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Aufsteiger
Dass die Menschen im Kapitalismus das Objekt übermächtiger ökonomischer Prozesse sind, welche zur Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen kleiner Minderheiten führen, ist ein unbestreitbarer Sachverhalt. Nimmt man hinzu, dass die so beschaffene Gesellschaft Gleichheit und Freiheit für sich reklamiert, wird aus der Tatsachenfeststellung Kritik.
Auch Debray misst die Realität der bürgerlichen Gesellschaft an ihrem Selbstverständnis. Allerdings greift er nicht das Freiheitspathos auf, das die schrankenlose Selbstsucht eines jeden zur Voraussetzung für das Wohlergehen aller verklärt, weil – so das liberale Dogma – die Ordnung des Ganzen der »invisible hand« überlassen werden muss. Statt die Idee vom frei und ungestüm sich entfaltenden Subjekt durch die Arbeiter- und Angestelltenheere verhöhnt zu sehen, wirft Debray der bürgerlichen Gesellschaft umgekehrt vor, sie hielte die Einzelnen an zu langer Leine. Dabei kann er sich auf die — zum Freiheitspathos komplementäre – Korporationsideologie berufen, wonach Gesellschaft dergestalt entsteht, dass die Einzelnen durch den Beitritt zu einem Gemeinwesen auf einen erheblichen Teil ihrer ursprünglichen Freiheitsrechte verzichten. Der Preis fürs Dabeisein ist die Pflicht, sich auch gegen eigene Interessen dem Wohl des Ganzen zu unterwerfen. Von solcher Verbindlichkeit aber, meint nun Debray, könne in der Praxis keine Rede sein. Die Bürger reklamierten für sich zwar den Contrat social. Aber wenn sie das Ding in unverwässerter Form auch mal erfahren wollten, müssten sie zur Guerilla kommen; das zivile Leben biete davon bloß einen müden Abklatsch.
Horkheimer hatte die gleiche Vermutung, nur bewertete er den vermuteten Zusammenhang anders. Richtig ist zwar, dass die Gruppen, Cliquen und Banden, revolutionär oder nicht, kontrastreicher abbilden, was das Wesen des Zusammenhalts in der bürgerlichen Gesellschaft ist. Aber das spricht nicht für jene Gruppen, sondern es spricht gegen die bestehende Gesellschaft. In ihr ist das Regime der Zwangsverbände nur verschleiert und temporär gemildert, abgeschafft ist es nicht. Die alten Kasten und Stammesgebilde leben hinter der Fassade fort in neuer Form, und die Ursache dieser Kontinuität ist die der Herrschaft selbst.
Dergleichen Überlegungen hat Horkheimer vielerorts formuliert, unter anderem in Die Rackets und der Geist, einer Schrift, die im Zusammenhang mit der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung entstanden ist. Sie beginnt mit dem Satz: »Die Grundform der Herrschaft ist das Racket.«
Als Einmannbetrieb erscheint die Herrschaft häufig zwar. Aber selbst in der simplen Urhorde kann der Obergorilla den ganzen Verein nur kontrollieren, wenn der schon hierarchisch gegliedert ist. So stark ist keiner, dass er ganz allein alle anderen bezwingt. Sie könnten ihn in Stücke reißen, wenn sie sich nur zusammentun. Der Anführer braucht daher, wenn er sich behaupten will, die Gruppe der nächststarken Männchen. Sie helfen ihm, sie stützen seine Position, denn sie »wachen gegenüber den minder starken ebenso eifersüchtig über ihre Vorrechte wie ihnen gegenüber der Patriarch.« (Horkheimer Bd. 12: 287)
Macht ist zunächst mit physischer Kraft identisch, aber die Arbeitsteilung bringt mit neuen gesellschaftlichen Funktionen auch neue Kommandostrukturen ins Spiel. Befehlsgewalt und Vorrechte hat, wer die Schlüsselpositionen besetzt. Die Einzelnen können dies nur als Mitglieder einer Gruppe, und jede Gruppe setzt alle anderen voraus. Also hat man die Gesellschaft als ein abgestuftes System von Gruppen mit unterschiedlichem Anteil an Vermögen und Macht zu begreifen, und damit es so bleibt, müssen die Gruppen ihre Exklusivität verteidigen. Könnte jeder dem Club der Milliardäre beitreten, hätte man bald statt vieler Gruppen nur noch eine.
Der Beitritt ist daher stets an eine ganze Reihe von Bedingungen geknüpft, und je nach Herkunft des Bewerbers fallen sie verschieden aus. In einen Stand oder eine Kaste hineingeboren zu werden, reicht selbstverständlich nicht, auch Kinder privilegierter Eltern müssen vor der Aufnahme in den Privilegierten-Club vielfältige Prüfungen absolvieren. Das bedrohliche Brimborium und die Paukerei lehren den Nachwuchs, das Dabeisein als eine Gunst zu schätzen, die entzogen werden kann. Wenn der Junge aus gutem Haus gezwungen wurde, sich durch das verhasste Gymnasium zu quälen, und wenn er dann das Abitur nur durch Protektion seines Vaters bekommen hat, ist er klüger geworden. Er weiß, dass man ohne die eigene Sippe und Clique verloren ist.
Bei »Individuen, die nicht auf Grund der Abstammung schon ein Anrecht haben, in ein Racket aufgenommen zu werden«, kommt erschwerend hinzu, dass der Bewerber die Auswahlkriterien nicht weiß. In diesem Fall »gleicht die Prozedur nicht der Aufnahme der Jugendlichen in den Stamm, sondern der Einweihung ins bevorzugte Racket der Zauberer.« Aus Gründen des Machterhalts gibt sich die Clique rätselhaft, ihre Ratschlüsse müssen für Außenstehende unbegreiflich und unberechenbar bleiben. Leistung kann keinen Anspruch begründen, wenn unbekannt bleibt, welche zählt.
Gnade wiederum kann nur erwarten, wer aufgegeben hat. Er muss bereit sein, alles mit sich geschehen zu lassen. Zum Beitrittsritual gehört daher bei Jugendbanden oft, dass der Neuankömmling eine Tracht Prügel ohne Gegenwehr über sich ergehen lässt. Er muss die Schläge und die Demütigung wegstecken können, er darf nicht wehleidig, übelnehmerisch oder gar nachtragend sein. Er darf also weder Stolz besitzen noch Gedächtnis, vor allem aber keinen Hass.3 Andernfalls wäre zu befürchten, dass er die neue Position zum Begleichen alter Rechnungen nutzt. Wer drin ist, soll schon vergessen haben, wie man ihn behandelt hatte, als er ein Außenstehender war.
Deshalb ist an den Beitritt zur privilegierten Gruppe die Bedingung geknüpft, dass der Einzelne sich selber nicht mehr kenne. Berufsrevolutionäre, dekretierte Lenin, hätten dies zu sein und sonst nichts: »Hinter diesem allgemeinen Merkmal der Mitglieder einer solchen Organisation muss jeder Unterschied zwischen Arbeitern und Intellektuellen, von den beruflichen Unterschieden des einen wie des anderen ganz zu schweigen, völlig zurücktreten.« (Zitiert nach Voslensky 1980:103.) Der Beitrittsnachweis ist für die Mitglieder die Geburtsurkunde, ein anderes Leben als das derzeitig von ihnen geführte haben sie nie gehabt. »Die völlige Brechung der Persönlichkeit«, resümiert Horkheimer, »wird verlangt, absolut bündige Garantien der künftigen Zuverlässigkeit. Das Individuum muss sich aller Macht begeben, die Brücken hinter sich abbrechen. Als der echte Leviathan fordert das Racket den rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag.« (Horkheimer Bd. 12:288)
Debray meint, allerdings frohlockend, dasselbe, wenn er der Guerilla eine »Unerbittlichkeit« bescheinigt, »die der Contrat social nicht kennt«. Auch hier heißt Beitritt Depersonalisierung und Verschmelzung der Depersonalisierten zur verschworenen Gemeinschaft. »Worum es Debray geht«, erkannte Oppenheimer, »ist nicht weniger als ›ein Abstreifen der Haut, eine Auferstehung‹.« (Oppenheimer 1972:54)
Beides wird von jedem Aufsteiger verlangt. Der Neue Mensch ist kein Retortenkind, auf das die Soziallaboratorien der Guerilla das Patent hätten. Er ist so neu wie das Neue Persil und so zeitlos, weil nur die Verpackung wechselt und der Inhalt bleibt. Wenn der Karrierist sich mit neuer Wohnung, Kleidung, Meinung, Gattin ausstaffiert, mit neuen Lebensgewohnheiten, Umgangsformen, Ansichten, Freunden, Bekannten, dient das dem Zweck, die eigene Vergangenheit auszulöschen. Nicht nachlassende Anstrengung bei der Spurenbeseitigung ist der Loyalitätsbeweis, den die neue Gruppe unablässig von ihm fordert. Analog dazu muss im Kampfverband der Einzelne sich als reuig, flexibel und resozialisierbar erweisen.
Wie der aufgestiegene Underdog lernt, aufs Schmatzen zu verzichten, werden hier dem durch bürgerliche Verhältnisse verweichlichten Subjekt seine Eigenheiten abgewöhnt, seine Empfindlichkeiten und Allüren. Die Person, wie sie einmal gewesen ist, stirbt ab, und an ihrer Stelle entsteht eine neue, welche nun einen hochentwickelten Sinn für Solidarität und Gemeinschaft besitzt.
Man ist gewöhnt, solche Tugenden im Programm sozialistischer Gruppierungen zu finden, und meist gesteht man ihnen dann trotz erheblicher politischer Differenzen zu, dass sie sich mit dieser Zielsetzung in bester Gesellschaft befinden. »Brüderlichkeit« war neben Freiheit und Gleichheit eine Parole der Französischen Revolution gewesen. Schiller hatte gereimt, dass die Menschen alle Brüder würden, hingerissen davon hatte Beethoven den Reim vertont. Obgleich die Geschichte von Kain und Abel ihnen eine Warnung sein müsste, wollen die Christen als Gotteskinder einander Brüder sein. Nirgends aber geht es, den einschlägigen Selbstdarstellungen zufolge, familiärer als in Verbrecherbanden zu, deren Mitglieder oft ein blutsverwandtschaftliches Verhältnis zueinander simulieren, wenn sie nicht sogar wirkliche Blutsverwandte sind.
Je gefährlicher das Terrain, je riskanter das Geschäft, desto inniger sind die Partner einander verbunden, denn die »allgemeinste Kategorie der von den Gruppen geübten Funktionen ist der Schutz.« (Horkheimer Bd.12:288) Wo der Staat ihn nicht mehr bietet, gewinnt deshalb das Familienleben bisweilen seine alte Macht und Pracht zurück. Don Vito Corleone, der Pate in Mario Puzos gleichnamigem Buch, wird als Patriarch verehrt, weil er als Chef einer mächtigen Verbrecherorganisation die Sicherheit seiner Anhänger garantieren oder letztere im Schadensfall wenigstens rächen kann.4
Von einem als Mafia-Jäger populär gewordenen Untersuchungsrichter, dem 1992 in Sizilien ermordeten Giovanni Falcone, stammt die einfühlsame Deutung, die Mafia sei »der Ausdruck eines Verlangens nach Ordnung und damit nach Staat.« Ein amerikanischer Historiker beschrieb die Staaten als protection rackets, und andere Autoren sahen wiederum im protection racket den Staat. (Vgl. Hess 1993:200.)
Auch die Guerilla gehört ins langweilige Schema, worin immer der Staat die Spätform der Bande ist und die Bande im Erfolgsfall die Frühform des Staats. Die Guérilleros selbst verstehen sich als protection racket, ausdrücklich stellen sie die Bevölkerung im eroberten Revier unter ihren Schutz. Mit einigem Recht kann sich die Gruppe zwar Revolutionäre Befreiungsfront nennen, aber der Markenname zeigt nur an, dass sie besondere Bedingungen für den Beitritt stellt. Anders als üblich ist er den Oberen verwehrt, ein Habenichts kann Mitglied werden, aber kein amtierender Minister. Solche Gruppen richten sich gegen die etablierte Hierarchie, sie haben in ihr »keine Stätte, sie sind ohne reguläre ökonomische Funktion und leben nach Perioden der Illegalität in den revolutionären Aktionen auf« (Horkheimer Bd.12:287).
Aus dem radikalen Außenseitertum, aus der Verweigerung jeglicher Kooperation mit dem etablierten Herrschaftsapparat, spricht freilich nicht der Wille zum grundsätzlichen und bedingungslosen Verzicht auf Macht, sondern der Unwille, sie mit anderen Gruppen zu teilen. Der amtierende Minister ist unerwünscht, weil man ihm was abgeben müsste. Wo die ordinäre Bande sich mit den Machthabern arrangiert, weil sie ein großes Stück vom Kuchen will, aber nicht den ganzen, meldet die revolutionäre Bande mit ihrer rigorosen Ablehnung bestehender Herrschaftsverhältnisse den Anspruch auf künftige Alleinherrschaft an. Sie muss die Herrschenden stürzen, weil sie selber herrschen will. Erneuerung von Herrschaft, nicht deren Abschaffung ist das Ziel. In der Regel ist damit nichts gewonnen, denn in »der bisherigen Geschichte hat mit dem Sieg solcher Unternehmungen die Gruppe der Funktionäre und ihrer Auftragsgeber sogleich ihren Platz in der modifizierten Hierarchie eingenommen und sich nach unten zu verhärtet« (Horkheimer Bd. 12:287f.).
Am Ende der algerischen, jugoslawischen, mexikanischen und russischen Revolution stand jeweils eine neue parasitäre Kaste. Die Veteranen bildeten darin bald eine Minderheit, denn die Macht allein ausüben zu wollen, läuft in der Praxis darauf hinaus, sie mit jedem hergelaufenen Opportunisten teilen zu müssen. Fortsetzung des Herrschaftsverhältnisses heißt Fortdauer des Herrschaftsapparats. Dessen vorhandenes Personal entfernen wiederum heißt, dass unverzüglich und massenhaft neues rekrutiert werden muss. Es setzt sich naturgemäß aus den besonders devoten, anpassungsfähigen und skrupellosen Mitgliedern einer Gesellschaft zusammen, der Sieg der Revolutionäre bringt die personifizierte Unterwürfigkeit an die Macht.
Dass die Spieler von Zeit zu Zeit einmal ausgewechselt werden, ist die Voraussetzung dafür, dass das Spiel ewig das Gleiche bleiben kann. Unverbrauchte Gesichter und frische Kräfte müssen ihm zugeführt werden, wenn es aus Unlust oder Erschöpfung der Teilnehmer nicht ein- schlafen soll. Eliteschulen und Militärakademien sorgen mittels allerlei Schikanen zwischenzeitlich zwar dafür, dass die Hochgekommenen die Erinnerung an die niederen Instinkte nicht verlieren, denen ihr Obensein sich verdankt. Aber den rohen Bräuchen in den vornehmen Lehranstalten haftet etwas Gekünsteltes, Spielerisches an. Ein Ersatz für den Ernst des Lebens unter den Bedingungen des echten Bandenkriegs sind sie nicht.
Dessen Schema reproduziert das zivile Leben zwar, klaglose Unterwerfung und voller Einsatz wie bei der Streetgang werden auch im Büro und danach verlangt. »Das Existieren im Spätkapitalismus ist ein dauernder Initiationsritus«, schrieben Horkheimer und Adorno, »jeder muss zeigen, dass er sich ohne Rest mit der Macht identifiziert, von der er geschlagen wird« (Adorno Bd.3: 176).
Die täglichen Übungen in den Fächern Selbstverleugnung und Identifikation mit der Gruppe bleiben keinem erspart. Sie reichen von der Tupper-Party über den Nikotinverzicht bis hin zur »Dissertation an den Universitäten, durch die der Adept beweist, dass sein Denken, Fühlen und Sprechen unwiderruflich die Formen des akademischen Rackets angenommen hat« (Horkheimer Bd. 12:289). Er muss vom Paradigmenwechsel und der Moderne sprechen, vom Holocaust und von der Shoah, nicht wegen der Ideologie, die dahinter steckt, sondern weil es alle tun.
Aber zu Prüfungen gehört, dass gemogelt werden kann, und aus einem weiteren Grund sind sie unzuverlässig. Ein mit Mäusen und Ratten befasster Verhaltensforscher fasste das Ergebnis seiner langjährigen Studien im Befund zusammen: »Je präziser die Laborbedingungen kontrolliert werden, desto unberechenbarer verhalten sich die Viecher«, und für die Menschen gilt das auch. Härtetests sind eine Kalkulationsgrundlage, aber keine Garantie für die Reaktionen des Einzelnen im Ernstfall. Ob man töten kann, weiß man erst, wenn man es getan hat.
In John le Carrés Der Nachtmanager nimmt der internationale Waffenhändler deshalb an, Amerika sei es im Golfkrieg nicht um Öl, sondern um echte Erfahrungen gegangen. Seinen russischen Kumpanen erklärt er: »Ihr hattet achtzigtausend kampferprobte Offiziere in Afghanistan, wo sie die moderne, flexible Kriegsführung erproben konnten. Piloten, die echte Ziele bombardierten. Soldaten, die unter echten Beschuss gerieten. Und was hatte Bush? Abgewrackte Generäle aus Vietnam und junge Helden aus dem triumphalen Feldzug gegen Grenada, Bevölkerung drei Mann und eine Ziege. Also ist Bush in den Krieg gezogen.« (Carré 1995:438)
Welches das Kriegsziel war, Recht oder öl, Freiheit oder Sozialismus, Vaterland oder Firma, spielt keine Rolle. Für Kämpfer zählt der Sieg, nicht die Sache. Wer sich für die eine Seite erfolgreich schlägt, kann dies ebenso gut für die andere tun. Die Rackets wissen das, sie nehmen nur Überläufer, die sich bei der Konkurrenz durch Loyalität ausgezeichnet hatten: »Selbst während des offenen Konflikts der Dachorganisationen ist der einen noch das Individuum verdächtig, mit dem die andere allzu ernsthafte Schwierigkeiten hatte. Es muss über allem Zweifel stehen, dass nicht der Mangel an Anpassungsfähigkeit, sondern Umstände, die dem wesentlichen Verhältnis fernliegen, den Übertritt vom einen ins andere Lager motivieren. Willkommen war den Volskern der flüchtige Coriolan, dessen Affinität zur Herrschaft weithin leuchtete. Er war ein Mann der gentilen Rackets und hatte Feldherrenqualitäten, die stets eine Empfehlung sind.« (Horkheimer Bd. 12:289)
Solche Qualitäten machen den Ober-Guerillero aus. Wenn der Verein, mit dem er angetreten war, unterliegt, muss das nicht seinen Untergang bedeuten. Profilierte Kombattanten aus den Reihen der geschlagenen Rebellen nimmt der Machthaber mit offenen Armen auf, wenn er Unterstützung bei der Lösung ökonomischer und sozialer Probleme benötigt. Mit ihren erklärten Feinden wird die herrschende Klasse immer fertig, aber mit sich selber nicht. Sie kann von Unlust, Resignation und Zerstrittenheit befallen werden, wenn sie unmittelbar auf jene veränderten Umgebungsbedingungen reagieren muss, deren Produkt die Guerilla gewesen war.
Dann braucht man hoch belastbares, hochmotiviertes Personal, wie eine herrschende Clique es aus eigener Kraft in Friedenszeiten nicht hervorbringt. Ihre Leute wissen stets den Machtapparat hinter sich, es fehlt ihnen die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Todesverachtung, die Entschlossenheit, bis zum Letzten zu gehen, die Bereitschaft zum Spiel »Alles oder nichts«. Wer im Dienst des Establishments stand, musste den Einsatz als Routine-Job mit erhöhtem Berufsrisiko betrachten, nur die Guérilleros kämpften im Bewusstsein »Sieg oder Tod«. Solche Leute bieten sich in der Krise als Retter an.
»Früher kämpfte er mit der Maschinenpistole gegen die Bourgeoisie«, rühmte die FAZ vom 26.7.96 einen dieser neuen Helden, »heute mit dem Währungsfonds gegen die Inflation. Früher verfolgte er Kapitalisten, heute hoffen sie auf ihn. Der Mann, der einst mit spektakulären Gefängnisausbrüchen von sich reden machte, residiert heute als Minister im Zentrum von Caracas. Seit Venezuelas Präsident Caldera Mitte März Teodore Petkoffzum Planungsminister ernannte, bestimmt der ehemalige Guérillero die Wirtschaftspolitik des Landes.« »Trotz dieses ›dubiosen‹ Hintergrundes«, fährt die Zeitung bewundernd fort, »ist der Minister mit dem maskulinen Charme des gestandenen Untergrundkriegers für viele Venezolaner einer der wenigen glaubwürdigen Politiker ihres Landes, ein ›autentico‹«.
Ein anderer »autentico«, Andreas Baader, starb zu früh. Lebte er noch, hätte er eine Aufgabe vor sich. Vielleicht wäre der RAF-Kämpfer heute der richtige Mann, mit altem Eifer und neuen Überzeugungen dem Land die nötige Blut–, Schweiß- und Tränenkur zu verpassen, die von der amtierenden Regierung zerredet wird.5 Es scheint das Schicksal der Revolutionäre im Spätkapitalismus zu sein, dass sie im günstigsten Fall nach oben kommen, raus aber nie.
Reviere
Kurz vor Jajce, berichtete vom Balkan die FAZ (am 14.9. 1996), verlaufe das, »was im Jargon der Friedensstifter Inter-Entity Boundary Line heißt, abgekürzt IEBL. Diese innere Demarkationslinie zwischen Republika Srpska und Föderation ist mehr als tausend Kilometer lang. Dem Buchstaben des Friedensvertrages zufolge ist die IEBL nicht mehr als die unsichtbare Linie zwischen zwei Verwaltungsbezirken und darf von den örtlichen Polizeien nicht überwacht werden. In Wirklichkeit wagt sich kaum ein Kroate oder Bosniake auf serbisches Gebiet und kaum ein Serbe in die Föderation.«
Aber nicht wegen der Gefahr allein, denn das Risiko hatten die Menschen in Jugoslawien gesucht, statt es zu meiden, andernfalls hätten sie keine Sezessionskriege und Bürgerkriege geführt. Ihr Elend besteht darin, dass nunmehr hinter der Grenze kein Neuland ist, sondern noch einmal dasselbe. Das Kämpfen, ihr Hauptspaß, macht keine Freude mehr, weil der Eroberer sich wie der Hamster im Tretrad fühlen muss, der unentwegt »no place to run, no place to hide« murmeln würde, wenn er sprechen könnte. Denn alle Wege führen dorthin, wo er herkam. Er bleibt in Bosnien, und wie Bosnien ist die Welt.
Mit Grenzen hatte sich einmal die Vorstellung verbunden, dass »hinter den Bergen bei den sieben Zwergen« eine andere Welt beginne. Dort, so die Hoffnung, würde man eine Art von Schönheit finden, wie sie selbst die Schönen und die Reichen in dieser Welt nicht besitzen können, weil sie durch Härte und Gemeinheit verunstaltet sind. Dergleichen Hirngespinste setzten voraus, dass in der wirklichen Welt noch Gebiete existieren, wo die Ideen vor der Überprüfung durch den verifizierenden Verstand geschützt sind.
Die unbekannten, unzugänglichen Länder aber gehören der Vergangenheit an, seit alle weißen Flecken auf der Landkarte verschwanden. Auf provozierende Art erinnert daran die Cola-Reklame. Durch ihre Präsenz noch im tiefsten Elend macht die Weltmarke dem Zuschauer ihre Botschaft glaubhaft, welche heißt: »Ich erwische dich überall, du entkommst mir nie und nirgends.«
Nur der Ostblock gab sich verschlossen, undurchsichtig. Er zog die Aggression auf sich, in welche der vergebliche Wunsch nach einer Zuflucht umgeschlagen war. Aber die Ablehnung blieb ambivalent, wie in solchen Fällen immer, und es klang ein sehnsüchtiges Verlangen nach dem Land »hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen« mit, wenn es abschätzig und angewidert hieß »hinter dem Eisernen Vorhang«. Der war nur keiner, wie man inzwischen weiß. Die Mauer entpuppte sich als Schleier, und als der fiel, lag dahinter die One World. Heute beginnt und endet an der Demarkationslinie daher nichts. Fast sehnt man sich zurück nach dem gehässigen »Geht doch nach drüben«, welches früher die Empfehlung der Passanten an die Demonstranten war. Die Deportationsdrohung klingt wie eine Verheißung, seit es kein drüben mehr gibt.
Wenn hinter jeder Zelle die nächste kommt, heißt das, dass man im Gefängnis ist. Allerdings hat es sich verändert. Die mächtigen Mauern, die für tatkräftige, listige Insassen immer auch ein Ansporn sind, sie zu überwinden, weil dahinter die Freiheit winkt, waren obligatorisch in der alten Zeit, wo zum Warenregal nur der Verkäufer Zutritt hatte, wo man für die U-Bahn am Schalter bezahlte und im Bus der Schaffner kam. Heute sind Sperren, Zäune und Gitter oft durch IEBLs ersetzt, durch Grenzen, an denen weder Pass noch Fahrschein vorgezeigt werden muss. Mittels Gewalt oder List durchbrechen lassen sie sich nicht. Sie sind unüberwindlich, weil das Erreichen der anderen Seite keinen Vorteil bringt.
Dergleichen imaginäre Linien haben vermutlich existiert, seit die ersten wilden Stämme aufeinandertrafen, die zwar Gebietsansprüche erhoben, aber keine Grenzbefestigungen kannten. Weil ein Stück Wald dem anderen gleicht, geschah es leicht, dass einer sich beim Jagen auf fremdes Territorium verirrte, was Strafe nach sich zog, wenn er dabei erwischt wurde. In der bürgerlichen Gesellschaft aber schien Freizügigkeit allgemeines Recht zu sein. Wo der Zutritt verboten war, war er auch verwehrt.
Das änderte sich wieder, als Anfang der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts inmitten der modernen Großstadt die Herausbildung von Einflusszonen und Gebietsgrenzen geschah, die weder ausgeschildert waren noch dem Stadtvermessungsamt bekannt. Wie an Saudi-Arabiens Grenze keine Tafel darüber informiert, dass an amerikanischem Interessengebiet sich vergreift, wer in den nah-östlichen Ölförderländern wildert; oder wie in Miami kein Schild mit der Aufschrift »Achtung! Lebensgefahr! Sie verlassen jetzt den zivilisierten Sektor« den ortsunkundigen Touristen vor der Weiterfahrt in den Slumgürtel warnt, so wies im Chicago der Zwanziger Jahre kein öffentlich verkündetes und zur Einsichtnahme ausliegendes Dekret den künftigen Betreiber einer Flüsterkneipe in der Halsted Street daraufhin, dass dort eine Konzession von Al Capone benötigt würde.
Zwar waren Grenzen ohne Ausschilderung, Markierung und Rechtsgrundlage nicht ganz unbekannt. Mit der Monroedoktrin von 1823 hatten die USA Anspruch erhoben auf den ganzen amerikanischen Doppelkontinent. Den behandelten sie fortan als ihr Revier, etwa in dem Sinn zunächst, wie Hunde in einem durch Duftmarken bezeichneten Bereich keine Rivalen dulden. Anfang des 20. Jahrhunderts dann, als Kuba erobert wurde, war der Staat ein Racket in dem Sinn, dass er fremde Länder seinem Machtbereich einverleibte und sie den eigenen Interessen unterwarf. Capone hätte von McKinley gelernt haben können oder von Roosevelt, dessen Wahlspruch »Speak softly and carry a big stick« das Erfolgsrezept kluger Mafia-Bosse ist. Es war allerdings ein wechselseitiges Geben und Nehmen, insofern McKinleys politische Lehrzeit in die Jahre nach dem Bürgerkrieg fällt. Verwaltung und Regierung machten damals gemeinsame Sache mit dem kommerziell kalkulierenden Teil des organisierten Verbrechens, während der andere, mehr auf schnelle Triebbefriedigung bedachte, unterdessen Schwarze jagen ging.
Überhaupt konnte das Bandenwesen selbst keinen überraschen. Es kommt über alle Epochen hinweg so häufig vor, dass Barrington Moore lakonisch konstatierte: »In Ländern, in denen Gesetz und Ordnung schwach sind, entsteht fast immer ein Gangstertum.« (Moore 1974:255) Dessen amerikanische Anfänge haben Historiker bis ins Jahr 1719 zurückverfolgt, und schließlich waren es die Siedler – kleine Gruppen mit hoher Gewaltbereitschaft, also Banden –, denen die Nation ihre Existenz verdankt. »A history of crime in America«, schreiben daher Frank Browning und John Gerassi in The American Way of Crime, »cannot help but be a history of America, in which the sagas of the outlaw and the gangster, the rebel and the mob, the crusader and the horde, are played back again and again in counterpoint to the dominant themes of unbridled progress and prosperity.« (Browning/Gerassi 1980:13)
Nun aber sahen die Banden anders aus, nicht mehr wie die alten Outlaws und Gangster. Die kannte man als klar umrissenen und von den übrigen Bürgern deutlich unterschiedenen Personenkreis. Sie lebten in der Illegalität, sie wurden verfolgt und sie waren geächtet. Sie machten Gebiete unsicher, eine dauerhafte Herrschaft installierten sie dort aber nicht. Sie waren ungebunden, bindungslos, es fehlte ihnen die Schwere. Denn ihre Macht war flüchtig, und sie selbst waren dauernd auf der Flucht.
Davon konnte bei Capone keine Rede sein. Als 1927 der von ihm protegierte Kandidat zum Bürgermeister von Chicago gewählt worden war, quartierten der Gangsterboss und sein Stab sich als Dauermieter in 50 Zimmern eines nahe Rathaus und Polizeihauptquartier gelegenen Komforthotels ein. Beamte und Politiker sollten kurze Wege haben, denn die engen Geschäftsverbindungen erforderten regen Besucherverkehr: »Vom Polizeigebäude, das in Wirklichkeit zu einer Söldnergarnison geworden war, die sich für den höchstzahlenden Condottiere zur ständigen Verfügung hielt, kamen Polizeibeamte, um ihren Lohn für geleistete Dienste zu kassieren – wie etwa für den Geleitschutz bei Alkoholtransporten; für Vorankündigungen von Razzien, die zur Beruhigung der Reformanhänger durchgeführt werden mussten, für die Ausstellung von behördlich gestempelten Karten an Capones Revolvermänner mit dem Wortlaut: ›An das Polizeidepartment. Dem Inhaber ist jederzeit Schutz und Hilfe zu gewähren‹.« (Köhler 1981:185f.)
Wenn die Polizei ohne viel Heimlichtuerei mit den Verbrechern gemeinsame Sache macht, vergeht die augenfällige Differenz, an welcher das moralische Unterscheidungsvermögen sich bildet – ohne Evidenz keine Reflexion. Weil die Guten nicht mehr an der Uniform zu erkennen sind, wird der Unterschied zwischen Gut und Böse unsichtbar. An der Differenz weiterhin festzuhalten, setzt nun den tröstlichen Glauben voraus, dass die moralischen Qualitäten sich nach innen verlagert hätten und dort, gleichsam im Verborgenen, fortexistieren würden. Ihn stärken Privatdetektive wie Chandlers Marlowe, aber die Helden der Leinwand und der Groschenromane sind solche des Übergangs. Sie repräsentieren Verschwundenes, solange das Publikum ihm nachtrauert. Doch die Trauer hört auf, wenn die Erinnerung an das Verschwundene erloschen ist.
Die Gangsterfilme und Wildwestfilme fesseln seit den Zwanziger Jahren das Publikum, weil es sich noch zurücksehnt nach Bedingungen, die vom Einzelnen moralische Entscheidungen verlangen. Das Wunderbare an der Pflicht, ein gottgefälliges Leben zu führen, ist, dass sie dem Einzelnen die Freiheit lässt, sich statt mit Gott lieber mit dem Teufel zu verbünden. Er kann auch Schurke, Bandit, Verbrecher werden, wenn er will, zumindest kann er mit dieser Möglichkeit liebäugeln. Sie existiert nicht mehr, wenn einer, der Justizbeamter war und Schieber wird, nur die Abteilung wechselt, aber bei der gleichen Firma bleibt. Sogar die Anforderungen sind überall dieselben. Wie in der Oberwelt kommt in der Unterwelt nur voran, wer sich zum leitenden Angestellten eignet.
Weil ihr Beruf kein Gegenbild zum eintönigen, grauen Alltag normaler Menschen ist, stehen Berufsganoven nicht besser als Buchhalter oder Akademiker da. Sie brauchen Krimis, sie verschlingen das Zeug, wie Kenner der Szene zu berichten wissen. Joseph F. O'Brien und Andris Kurins schreiben in ihrem auf Abhörprotokollen basierenden Buch Ehrenwerte Männer. Das FBI und der Pate von New York, die Paten-Filme hätten den »Verbrechern eine Menge vorgestanzter Sätze an die Hand gegeben, die sie sagen konnten, wenn sie hart, ehrlich, rechtschaffen oder gar weise klingen wollten« (O'Brien/Kunis 1992:46), und überhaupt: »Die Mafia – oder zumindest die auserwählte Gruppe Mafiosi, die lesen kann – liest gern über sich selbst. Die Analphabeten warten auf den Film. Wie auch immer, die Mobster holen sich ihr Geschichtsbewusstsein bei den Medien. Die Tradition, der Kodex – man kann ohne größere Übertreibung sagen, dass diese Dinge nun in der Obhut von Redakteuren und Drehbuchautoren hegen.« (O'Brien/Kunis 1992:241)6
Statt außerhalb der Gesellschaft zu stehen, sind die neuen Banden ein Teil von ihr – schlecht für die Gesellschaft, aber eine Katastrophe für Bonnie and Clyde. Sie haben keine Chance, wenn jeder sich mit den Verhältnissen arrangieren muss, weil die Bandenreviere nicht mehr Jagdgebieten gleichen, wo der Mensch umherstreifen und wildern kann, ohne dass er vorher infiltriert und organisiert. Wie die Machtsphären, welche die Hegemonialstaaten um sich herum installierten, waren die Bandenreviere nun Gebietskartelle. Die Unterwelt hatte dort Regeln des Zusammenlebens festzulegen und deren Einhaltung zu überwachen. Wo der Staat aufhörte und die kriminelle Vereinigung anfing, war für das ungeschulte Auge kaum noch zu erkennen.
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