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Ich deckte die Enden mit den Zeigefingern ab.

»Und jetzt lächeln«, ermunterte Frau Cord-Handschuh.

Ich fing an zu grinsen, grinste, bis mir das Wasser in die Augen stieg. So stellte ich mir den Spiralmaler vor: grinsend wie ein Affe, grinsend wie ein Vollidiot.

»Sehen Sie«, sagte Frau Cord-Handschuh, »schon vieeel freundlicher! - Und nun nehmen Sie die Brille ab.«

Ich nahm die Brille ab, ein wirklich schweres Ding - jemand hatte mal gesagt, damit könnt ich Paranüsse knacken - und sah überhaupt nichts mehr.

»Ich seh nichts«, sag ich.

»Dafür gibt’s Kontaktlinsen.«

»Sie«, sag ich, »ich hab hier nicht vor, auf Freiersfüßen zu wandeln. Allzu schön wollen wir uns nicht aufputzen, dazu sind wir doch wohl eine Spur zu alt, was meinen Sie?«

»Von Schönheit reden wir nicht«, lächelte Frau Cord-Handschuh. »Freundlich wollen wir daherkommen. Freundlich. Freundlich …«

»Schneiden Sie’n ab!«, schrie plötzlich Reizker-Durr. »Weg damit! Jetzt gleich und hier, wenn Sie’s nicht tun, mach ich‘s!« Und sprang auf, beugte sich übern Tisch - nicht die Spur von Titten - kniff das linke Bartende zwischen Daumen und Zeigefinger, und - schnipp! Dann das rechte, und - schnapp! - Wie der ihre Augen flackerten. Viel Weiß drin. Jemand hat mal gesagt: Hüte dich vor Weibern mit zu viel Weiß in den Augen. - Huh! Und so dicht dran! Kann ich schlecht aushalten, wenn eine so dicht!

Während meiner Beschneidung hatte Frau Cord-Handschuh nur still daneben gesessen und mit ihrer Murmel gespielt. Die Barthaare waren überall auf dem Tisch verteilt.

»Das macht nichts«, lächelte Frau Cord-Handschuh. »Das machen wir später weg.«

Reizker-Durr nahm jetzt den Spiegel, hielt ihn mir hin wie ’nem Affen. »Na, und, was sagen Sie nun?«

Nix, wollt ich sagen, aber ich sagte: »Prima, klasse, jetzt versteh ich, was Sie meinen«, und grinste doppelt so idiotisch wie zuvor.

»Sie soll’n mal sehen«, sagte Frau Cord-Handschuh. »Die Leute werden vieeel freundlicher auf Sie zugehen, Sie werden Bekanntschaften schließen, Sie werden …«

»Haben Sie Angst vor Farben?«, platzte Reizker-Durr dazwischen. »Ich meine, warum tragen Sie ständig diese - Verzeihung - kackbraunen Hemden und diese, diese - Kohlenträgerhosen?«

»Weil’s bequem ist, nehm ich an, und zu allem passt. Alles passt zu allem - ich hab auch ein dunkelgraues Hemd …«

»Und eine dunkelgraue Pupcordhose - ich weiß, ich weiß«, winkte Reizker-Durr ab mit spöttischem Gesicht.

»Was meine Kollegin sagen will, ist«, schaltete mild Frau Cord-Handschuh sich ein, »kleiden Sie sich farbenfroher! Wir haben Frühling, die Natur schmückt sich für den nahenden Sommer, die Bäume stecken Kerzen auf, die Damenwelt putzt sich, sogar die Tiere. - Trauen Sie sich, trau’n Sie sich noch heute.«

Mir war heiß geworden in meinem kackbraunen Hemd und meiner Kohlenträgerhose. Ich stand auf, man schüttelte mir die Hand: »Bis nächste Woche«, und ich torkelte raus, als hätt ich zwei Flaschen Wein getrunken.

In meinem Zimmer guckte ich lange in den Spiegel, grinste, nahm die Brille ab, sah nichts, sagte dreimal: »Vollidiot!« und haute mich in die Koje.

Nächsten Tag nahm Hello, der schwul ist und was von Mode versteht, mich mit in die Stadt. Ich kaufte ein grün-gelb gepunktetes Hemd und eins mit viel Rot und Blau; zum Schluss stieg ich in eine Hose, die war mehr lila als rosa.

Zu Hause angekommen, legte ich meine Dusterklamotten zusammen und versteckte sie in der hintersten Ecke vom Kleiderschrank. Wenn die Zeiten sich besserten, würde ich sie wieder hervorkramen, versprach ich mir und stelzte fortan wie ein Papagei, mit freundlich gestutztem Bart, einher.

Man war sehr zufrieden mit mir.

Beim Therapieschwimmen machte ich nie wieder schlapp, mein F behielt ich, nirgendwo zuckte was, und ich aß mit gutem Appetit. Mit einem Wort: Es ging aufwärts. Im Bett hielt mich auch nichts mehr. Ich war der erste, der morgens Kaffee kochte und der letzte, der abends den Geschirrspüler ausräumte.

Und dann wollte ich ins Freie. An die Luft. In den Park. Erst durfte ich eine Stunde, dann waren’s zwei, schließlich nahm mich Hello zum Einkauf für die Küche mit. Schön war das, so ganz normal inmitten all der normalen Leute seinen Einkaufswagen zwischen all den bunten Dingen entlang zu steuern und selbst auswählen zu dürfen, was wir essen wollten.

Die Kastanien blühten und setzten Früchte an, es wurde wärmer; ich durfte ohne Pullover in den Park, und endlich erfüllte man lächelnd meinen Wunsch, auf eigene Faust ins Land hinaus zu wandern.

So zog ich los. Vorsichtig anfangs, sichernd wie ein Reh, das zum Äsen auf die Lichtung tritt. Immer an der Wand entlang, dann, als ich die ersten Häuser erreichte, schließlich raus aus dem Schatten, rüber übern Platz.

Ich schwitzte ein wenig, ein paar gelbe Punkte tanzten, und ein ganz kleiner schwarzer Schatten huschte in mein Blickfeld; dann war es gut und blieb gut.

Ich spürte den salzigen Wind auf der Haut, kaum dass ich den Deich erklommen hatte; er sprang mich an wie ein übermütiger Hund. Ich hätte jauchzen mögen, so herrlich war das, wie mir die Melancholie aus dem Klamotten gepustet wurde.

Alle Tage sah man mich jetzt am Deich, später brachte ich sogar einen Drachen mit, den ich beim Therapiebasteln zusammengeleimt hatte. Es war der schönste Drachen weit und breit.

Windstille Tage kamen. Heiß, richtiges Badewetter. Unten lagen sie im Sand, schaufelten Burgen, salbten sich die Brüste, lasen die Bild, tranken Jever aus Dosen. Am Horizont aber leuchtete wie ein kostbares Schmuckstück auf blauer Seide die Insel.

Die Insel war langgestreckt und nieder, und an ihrem linken Ende schimmerte etwas Hohes, Weißes.

Hello, den ich fragte, erklärte, das sei der Wasserturm, man dürfe da raufklettern und runtergucken; an klaren Tagen könnte man sogar Borkum erkennen. Manchmal schien er zum Greifen nah, andermal schien er auf dem Kopf zu stehen und war winzig klein, als würde man ins falsche Ende eines Fernrohrs peilen.

Noch am selben Tag, gleich nach dem Therapietanzen - vor jeder Aktivität, die man uns anbot, stand das Wort Therapie -; so gab es Therapiereiten, Therapieklettern, sogar die wöchentlichen Kinobesuche standen unter dem Motto Therapie. - Na, was ich sagen will: nach dem Therapietanzen traf ich Frau Cord- Handschuh auf dem Flur. Ich platz gleich drauflos von der Insel, und wie schön das wär, könnt ich nur einmal dort hinüber wandern und auf den Turm steigen.

Sie lächelte wie immer still und ausdauernd und sah mich lange an. Hätte nur noch gefehlt, sie hätte mir übern Kopf gestreichelt. Wie eine Mutter.

Also fragte ich Mutti um Erlaubnis.

»Ach«, sagt sie, »ach wissen Sie, Herr Nebel, Sie so allein, da ist mir nicht wohl. Sie könnten sich verlieren da draußen. Aber als kleine Gruppe, sachkundig geführt, das wäre relevant, da könnte jeder auf den anderen aufpassen - Schöne Idee übrigens, das sollten wir generell in unser Therapieprogramm aufnehmen. Danke schön, Herr Nebel. Und übrigens, Herr Nebel, - Sie finden gewiss einige Gleichgesinnte, denken Sie nur nach, denken Sie …«

Ich dachte nach und sagte, ja, ich hätte da zwei oder drei aus der Küche. »Wenn’s sein muss, frag ich die mal.«

Da war Elsie. Die mit den Mohrrüben. Wir waren uns näher gekommen beim Therapietanzen. Elsie hatte nichts dagegen, wenn ich mit meinen trockenen Pfoten auf Entdeckungsreise ging, im Gegenteil, sie legte sie mir manchmal von selbst auf und sagte, das würde sie an ihren Vater erinnern und ruhig machen.

Der Molukkenkakadu, Frau Süß sein Name, kam durchaus nicht in Betracht. Erstens - Nomen est Omen - war er so zuckerkrank, dass er sich alle Stund in den Finger pieken musste, Blut rausdrückte und auf ein Indikatorstäbchen schmierte, ob es wieder Zeit wär für den nächsten Schuss? Außerdem sind mir Frauen nicht geheuer, die sich bei jeder unpassenden Gelegenheit mit der Kippe Löcher ins Fell brennen und einen dabei so scheel und schief von unten herauf anstarren, als wollten sie fragen: Ist was? Passt dir was nicht an mir?

Elsie also. Und der Autist war noch da, der Knorrmann hieß und sich Sekretär nannte. Knorrmann, die männliche Tippse. Hörsturz, seelische Zerrüttung. Hatte sich zu viele Telefonnummern gemerkt, hatte die Stechuhrzeiten von hundert Mann zu addieren gehabt, und dann waren ihm wie aus heiterem Himmel sämtliche Zahlen durcheinandergeraten. Er kapierte überhaupt nichts mehr, und in den Ohren pfiff Tinnitus die Spottmusik. Musste viel weinen, der Ärmste, verkroch sich bei Probealarm unterm Schreibtisch, begann schon vor halb zehne auf dem Klo aus seinem Flachmann zu trinken. Aber nun war er hier und hoffte auf Besserung.

Obwohl Knorrmann in der Küche nicht viel taugt, Kochschinken mit Leberwurst füllt, in Öl ausbrät und als Delikatesse serviert und sich den Bart leckt, kaum dass er »Currywurst« hört, konnte ich mir niemand sonst vorstellen; denn Knorrmann war gut zu Fuß, trotz Ohrgeräusch und Zahlenwirrwarr, weil er früher »Geher« gewesen war.

Günther fragte ich noch, aber Günther hatte nicht nur was gegen Uniformen, Günther hasste alles, was irgendwie mit Nordsee zusammenhing. Die anderen fragte ich nicht.

Der Tag kam, da wir drei loszogen, die Lage zu sondieren. Ich trug mein grüngelbes Hemd auf dem Leib, eine rote Kappe auf dem Kopf; meine Hose war kurz und eng und lila. Die Bartenden hielt ich heute besonders knapp, war so weit gegangen mit der Schere, dass Elsie mich mit »Mein Führer!« anredete.

Und Elsie sagte, nachdem wir das Gelände verlassen hatten und in die Hans-Kinau-Straße einschwenkten, alle Männer würden sie »da unten anstarren«, und sie wurde rot bis zum Hals hinauf, als sie das sagte. Knorrmann trug zwei Trainingsanzüge übereinander, hatte seine unverzichtbaren Holzpantinen an und machte einen Höllenlärm auf dem Kopfsteinpflaster. Gleichzeitig war er laut am Herumrechnen, wie viel Verlust ihm ein vorzeitiger Ruhestand bescheren würde; auch fielen ihm mehrere Telefonnummern ein, was ihn schallend freute.

Du siehst Ulli: ein illustrer Trupp zog dort ins Städtele hinein.

Ein Bengel auf seinem Kickbord wollte sogar ein Autogramm von mir, wobei Elsie erneut errötete wie ein Backfisch, X-Beine bekam und nach »da unten« schielte.

Der erste Laden, der mit Wattausflügen warb, verlieh auch Fahrräder, nur sagte man uns, so kleine Gruppen lohnten nicht. Paar Häuser weiter die gleiche Antwort. Dann waren wir auch schon am Ende der Fußgängerzone angelangt, und ich sah schwarz für meine Insel.

Doch hatten wir Glück. Die Dickmamsell im letzten Laden schüttelte zwar auch zunächst den Kopf, aber dann fing sie an zu überlegen, murmelte was vor sich hin. Endlich rief sie: »Warten Sie, vielleicht haben Sie Glück! Wellhorn, der alte Wellhorn macht so was noch gelegentlich. Is ’n büschen tüdelig geworden seit dem Tod seiner Frau, kommt nur noch selten heraus aus seinem Bau, der olle Einsiedlerkrebs, aber fragen Sie ruhig mal nach; sie finden ihn hinterm Schöpfwerk - das kleine Haus in den Birken.«

Wir machten uns auf den Weg, und richtig: da stand eine Gruppe uralter Birken, und dahinter entdeckten wir die windschiefe Bude. Etliche Ziegel waren herunter geweht, die Klinkerwände schimmerten grün und gelb von irgendwelchen Algen oder Moosen, und kein Fenster erlaubte Einblick ins Innere - sämtliche Läden hatte man verrammelt. Offensichtlich lebte der Bewohner sehr zurückgezogen.

Keine Klingel.

BITTE HÖFLICHST, SEHR LAUT ZU RUFEN! stand da an der Gartenpforte.

Das taten wir ausgiebigst, aber nichts rührte sich. Es war ganz still, beinah unheimlich, nur der Wind spielte mit den Birkenzweigen, die zornig hin und her schwangen wie Peitschenschnüre, kahl und schwärzlich, obwohl wir Sommer hatten.

Wir wollten eben enttäuscht die Segel streichen, da findet Knorrmann ein verblichenes Schild an dem blassen Holzzaun, fast völlig verdeckt von Rainfarn und Beifußkraut:

INS WATT MIT WELLHORN

Individuelle Führung kleiner Gruppen

Ein unvergessliches Erlebnis

Anruf genügt

Tel.: 1650

Knorrmann trompete aus seinem Bart heraus, er könne die Telefonnummer im Kopf behalten, das sei ihm ein Kinderspiel!

Ich schrieb sie auf.

Nach dem Abendessen hatte ich nach mehreren vergeblichen Versuchen Wellhorn endlich an der Strippe, das heißt, zunächst war da nur so ein Glucksen oder Platschen, als würde mein Gesprächspartner von der Badewanne aus telefonieren. Dann hörte sich’s an, als liefe einer mit Schwimmflossen durch flaches Wasser. Es gurgelte hohl, endlich meldete sich eine unwirsche Stimme: »Wellhorn - was is los?«

Ich trug mein Anliegen vor.

Statt einer Antwort blubberte es am anderen Ende, als würde einer durch den Trinkhalm Luft in sein Milkshake blasen. Darauf herrschte eine Weile Funkstille und mich beschlich das Gefühl, da wollte sich einer lustig über mich machen. Schließlich räusperte sich’s umständlich und ausdauernd, endlich erreichten schleimgedämpfte Worte mein Ohr: Nein, eigentlich gehe er nicht mehr hinaus, die Menschen habe er, Wellhorn, so ziemlich satt und er wünsche nichts weiter, als in Ruhe gelassen zu werden in seinem Schmerz.

Schmerz? Hatte er Schmerz gesagt? Ich überhörte das damals, dachte an nichts anderes als unseren Ausflug. Und so zog ich sämtliche Register, den Alten umzustimmen. Zu guter Letzt fing ich sogar zu betteln an, als wär ich ein Schulbub und nicht ein Mann, der mitten im Leben steht. Beteuerte, wie wichtig dieser Ausflug für meine weitere Genesung sei, und die beiden anderen hätten sich auch so wahnsinnig gefreut - ach bitte, bitte …

»Genesen?«, fragte Wellhorn mit einem Rutschakkord in der Stimme, der im Falsett seinen Abschluss fand. »Genesen? Von was denn? - Sind Sie etwa krank? Glauben Sie, ich schleppe fußlahme Krüppel mit mir herum?«

»Wir sind nicht körperbehindert«, antwortete ich schüchtern. »Keiner von uns ist es; wir können ganz gut von alleine laufen.«

Nun wollte er wissen, woran es uns denn gebreche, bitte schön, und mit wem genau er’s zu tun habe.

Und ich in meiner Einfalt verriet ihm treuherzig alle Besonderheiten, die ich von mir und meinen Begleitern wusste. Über Knorrmanns Zahlenkollaps lachte er laut, Elsies Eigenarten fand er hochinteressant; doch als ich bei mir selber angekommen war und die Worte Chemie und Fabrik fielen, da änderte sich der Klang seiner Stimme; sie wurde misstrauisch, beinah lauernd.

Nach einer weiteren Pause des Schweigens - ich dachte schon, er habe aufgelegt -, sagte er mit gänzlich veränderter Stimme, ganz aufgeräumt und munter und friesisch eingefärbt, als wisse er um meine Vorliebe für diesen Dialekt: »Topp, mien Söhn, dat Dingens geiht kloar. Donnerstag stechen wir in Schlick. Wir vier werden uns moi vertragen, daar kannst up an, und ich sorg schon dafür, dat der Daag Ihnen allen unvergesslich bleiben wird. Und - äh - entschuldigen Sie mein anfängliches Misstrauen - bin einfach zu oft allein, verstehn Sie wohl?«

Als Treffpunkt nannte er das Strandcafé, Zeit: acht Uhr dreißig. Ich wollte noch fragen, welche Ausrüstung und so weiter, aber er schien nun förmlich in seiner Wanne herumzutoben, dazu sang - oder, besser: heulte er eine Melodie, wild und verwegen - sie erinnerte mich an gewisse Seeräuberlieder, an Sturm und Tod und - dann brach der Kontakt ab.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend legte ich auf. Knorrmann und Elsie sagte ich lediglich, wann es losgehe, den Rest behielt ich für mich.

In der Nacht vor der Wattwanderung hatte ich einen Traum. Sah mich klein und bleich mit tonloser Stimme und rutschender Hose vor Gericht bibbern; doch trug der Richter keine rote Robe, es war auch gar kein Richter, der dort stand, ein dünnes Mädchen war’s, mit blonden Zöpfen, und das Schreckliche daran: es brüllte mit Donnerstimme auf mich herab. »Warum hast du mir das angetan? Warum?« Und greift sich ins Gesicht und reißt die Haut wie eine Maske herunter und rupft sich die Zöpfe aus und schwingt sie wie Peitschen und beginnt sich zu drehn in einer immer schneller werdenden Pirouette, wobei ihr die Kleider vom Leibe fliegen, das Fleisch von den Knochen rutscht und das, was übrig bleibt, zu einem bleichen Haufen zusammenstürzt, ihr kahler Schädel aber mir vor die Füße rollt und aus blauen Augen still zu weinen beginnt.

Ich schreckte hoch, schweißgebadet, am ganzen Körper zitternd. Ich guck auf den Wecker: Knapp eine Stunde blieb mir Zeit, mich zu sammeln. Ich drehte mein Kleinstradio an, machte einige Atemübungen, wie man mir‘s beigebracht, sagte mir laut vor, was es mit Träumen auf sich habe - nämlich nichts -; und so rückte der Morgen heran.

Beim Rasieren, als die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster schossen, wurde mir besser; ich freute mich wieder auf meine Insel, und während des Frühstücks waren wir drei in übermütiger Laune.

Knorrmann kündigte an, er werde uns in Grund und Boden wandern, stellte uns Rechenaufgaben und löste sie zu seiner Zufriedenheit. Elsie kicherte wie ein Schulmädchen, fragte ein ums andere Mal, ob sie wirklich so gehen könne, wie sie jetzt dasitze?

Wir sagten, ja, natürlich, schließlich sei Sommer und sie brauche ihre Knie nicht zu verstecken.

Wir holten uns unsere Lunchpakete, Günther wünschte herzliches Beileid, und da waren wir auch schon unterwegs.

Kaum einer auf den Beinen außer uns Abenteuern. Wir spotteten über die Langschläfer; ein Schwarm Dohlen spottete über uns, die Luft war kühl und klar, ein herrlicher Tag zog herauf. Am Himmel standen Federwölkchen.

»Wie er wohl aussieht?«, überlegte Elsie und zupfte an ihrem Kleid. »Braungebrannt sicherlich, wettergegerbt und knorrig - so ein echter Naturbursche eben. - Ich hab mal einen Bergführer …«

»Ganz normal würd ich meinen«, unterbrach Knorrmann und fischte eine Dose Jever aus seinem Rucksack. »Stinknormal sieht so einer heute aus. Wahrscheinlich trägt er bunte Bermudas, Plastiksandalen und ’ne graue Strickjacke, und dazu stinkt er nach Knoblauchpillen, zehn Meilen gegen den Wind.«

Wir schwenkten in die Strandstraße ein, die Sonne fing an, uns den Buckel zu wärmen. Elsie fragte Knorrmann, ob er nicht wenigsten einen seiner Trainingsanzüge ausziehen wolle?

»Du erwartest wohl, dass ich mir den Tod hol, Mädchen«, lachte er stammwürzig in den jungen Tag hinein, schlug sich die Faust vor die Brust, rülpste herzerfrischend und zeigte auf den Deich: »Wer zuerst oben ist, dem geb ich ’n Bier aus!« Er sprintete los, erstaunlich schnell, trotz zweier Trainingsanzüge und trotz seiner Holzpantinen, von denen er sich niemals trennte - wahrscheinlich nahm er sie sogar mit ins Bett.

Er wurde Erster und gab sich ein Bier aus.

Dort vor uns lag das Watt - eine feuchtschimmernde bräunliche Wüste, durchzogen vom blauem Geäder der Priele, überwölbt von einem Himmel, wie er sonst wohl nur in der Sahara vorkommen mochte. Kein Wind. Austernfischer gingen flötend und rotgeschnäbelt ihren Geschäften nach, die allgegenwärtigen Möwen schrien sich heiser was zu. Das Strandcafé aber lag verwaist, nur ein einsamer Dauerläufer keuchte vorüber, und als der vorüber war, standen wir wieder allein.

Knorrmann trank Bier und rechnete aus, wie viel Promille er intus haben würde, wenn wir die Insel erreichten hätten. Elsie zupfte an ihrem Kleid herum, schaute in den Handspiegel und zog sich die Lippen nach. Ich schaute abwechselnd auf die Uhr und zur Stadt hinüber, von woher ich Wellhorn erwartete.

Fünf vor halb: nichts. Drei vor halb: immer noch nichts. Ich will mich eben hinsetzen und in meine Stulle beißen, da schreck ich zusammen.

»Moin!«, erscholl eine dröhnende Bassstimme. »Meister Wellhorn meldet sich zum Dienst.«

Ich dreh mich um, und da steht, wie aus dem Boden gewachsen, eine Prachtausgabe von Kerl breitbeinig im Sand, ein wahrer Jupiter in Kapitänsuniform, könnte man sagen, an die zwei Meter groß, mit breiten Schultern und breitem Lächeln, und der hatte so gar nichts von dem seltsamen Kauz an sich, den ich mir vorgestellt hatte während des Telefongesprächs.

Nicht minder beeindruckt waren auch meine Begleiter von dieser Erscheinung, da kam’s keinem in den Sinn, zu fragen, weshalb er von See und nicht vom Land her zu uns gestoßen sei?

Nachdem er uns dreien mit seiner Riesenpranke herzhaft die Hände geschüttelt, bat er um einen Chronometervergleich.

Knorrmann, in Besitz einer »Atomuhr«, war stolz, dass der Wattführer seine Taschenuhr ihm anglich. Des Wattführers zufriedenes Nicken ermunterte ihn denn auch augenblicklich, einen ganzen Schwall angelesener Seemannsausdrücke vom Stapel zu lassen. Er fragte, ob wohl Kap Hoorn noch stehe, ob die Sargassosee noch immer Schiffe verschlucke und dergleichen Albernheiten mehr.

Wellhorn schmunzelte dazu - im rechten Ohrläppchen funkelte ein Goldring - und sagte, jawoll, dat Horn stehe aufrecht wie ehedem und die Sargassosee sei nach wie vor kein angenehmer Aufenthaltsort.

Knorrmann geriet immer mehr in Fahrt, verriet seinem Gegenüber, was ein Knoten ist, wie viel Glasen es bei vier Uhr hat - und so weiter. Zum Abschluss versuchte er, den Uraltwitz von den »Sechs Tanten« an den Mann zu bringen.

Da hörte Wellhorn auf zu schmunzeln. Er musterte ihn spöttisch von oben bis unten und gab ihm den Rat, er solle lieber auf seine beiden großen Onkels achtgeben, da draußen im Schlick lauerten blutgierige Sandklaffmuscheln und tollwütige Dwarslooper, die hätten alle Mann noch nicht gefrühstückt, und so ’n Grünschnabel in Holzpantinen käm ihnen da gerade recht.

»Das erinnert mich an Folgendes«, lachte Knorrmann, die nächste Büchse öffnend. »Ich hab nämlich auch noch nicht gefrühstückt. Möchten Sie auch eine?«

»Nee, nee«, wehrte Wellhorn ab. »Das lassen wir man hübsch bleiben. Muss kloar‘n Kopp behalten für meine hochgeschätzten Gäste - das hol ich alles später nach. Mien Bier is dat Watt.«

Ich hatte inzwischen mein Portemonnaie gezückt und setzte eben an, zu fragen, wie hoch sein Honorar ausfalle oder seine Gage, oder ob Heuer der passendere Ausdruck wär?

Winkt er ab und meint, bezahlt werde bei ihm immer zum Schluss, wenn alles abgetan; er könne von uns nicht verlangen, dass wir die Katze im Sack kauften. Das sah ich ein und steckte das Geld wieder weg.

»Na, moi«, fuhr er fort und nahm Haltung an. »Denn is ja soweit allens kloar mit uns Hübschen. Und nu woll’n wir man ook keen Tied mehr verplempern und uns schleunigst in Marsch setzen. - Die Tide wartet nicht, der Blanke Hans kann uns nicht Wurst sein.«

Er tat einen kräftigen Zug aus seiner kurzgestielten Schiffspfeife, ordnete das blütenweiße Einstecktuch in der Brusttasche seiner meerblauen Uniformjacke und lächelte uns einen nach dem anderen an. Der gleißende Bartkranz ließ das gebräunte Gesicht des Mannes beinah schwarz erscheinen, und seine Augen loderten in dem unnatürlichsten blauen Feuer, seitdem Hans Albers mit seinen Lichtern Frauenherzen zum Schmelzen gebracht hatte.

Elsie zuckte zusammen, als hätte sie einen elektrischen Weidezaun berührt. Sie verdrehte sich zur Schraube, ihr rechtes Bein schlug so heftig aus, dass ihr der Schuh vom Fuße flog, und hätte Knorrmann nicht zugegriffen, wär sie glatt in die Knie gegangen. Nie sah ich eine vollendetere Gänsehaut an einem Frauenzimmer.

»Na, na, na! Nu man sinnig gesegelt, lütt’n Deern«, lachte Wellhorn gutmütig, eine Wolke Rauch ausstoßend. »So schlimm kann’s ja wohl nich werden mit uns beiden.« Er reichte Elsie seine sonnengebräunte Rechte, als lüde er sie zum Captain‘s-Dinner, verbeugte sich tief und führte ihre Hand an seine Lippen. Elsie stand blutübergossen.

Wir brachen auf. Die Insel lag vor uns hingespreitet wie Geschmeide; mein Turm leuchtete weißer denn je, aber Wellhorn hielt durchaus nicht darauf zu, er wandte sich scharf nach links und mahnte zu zügigem Schritt. Er mochte seine Gründe haben. Ich staunte, wie leichtfüßig und geschickt sich der Riese bewegte. Während uns Landratten der Schlick nur so um die Beine flog, blieb sein blitzblankes Schuhleder ebenso unbefleckt wie seine topgebügelten Hosenbeine.

Wir mochten eine Viertelstunde marschiert sein, als Wellhorn seine Pfeife ausklopfte, in die Brusttasche zu dem Tüchlein steckte und eine winzige Mundharmonika hervorzog. Ob wir drei denn auch Musik im Herzen trügen? wollte er wissen -; wir bejahten dies stürmisch wie Erstklässler.

»Moi, moi«, sagte er kopfnickend, »denn woll‘n wir man die verzagten Seelen öffnen!«

Er fuhr mit der Zunge über das silberne Instrument, blies die Tonleiter hurtig einmal rauf, einmal runter, und dann begann er, die erste Melodie zu blasen, wobei er uns mit dirigentenhaftem Armgefuchtel zum Mitsingen ermunterte.

Wir waren willige Schüler, freuten uns, dass wir die Töne trafen - wann hatten wir zuletzt gesungen? - und geriet ziemlich aus dem Häuschen. Knorrmann hielt sich übrigens für den Begabtesten von uns dreien, übernahm grölend die zweite Stimme indem auch er mit den Armen zu rudern begann und Elsie augenrollend aufforderte, gefälligst lauter zu singen.

Wir ließen Nordseewellen an den Strand trecken und den Störm hulen; wir beteuerten, dass es in Oostfreesland am besten sei; wir forderten kleine Möwen auf, nach Helgoland zu fliegen, und baten einen Kapitän, uns zunächst mit auf die Reise zu nehmen und anschließend bei Muddern zu Haus wieder abzuliefern.

Nach diesem drohte Knorrmann etwas kurzatmig an, sofort nach unserer Rückkehr eine Liedertafel ins Leben zu rufen mit ihm als Chorleiter und mit mir als seinem Stellvertreter. Elsie stand der Sinn mehr nach Privatstunden im Hause Wellhorn.

Niemand hatte bemerkt, wie inzwischen ganz heimlich die Insel außer Sicht geraten war.

Ich seh heute noch das Bild vor Augen: Wellhorn stramm voran, seinem Instrument das äußerste abverlangend, wir hinterdrein im Gänsemarsch. Als folgten wir dem Rattenfänger!

»So«, sagte Wellhorn unvermittelt stehenbleibend. »Nu will ick nich mehr, bin ganz und gar leergepustet. Die Ouvertüre is hiermit zu Ende, Herrschaften, nu kommt Teil zwei der Übung.«

Er klopfte die Spucke aus seinem Instrument, blies einmal prüfend nach und warf es achtlos in eine Pfütze, indem er in sich hinein kicherte und wir uns wunderten.

Wir gingen weiter, aufmerksam lauschend, während er in sachlichem Tonfall auf die eine oder andere Muschel hinwies und auf die unzähligen Schlammhäufchen, für die er einen Wurm verantwortlich machte. Zwischendurch schaltete er kleine Anekdoten ein. So sprach er, an Elsie gewandt, von der Taufe der russischen U-Bootfahrer, die zunächst einen fettbeschmierten Hammerkopf zu küssen hätten, bevor sie, nach dem Genuss einer tüchtigen Tasse Meerwassers, vollends zum Manne würden. Dazu spitzte er die Lippen und legte den Kopf schief, als warte er auf etwas.

Doch Elsie hatte nicht die Courage, ihm einen Schmatz zu schenken. Stattdessen nahm ihre Gesichtsfarbe um eine weitere Nuance zu. Wär sie ein Mann gewesen, hätt ich gesagt, ihr schwoll der Kamm, so puterrot sah sie aus.

Wellhorn redete von weiteren Meeresbewohnern. Ob wir den Herzschlag der Miesmuschel vernehmen könnten und das Atmen der Seesterne am Grunde der Priele? Und das Kauen des gepanzerten Gelichters in ihren sandigen Verstecken? Er schwärmte von einer zweidimensionalen Delikatesse, die immer seltener werde hier draußen durch die verdammte Umweltverschmutzung und wie es ihn schmerze, immer öfter der flachen Leckerei zu entbehren.

»Und Gott erfand die Kutterscholle«, rief er aus. »Der Mensch aber die Pfanne dazu.«

Knorrmann wollte sich ausschütten vor Lachen, stampfte mit dem Fuß auf, doch der Erzähler erwiderte sein Lachen nicht; er musterte ihn aufmerksam, fast tadelnd. Aber das bekam der Biertrinker nicht mit.

Was wir auch aufsammelten und ihm zeigten, unser Führer hatte auf alles eine Antwort. Die viergehörnten schwarzen Teufelsköpfchen, die sich im Blasentang verfangen hatten, das waren richtige Haifischeier, lernten wir, und vor den Nesselfäden der Feuerqualle, die wie gestrandete Rote Grütze auf der Sandbank trocknete bekamen wir ordentlich Respekt.

»Was sind das für schwarze Klumpen überall?«, wollte Elsie wissen. »Und dieses Schillern manchmal auf den Pfützen - sind das Algen?«

»Algen?«, erwiderte Wellhorn und holte tief Luft. »Algen würd ich das hier nicht nennen, mien Deern, Algen nu wirklich nicht.« Dazu machte er ein Gesicht, an dem Frau Reizker-Durr so einiges zu ändern vor-geschlagen hätte.

Elsie schien offensichtlich irgendeinen wunden Punkt berührt zu haben. Sie hatte es bemerkt und wollte rasch das Thema wechseln, doch dazu war es zu spät.

»Öl is dat. Erdöl«, knurrte Wellhorn. »Verstehst du, wat ik meine? Altöl - jeden Dreck, den du nur immer willst. Und manchmal, mien lütten Seejungfrau, manchmal is dat Wasser hier buten so richtig büschen suur - nicht wahr, Herr Nebel, Wasser kann manchmal ein ganz klein wenig sauer werden?«

»Sauer?«, fragte ich, »wie das denn?«

Faucht er dazwischen mit einer Stimme, so gar nicht seines Äußeren würdig: »Sauer mag Sie, mein Herr, ja wohl lustig machen, besonders wenn’s euer Dreck is, den ihr loskriegt auf die billigste Art und Weise, aber« - und nun war er fast am Brüllen - »aber meine Tochter macht das auch nicht mehr lebendig - meine Tochter …« Sein Gesicht war jetzt wirklich schwarz, und die Augen schossen blaue Funken, als wollte er damit zu schweißen beginnen.

»Augenblick mal, Meister!«, hörte ich mich erwidern; aber das klang nicht ein Bruchteil so forsch, wie ich’s mir vorgenommen hatte. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Dünnsäure, nicht wahr?«, heulte der Wattführer, »Dünnsäure nennt ihr den Schiet - das reinste Gurkenwasser, hab ich recht? Apfelessig … wie? - Völlig harmlos, was?« Er war wieder stehengeblieben, schlug die Hände vor das Gesicht und war schwer am Keuchen, als hätte er eine Zentnerlast zu tragen. »Zwölf Jahre, grade mal zwölf! Und so blond ihre Zöpfe und so blau ihre Augen - Einfach am falschen Tag Baden gegangen, das war alles. Zufall, alles Zufall? Nur ein Schifflein klein mit Gurkenwasser, weiter nichts, meine Herrschaften. Nur ’ne leichte Verklappung - weiter nicht der Rede wert …«

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