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2.
Nördliches Rheiderland
Er sah in den Spiegel und betrachtete sein müdes, blasses Gesicht. Die fettigen Haare und die Bartstoppeln machten es auch nicht besser. Rote Augen und schwarze Augenringe vervollständigten den elenden Eindruck.
Er ließ die Sonnenrollos vor den Fenstern herunter und beschloss, den Spiegel zu meiden. Sein Blick streifte die dreckige Spüle, in der sich schmutziges Geschirr stapelte.
Das war also übrig vom Neuanfang in diesem Kaff. Egal, wohin man zog, man nahm sich und seine Probleme immer mit.
Der Anfang hier war irgendwie verkrampft verlaufen. Seine Ehefrau hatte alles richtig machen wollen. Hatte sich um ihn gekümmert und versucht, besonders nett zu ihm zu sein. Sie war ständig beschäftigt gewesen, so als vermiede sie es, ihm gegenüberzusitzen. Er hatte meistens in der Küche herumgesessen und sich nicht aufraffen können, etwas Sinnvolles zu tun. Seine Frau hatte immer wieder versucht, ihm irgendwelche Aufträge zu geben. Angeblich sei nach dem Umzug noch vieles zu erledigen. Wenigstens zum Arzt sollte er gehen.
Er hatte sich einen Arzt gesucht, einen Termin vereinbart und gehofft, dass seine Frau nun Ruhe gab.
Der Arzt hatte sich angehört, wo seine Probleme lagen, und vermutete, dass eine Depression vorlag.
Eine Überweisung zum Facharzt war ausgestellt worden und er hatte Tabletten verschrieben bekommen. Die sollten ihm dabei helfen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Aggressionen! Nur weil er sich beim Arztbesuch im Wartezimmer etwas aufgeregt hatte …
Die Tabletten lagen noch vollständig in der Schublade und einen neuen Termin hatte er sich auch noch nicht besorgt. Seine Frau machte ihm deswegen Vorwürfe, die er beständig ignorierte.
Seine Frau war zu ihm auf Abstand gegangen, nicht nur im Bett.
An einem Morgen nach einem taubstummen Frühstück hatte sie zu ihm gesagt: »Geh doch mal unter Leute! Heute Abend ist im Sielhus in Jemgum eine Veranstaltung. Thema ist die Emsvertiefung und der Deichschutz. Das interessiert dich doch immer.« Sie hatte ihm die Tageszeitung hingeschoben und mit dem Finger auf die Ankündigung getippt.
Er hatte sich dann tatsächlich am Abend aufgerafft und war nach Jemgum gefahren, um an der Versammlung teilzunehmen. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, seine Frau wollte ihn loswerden.
Zunächst hatte er das unscheinbare kleine Haus gar nicht finden können. So begann der Abend schon recht merkwürdig, als er einen Spaziergänger nach dem Sielhus fragte. Der reagierte mit Kopfschütteln. »Wo wird es wohl sein, das Sielhus – natürlich am Siel! Das Siel ist dieser Kanal und das kleine Haus mit dem schön restaurierten Giebel dort am Kanal, das ist unser Sielhus.«
Der Flur des Sielhauses lief mit starkem Gefälle nach hinten ab. Eine Erklärung konnte er den Erläuterungen zu den Fotos entnehmen, die an der Wand hingen: Danach sollte das vorn eingedrungene Hochwasser hinten wieder ablaufen.
Der Hafen hatte früher bis an das Gebäude herangereicht. Der spätere Ausbau des Hochwasserschutzes mit dem vorverlegten Deichdurchlass und dem Schöpfwerk hatte das Dorf vor Hochwasser bewahren sollen, das kleine Gebäude war dadurch vom Hafen abgeschnitten worden.
Stimmen drangen aus einem Raum, und er öffnete die Tür.
Der Schankraum war sehr klein. Neben der Theke befand sich eine Art Kaufmannsladen. Die Wirtin zapfte gerade ein Bier und bemerkte seinen fragenden Gesichtsausdruck. »Da staunen Sie, was? Hier haben früher die Schiffer ihre Kluntjes gekauft und anschließend noch ein Bier getrunken.«
»Ist hier dieser Vortrag wegen der Emsvertiefung?«
Die Wirtin sah ihn über den Brillenrand an. »Im Nebenraum, geht gleich los. Aber passen Sie auf die Stufe auf. Möchten Sie etwas trinken?«
Mit einem Bier in der Hand betrat er den kleinen Versammlungsraum und wäre fast der Länge nach hineingestolpert. Den Sturz konnte er verhindern, aber die Hälfte seines Bieres spritzte auf zwei Männer, die ihn daraufhin finster ansahen. Er entschuldigte sich und setzte sich auf einen freien Stuhl.
Ein Mann im Fischerhemd ging an das Rednerpult und stellte sich als Mitglied des Naturschutzbundes vor. »Ich darf heute Abend auch einige Vertreter der Deichbehörde und des Wasseramtes begrüßen. Die Herren sind bereit, einige Fragen zu beantworten.«
Er nippte an seinem halb vollen Bierglas und versuchte, sich auf die Ausführungen der Behördenvertreter zu konzentrieren.
»Meine Damen und Herren, die Wirtschaft verlangt nach immer größeren Schiffen. Der Markt bestimmt die Bedingungen, wir müssen baggern, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen.«
Die Veranstaltung nahm ihren Lauf, und er bestellte sich schließlich das fünfte Glas Bier. Nervös bemerkte er, dass die Männer, die er mit Bier bespritzt hatte, ihn immer wieder beobachteten. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, für beide auf seine Rechnung ein Bier zu bestellen. Aber in diesem Moment hörte er das Wort »Arbeitsplätze« vom Vortragenden und es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl.
»Jetzt kommen Sie wieder mit diesem Totschlagargument Arbeitsplätze – und was ist, wenn die Deiche brechen?! Haben Sie schon mal die Flutmarken in Pogum und Wynhamster Kolk gesehen? Der Deich ist in der Vergangenheit dort schon gebrochen.«
»Dafür haben wir ja auch das Sperrwerk gebaut.«
»Sie meinen wohl den Staudamm.« Er redete sich immer weiter in Rage.
Zunächst stimmte man ihm noch zu. Einige andere Zuhörer baten ihn jedoch, sie auch einmal zu Wort kommen zu lassen. Wutschäumend ignorierte er sie, und schließlich beschimpfte er die anderen Zuhörer. »Ihr seid doch zu blöd, um zu erkennen, was die wollen! Die Deiche werden wieder brechen und ihr Ignoranten sauft alle ab!«
Dem Nabu-Mann reichte es: »Wir haben hier das Hausrecht und wir möchten Sie bitten, diese Versammlung zu verlassen. Diese Art bringt uns hier nicht weiter. Also bitte!« Er wies auf die Ausgangstür.
»Ihr Idioten … Von mir aus könnt ihr alle ersaufen.« Er bezahlte seine Rechnung an der Theke und verließ das Sielhus.
Draußen hatte er sich zunächst einen Joint drehen wollen und nicht auf die beiden Männer geachtet, die ebenfalls die Kneipe verlassen hatten. Plötzlich wurde ihm von hinten die Jacke über den Kopf gerissen und ein Faustschlag traf ihn in den Magen.
Er wurde in den Schwitzkasten genommen und nach vorn gerissen. Der Arm um seinen Hals löste sich und gleichzeitig wurde er nach vorn gestoßen. Er stolperte vorwärts, verlor den Halt und rollte eine Böschung hinab. Kurz darauf schlug das Wasser des Siels über ihm zusammen. Er strampelte mit den Beinen und versuchte, sich von der Jacke zu befreien. Seine Füße versanken im weichen Boden des Siels, aber das Wasser war nur hüfthoch.
Als er die rutschige Böschung hinaufkletterte, hörte er das Lachen der beiden Männer, die ihn ins Siel geworfen hatten. »Lass dich hier nie mehr blicken, du Großmaul.«
Mit Schlamm beschmiert, keuchend und mit schmerzverzerrtem Gesicht kroch er hoch. Auf dem Weg zu seinem Auto achtete er darauf, dass ihn niemand sah.
Als er endlich zitternd im Wagen saß, sah er zum Sielhus, wo einige Männer zusammenstanden und sich köstlich amüsierten. »Ich werde mich rächen«, murmelte er hasserfüllt. »Eines Tages werde ich es euch heimzahlen.«
Zu Hause sah seine Frau dann entsetzt zu, wie er verdreckt aus dem Auto stieg. Er schämte sich so sehr, und als seine Frau wissen wollte, warum sie ihn in den Kanal geworfen hatten, schrie er sie an. »Du bist schuld! Hast mich dahin geschickt! Wolltest mich loswerden!«
Die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank machte die Sache auch nicht besser und seine Frau wurde nun ebenfalls wütend. Sie hatten sich schon oft gestritten, aber diesmal überschritt er eine Grenze, als er ihr ins Gesicht schlug.
Diese eine Ohrfeige, deshalb musste man doch nicht gleich ausziehen …!
Seine Frau hatte weinend ihren Koffer gepackt und sich ohne ein Wort des Abschied in den Mercedes gesetzt. Alle hatten sich gegen ihn verschworen und sich von ihm abgewandt. Nun war er allein und hatte zur Gesellschaft nur noch den Alkohol, die Joints aus dem holländischen Coffeeshop und seine Wut.
Bevor sie hier eingezogen waren, hatte er alle Zeitungsausschnitte über die Ems gesammelt. Die Briefe, die er wütend an die Verantwortlichen gesandt hatte, waren unbeantwortet geblieben. Die darauf folgende Antriebslosigkeit und dann diese persönliche Katastrophe … Die folgenden Tage hatte er mit Selbstmitleid verbracht.
Er hatte Rachepläne geschmiedet und sie wieder verworfen.
Ja, er hatte auch mit dem Gedanken gespielt, sich zu vergiften oder aufzuhängen.
Dann eines Abends kam die Wende, als er auf den Bildschirm des Fernsehers den Bericht über den schweren Unfall auf der Autobahn sah. Jugendliche hatten Steine von einer Brücke auf den fließenden Verkehr geworfen. Eine Frau war am Kopf getroffen worden und später an ihren schweren Verletzungen gestorben.
Er sah sich in seiner dunklen Küche um. Selbstmord, nein – so einfach würde er es ihnen nicht machen. Neue Energie durchströmte ihn und er begann damit, die für ihn so wichtigen Zeitungsausschnitte und Briefe zu sortieren
Dabei musste er immer wieder an den Steinewerfer denken und die Puzzelteile eines Plans setzten sich mühsam zusammen.
Ja, so gefiel er sich schon besser! Brücken führten nicht nur über Straßen, sondern auch über Flüsse. Nebel wäre günstig, sonst würde man ihn erkennen. Und worauf sollte er die Steine werfen?
Er hatte in seinen Unterlagen geblättert und einen Artikel über die zu häufigen Brückenöffnungen wegen der Baggerschiffe gefunden, den er aus der kostenlosen Sonntagszeitung ausgeschnitten hatte.
3.
Auf der Ems unter den Brücken
Henk de Olde manövrierte seinen Bagger gerade durch die Öffnung der Straßenbrücke, als ein explosionsartiger Knall auf dem Dach des Ruderhauses ihn erstarren ließ.
Ein zweiter Schlag zerstörte die vordere Scheibe. Ein Glasregen ging auf Henk nieder und er spürte einen Schlag an der Stirn. Obwohl sich in seinem Kopf die Gedanken und Befürchtungen nur so überschlugen, steuerte Henk instinktiv den Bagger sicher durch die Öffnung der Brücke.
»Gott verdammich!« Maschinist Pieter ten Broek kam auf die Brücke gerannt, wo der Schiffsführer blutüberströmt auf dem Steuerstuhl saß und nach draußen in die Dunkelheit stierte. »Henk, was zum Teufel ist passiert? Haben wir die Brücke gerammt? Wo ist Martin?«
Die Tür wurde aufgerissen, Martin schaltete die Ruderhausbeleuchtung ein und rief entsetzt: »Steine! Steine! Die haben Steine von der Brücke auf uns geworfen!«
Henk fuhr auf. »Verdammt, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Beleuchtung nachts nicht einschalten!«
»Gott sei Dank, du lebst! Für einen Moment habe ich gedacht, du seist tot«, sagte Pieter ten Broek. Er starrte auf das blutverschmierte Gesicht seines Kollegen. »Martin, hol den Verbandskasten. – Henk, kannst du weiterfahren?«
»Es geht schon.« De Olde befühlte seine blutige Stirn. »Die herausgebrochene Klarsichtscheibe hat mich zum Glück nur gestreift.«
4.
Wasserschutzpolizeistation Leer
Spätdienst.
Die Wache der kleinen Wasserschutzpolizeistation war wieder nur mit einem Beamten besetzt.
Kommissar Onno Elzinga hörte mit einem Ohr auf die Gespräche im Polizei- und Seefunk, während er sich mit der lästigen Verwaltungsarbeit herumquälte. Er ärgerte sich über den schlechten Empfang der verschiedenen Funkgeräte. Wo blieben nur die längst versprochenen neuen, digitalen?
Er bearbeitete nun schon den dritten Seeunfall am Fluss in kürzester Zeit. Die durch die Baggermaßnahmen verursachte starke Strömung forderte ihren Preis.
Die Aufnahme eines Seeunfalles an Bord machte Onno Spaß. Die anschließende Verwaltungsarbeit, die ständig weiter ausuferte, eher weniger. Was soll’s! Onno war froh über diesen krisensicheren Arbeitsplatz, noch dazu in Heimatnähe.
Zeit für eine Tasse Tee. Auf dem Weg zum Sozialraum blieb er kurz vor dem großen Spiegel stehen. Die fünfundzwanzig Dienstjahre im Wechselschichtdienst hatten ihre Spuren hinterlassen. Aber bei den ganzen Falten waren sicher auch einige Lachfalten dabei.
Er sollte allerdings wirklich etwas abnehmen, dachte er, als er seine Teetasse an den Schreibtisch trug. Onno bemühte sich mit Erfolg, die Personenwaage zu ignorieren, aber über hundert Kilo hatte er bestimmt. Seine mittelblonden Haare wurden langsam antik. Sein Vollbart wies inzwischen alle möglichen Graustufen auf und sein Gesicht wurde auch immer länger, weil die Haare sich verabschiedeten. Das war Pech, aber seinen Bauch, den hatte er selbst verursacht. Nächste Woche fange ich mit Diät an, hatte er seiner Frau erklärt. Die hatte nur gelacht.
Aufgewachsen war Onno in einem kleinen Dorf im Grenzgebiet. Als Kinder hatten sie oft am Fluss gespielt. In der alten, längst abgerissenen Badeanstalt direkt am Fluss hatte er Schwimmen gelernt und mit dem Vater oft am Ufer geangelt. Die Entscheidung, zur Wasserschutzpolizei zu gehen, war deshalb für ihn leicht gewesen.
Es war schon kurz vor Dienstende, als Onno plötzlich aufgeregte Stimmen im Funk hörte. Der automatische Abhörmodus des Seefunkgerätes hatte sich auf den Kanal 15 geschaltet. Das Gerät überwachte automatisch die Seefunkkanäle 10, 13 und 15. Der Kanal 15 war für die Brücken und die Verkehrszentrale am Fluss vorgesehen.
Die männliche Stimme im Lautsprecher überschlug sich: »Steine! Sie haben Steine auf uns geworfen!« Onno erkannte die markante Stimme vom Baggerführer Henk.
Der diensthabende Nautiker der Verkehrszentrale schaltete sich ein: »Hier ist Ems Traffic. Wahren Sie Funkdisziplin! Wer spricht hier auf Kanal 15?«
»Verkehrszentrale, hier spricht Schiffsführer Henk de Olde vom Saugbagger Arne Monsing. Wir sind gerade durch die Straßenbrücke gefahren, als man uns mit Steinen beworfen hat.«
Das war ein Fall für Onno. Er schaltete den Scanmodus am Funkgerät aus, damit er Funkkontakt mit der Besatzung des Baggers aufnehmen konnte. »Saugbagger für Wasserschutzpolizei kommen!«
»Wir hören.«
»Wurden Personen verletzt?«
»Ich wurde am Kopf getroffen. Sonst sind alle okay!«
»Können Sie den Bagger weiterfahren?«
»Sieht schlimmer aus, als es ist. Ja, ich kann den Bagger weiterfahren.«
»Fahren Sie zum ersten Anleger am roten Tonnenstrich gegenüber vom Jemgumer Hafen. Ich alarmiere einen Rettungswagen für Sie.«
Onno informierte die Rettungsleitstelle. Sie vereinbarten, dass er den Rettungswagen vor Ort einweisen sollte, denn die kleine Straße, die über den Deich zum Anleger führte, war bei Dunkelheit und Nebel trotz Navi schlecht zu finden.
Er packte die Einsatztasche, das Fernglas und das mobile Seefunkgerät in den Streifenwagen und fuhr in Richtung Anleger. Unterwegs informierte er die benachbarten Polizeidienststellen und bat um Unterstützung. Insbesondere die Fahndung nach dem Steinewerfer musste sofort beginnen.
Das war knapp! Im letzten Moment riss er das Lenkrad nach links. Sein Streifenwagen war nach rechts von der Fahrbahn abgekommen. Funken und Fahren geht eben nicht gleichzeitig, dachte Onno, als er das Tempo wieder erhöhte.
Er traf fast gleichzeitig mit den Rettungskräften am vereinbarten Treffpunkt ein. Onno übernahm mit dem Streifenwagen die Führung und lotste den Krankenwagen zum Anleger.
Das Anlegemanöver des Baggers verlief ohne Probleme. Onno nahm die Festmacher des Baggers an und belegte sie. Der Matrose begleitete den Notarzt und einen Sanitäter zur Brücke, wo sie Baggerführer Henk zunächst untersuchten.
»Eine üble Platzwunde. Verdacht auf Gehirnerschütterung. Wir nehmen ihn mit zum Krankenhaus und werden ihn dort untersuchen.« Der Arzt legte dem Verletzten einen Kopfverband an und dann begleitete der Sanitäter Henk zum Rettungswagen.
»Finden Sie den Weg alleine zurück?«, fragte Onno den jungen Notarzt.
Der nickte. »Jetzt kennen wir uns ja aus.« Und schon war der Rettungswagen auf dem Weg zum Krankenhaus.
Aus dem Außenlautsprecher des Polizeifunkgerätes hörte Onno aufgeregte Stimmen. Er sollte sich gefälligst melden, wenn die Kollegen ihn schon unterstützten.
»Ich bin allein unterwegs und war kurz außerhalb«, erklärte er.
Die alarmierten Einsatzkräfte hatten die Brücke erreicht und die Umgebung abgesucht, aber keine verdächtigen Personen gefunden. Onno gab eine kurze Lagemeldung durch und ging wieder an Bord des Baggers. Zunächst war es für die Fahndung wichtig, festzustellen, ob die Besatzung Hinweise auf den Steinewerfer geben konnte.
Die Befragungen des Matrosen und des Maschinisten verliefen enttäuschend. Es gab keinerlei Hinweise auf den oder die Täter. Onno notierte Personalien und die Erreichbarkeit der Besatzung und bat den Maschinisten Pieter, Henks Ehefrau schonend zu informieren. Dann telefonierte er mit dem Bereitschaftsdienst. Die Spurensicherungsleute waren an einem anderen Tatort beschäftigt, für ihn bestand keine Hoffnung, sie schnell herzubekommen.
Beim Lehrgang für Tatortarbeit hatte Onno gelernt, wie er sich verhalten sollte. Dieser Tatort hier war allerdings inzwischen sowieso durch die vielen verschiedenen Personen, die hier zu tun gehabt hatten, total versaut worden, und Onno kam zum Ergebnis, dass er den auch selber aufnehmen konnte.
Er fotografierte die Brücke, insbesondere das Ruderhaus, innen und außen, maß alles aus und hielt die Lage der Steine im Ruderhaus auch schriftlich fest. Dann allerdings beichtete ihm die Besatzung, dass sie die Steine zur Seite gelegt hatten, um in der Dunkelheit nicht darüber zu stolpern.
»Liegen noch weitere Steine an Deck?«, fragte Onno.
»Nein, das waren nur diese beiden«, antwortete der Matrose.
Die beiden Steine waren jeweils etwa fünf Kilo schwer. »Vermutlich stammen die aus der Uferbefestigung am Fluss. Spuren kann ich nicht erkennen«, dachte Onno laut. »Haben Sie vielleicht einen Karton oder etwas Ähnliches für mich?«
»Tut es auch eine Gemüsekiste aus der Kombüse?«
Der Matrose säuberte die Kiste für ihn, Onno streifte Einmalhandschuhe über und legte die Steine vorsichtig hinein.
Dabei hörte er die Gespräche der Kollegen über das tragbare Funkgerät mit. Er hoffte immer noch, dass sie den Täter an der Brücke oder in der Nähe festnehmen konnten. Die Minuten verliefen jedoch ohne eine Erfolgsmeldung und Onnos Hoffnung sank. Je mehr Zeit verstrich, desto geringer war die Chance.
Er schaltete vom Scanmodus auf Sendebetrieb zurück. »Hier ist Passat 20, könnt ihr bitte noch zum Brückenwärter fahren und ihn befragen, ob er etwas gesehen hat? Ich komme hier noch nicht weg.«
Die Stimme des Wachhabenden Klaus Hensmann krachte im Lautsprecher. »Moin, Onno. Bis jetzt ist hier alles negativ. Wir haben zwei Autos draußen, aber wonach sollen die suchen? Auf der Brücke war niemand und sonst haben wir keine Anhaltspunkte. Ich schick eine Besatzung zur Brücke, die sollen mit den Brückenleuten sprechen. Übrigens: Die Verbindung ist, vorsichtig formuliert, bescheiden.«
»Dafür kann ich dich gut hören, Klaus.« Elzinga hatte das Funkgerät auf Abstand zu seinem Ohr gehalten. Er dachte an die Sprüche der Kollegen: ›Klaus hört man auch ohne Funkgerät.‹ ›An dem ist ein Marktschreier verloren gegangen‹.
Elzinga brachte seine Ausrüstung zum Streifenwagen. Er verstaute den Spurensicherungskoffer, die Kamera und die sichergestellten Steine im Kofferraum.
»Passat 20 für die Wache.« Die laute Stimme von Klaus Hensmann dröhnte aus dem Außenlautsprecher des Streifenwagens. Elzinga warf die Heckklappe zu und setzte sich in den Streifenwagen. Er schaltet den Außenlautsprecher ab und griff zum Hörer des Funkgerätes.
»Klaus, hier ist Onno, ich höre.«
Als Hensmann antwortete, konnte Elzinga an der hektischen Stimme erkennen, dass dort wieder einmal die Luft brannte. »Der Brückenwärter hat nichts gesehen und wir haben jetzt zwei Schwertransporte. Ich mache eine Eintragung im Vorgangssystem. Tut mir leid, mehr können wir nicht tun.«
»Klaus danke für eure Unterstützung.« Elzinga ließ die Sprechtaste des Hörers los und startete den Motor.
Auf der Rückfahrt zur Dienststelle überlegte Onno Elzinga, was er jetzt noch tun könnte. Die Fahndung war im Sand verlaufen. Kein Wunder, über den Steinwerfer war so gut wie nichts bekannt. Vielleicht wäre eine Pressemitteilung sinnvoll.
Er brachte die Ausrüstung zusammen mit den Steinen ins Büro, griff zum Telefon und wählte die Nummer seines Chefs Rudolf Hansen. Er erzählte ihm, was sich an Bord des Baggers ereignet hatte.
»Onno, die Idee mit der Pressemitteilung ist gut«, meinte Hansen. »Außerdem setzt noch bitte ein Fernschreiben ab. – Ach ja, und: Bitte zeitnah, das Ganze.«
»Also sofort.« Das hatte Elzinga befürchtet.
Zunächst einmal rief er aber noch im Krankenhaus an. Erst wollte man ihm keine Auskunft geben. Schließlich sagte man ihm aber doch, dass es dem Baggerkapitän den Umständen entsprechend gut ginge.
Wenigstens eine gute Nachricht.
Elzinga brütete über seinem Bericht. Nach einigen Versuchen war er fertig. Klares Amtsdeutsch und schön kurz. Ein Bericht als Fernschreiben und gleichzeitig als Pressenotiz.
Das Faxgerät und der PC meldeten den erfolgreichen Versand. Eigentlich konnte er nun nach Hause. Jetzt noch die Abmeldung bei der vorgesetzten Dienststelle in Emden und dann Feierabend. Er griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer der Emder Wache.
Der Wachhabende der Wasserschutzpolizei in Emden Kalle Lubinus erkannte die Nummer der Leeraner Kollegen im Display, als er sich meldete. »Mensch, Onno, bei euch war ja richtig was los – und …«
»Allerdings«, unterbrach Elzinga seinen Kollegen. Er hatte keine Lust auf ein langes Gespräch, erst recht nicht mit diesem Plappermaul. »Und deshalb wollte ich jetzt Feierabend machen, Kalle. Vermutlich werden sich bei euch noch einige Presseleute melden. Ihr könnt auf die Pressemitteilung verweisen.«
»Jo, Onno, hab ich gerade aus dem Faxgerät gezogen«, bestätigte Kalle. »Da steht ja nicht viel drin, aber wir machen das schon mit den Presseleuten«, fügte er selbstsicher hinzu. »Und noch einen schönen Feierabend.«
Elzinga legte den Hörer auf. So ein Mist … Ausgerechnet Kalle Lubinus hatte als Wachhabender alle Gespräche über die gemeinsame Funkfrequenz mitgehört. Hoffentlich konnte der ausnahmsweise mal die Klappe halten, wenn die Vertreter der Presse wegen weiteren Einzelheiten zum Steinwurf anriefen.
Onno verriegelte die Türen, setzte sich in seinen Privatwagen und fuhr nach Hause.
Am nächsten Morgen traute Onno seinen Augen nicht, als er die kostenlose Sonntagszeitung aufschlug. Auf der ersten Seite wurde bereits über den Vorfall berichtet. Es wurde vermutet, dass Jugendliche aus Langeweile die Steine von der Brücke geworfen hatten.
Onno lief rot an und raufte sich die Haare. Da hatte doch ganz offensichtlich ein Kollege noch in der Nacht ohne Rücksprache Informationen gemischt mit Vermutungen an diese Wochenzeitung weitergegeben. Plappermaul Kalle wahrscheinlich, er hatte es ja geahnt …!