auch den Fahrhebel der Backbordmaschine auf diese Position.
Er drehte das Boot im Hafenbecken und Diekmann ging zum Bug als Ausguck. Ein langer Ton, und das Boot verließ den Schutzhafen. Elzinga hörte das Einlaufsignal einer Fähre. In der Fischerbalje kam ihnen die Friesland entgegen.