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III.

Sich allein kann kein Mensch leben,

wenn er auch wollte.

Herder8

Der produktiven Bildungsmacht des Kulturellen, die wie ein utopischer Funke am Grunde der menschlichen Realität wirkt, stellen alle gesellschaftlichen Mächte nach. Indem sie immer wieder erstarrt und sich an ›die Kultur‹ verliert, wird sie von den herrschenden Mächten assimiliert. Letzteres hat keiner so klar gesehen wie Walter Benjamin. Die sogenannten »Kulturgüter« begriff er als die Beute, die, »wie das immer so üblich war«, in dem Triumphzug mitgeführt wird, der, als »Erben aller, die je gesiegt haben […], die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen« (Geschichtsphil. Thesen, VII).

Was zunächst wie ein Befreiungsheld erschien, muss also selbst erst befreit werden. Doch es ist nicht so, als würde es bloß darauf warten. Es ist kompromittiert durch seine absolute Plastizität im Dienste eines Selbst, das sich als Zweck setzt.

Im Folgenden geht es unter immer anderen Aspekten um Versuche, das originär kulturelle Moment freizulegen und der Umarmung durch Ideologie und Unterhaltungsgeschäft zu entwinden. Die falsche Positivität der ›Kultur‹ soll aufgesprengt werden. In dem Maße, in dem es gelingt, der in jedem Individuum und potenziert in den Sozialen Bewegungen lebendigen Lust auf kulturelle Autonomie Begriffswerkzeuge zur Verfügung zu stellen und zugleich dazu beizutragen, das Ringen um kulturelle Hegemonie nicht zur Hegemonisierung des Kulturellen durch die Politik werden zu lassen, wird diese Schrift ihren Zweck erfüllt haben.

Nach der Theorie des Ideologischen und der Kritik der Warenästhetik schließt der Autor mit dem vorliegenden Buch, das nach der Interferenz dieser Mächte mit dem Kulturellen in der Spannung von Unterwerfung und Widerstand fragt, seine Trilogie zur zeitgenössischen Kultur ab. Einige der Kapitel entstammen der Zeit der Krise des Fordismus und muten die ›Übersetzung‹ in zeitgenössische Materialien und Frontstellungen zu. Im Ringen mit dem sowjetisch geprägten Marxismus-Leninismus ging es damals unter anderem darum, eine neu an Marx, Brecht und die »Linie Luxemburg-Gramsci« (Peter Weiss) anknüpfende geschichtsmaterialistische Kulturauffassung und emanzipatorische Politik des Kulturellen auszubilden. Andere Kapitel tragen die Spuren der Periode des Übergangs zu dem, was inzwischen als transnationaler Hightech-Kapitalismus unseren Alltag bestimmt. Diese älteren Texte sind überarbeitet und in Teilen umgeschrieben. Dass die Wurzeln der vorliegenden Schrift und zumal ihres Leitbegriffs mehr als dreißig Jahre zurückreichen, situiert sie am Gegenpol zu jener beschleunigten Zirkulations- und Veraltungszeit von Kulturthemen, in der eine »regelkreisähnliche Schließung« von Medienkultur und Wissenschaftskultur zum Ausdruck kommt (Lindner 2000, 98). Kein ›Heute neu!‹ bestimmt den Tenor, sondern der Versuch, der emanzipatorischen Seite im Ringen um kulturelle Hegemonie und ihrer Politik des Kulturellen und politischen Kultur zuzuarbeiten. Die aus zwei Jahrzehnten stammenden Texte zur Konzeption der Volksuni zeigen diese als Praxisfeld und spiegeln zugleich den epochalen Übergang jener Jahre.

Danksagung

Eine große Hilfe waren mir die Einwendungen und Anregungen von Thomas Barfuss, Frigga Haug, Peter Jehle und Bernd Jürgen Warneken. Jan Loheit, der das ganze Buch lektoriert und die Register erstellt hat, Ingo Lauggas und Kamil Uludag unterstützten mich darüber hinaus bei der Materialbeschaffung. Daniela Hammer-Tugendhat und Ivo Hammer haben mir mit Ratschlägen zum Holbein-Exkurs geholfen. Martin Grundmann hat mit Geduld und Sorgfalt den Umschlag und die Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.

1 Der Widerspruch kommt nur metaphorisch verkannt vor: In Herders »Briefen zur Beförderung der Humanität« werden Fähigkeiten und Kräfte eines Menschen allegorisch als sein »Kapital« bezeichnet und die Früchte ihres Gebrauchs als dessen »Zinsen«, die nach seinem Tode der Gattung zuwachsen, in der immer aufs Neue »junge, rüstige Menschen […] mit diesen Gütern forthandeln« (Brief 25.8-9).

2 Hölderlin, »Andenken«, SW 1, 475.

3 Darin klingt das Dilemma der frühen Sozialdemokratie an, den kulturellen Rückstand kompensieren und zugleich eine den bürgerlichen Einfluss »neutralisierende proletarische Subkultur« entwickeln zu müssen; das Übergewicht des ersten Aspekts führte dazu, dass die »ideologiekritischen Intentionen« auf der Strecke blieben (Fülberth 1972, 8).

4 Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, 479.

5 »The vocabulary of cultural studies is contested, with no agreement on the basic terms used to describe its field […] the key concepts are unstable, constantly being challenged and revised« (Kellner 1995, 34).

6 Theodor W. Adorno, der diese Einsicht festgehalten hat, bestimmt dieses kritische Moment als den »perennierenden Einspruch des Besonderen gegen die Allgemeinheit, solange diese unversöhnt ist mit dem Besonderen« (Kultur und Verwaltung, GS 8, 131, 128).

7 Unter den Bedingungen des transnationalen Hightech-Kapitalismus bekräftigt Hall dieses Frageraster: »How is the global capitalism inscribed in the culture? How is the culture depending on sophisticated technologised economy? In the articulation of these three moments neither one is reduced to the other and if you don‘t reduce one to the other you have to think of over-determination. The result, the outcome of all these moments is over-determination. That is the paradigm of early Cultural Studies.« (Hall 2008b)

8 Briefe zur Beförderung der Humanität, 25.6.

Erstes Kapitel
Kulturtheorien ohne Kulturbegriff

Vor allem – das ist ein »Passwort« –: wo ist Marx?

Stuart Hall (2008b)

1. Ein erster Blick auf aktuelle Kulturauffassungen

Dass ›Kultur‹ als Allerweltswort fungiert, ist oft bemerkt worden. Seine Vieldeutigkeit spiegelt die »Inkompatibilität der vielen Denklinien, die historisch im selben Ausdruck zusammengekommen sind« (Bauman 1973, 1). Die einen verstehen darunter alles, was nicht Natur ist;1 andere haben das konkrete Wie menschlicher Lebensgestaltung im Sinn; dritte engen die Bedeutung weiter ein auf »symbolisches Handeln« (Geertz 1987, 16)2, wieder andere auf Wertsysteme. Oft bedeutet die »›cultured‹ person«, also der ›Gebildete‹, schlicht das Gegenteil des ›Ungebildeten‹, »the ›uncultured‹ one« (Bauman 1973, 7). ›Kultur‹ ist dann einfach ein anderer Name fürs Reich der ›höheren Bildung‹ oder, enger noch, der ›Kunst‹. Die erste Bestimmung mit der Entgegensetzung Kultur/Natur umfasst so viel, dass sie nichtssagend wird. Die zweite, nicht weniger umfassend, etwas konkreter fragend, sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht (darauf gehen wir gleich näher ein). Die dritte bleibt in der Symbolabstraktion3, die vierte im Wertehimmel hängen: Es ist der Blick von oben, der daraus, dass das Kulturelle den Menschen etwas bedeutet oder für sie wertvoll ist, den Vorgang entobjektiviert und entmaterialisiert und nurmehr Zeichen und Werte übrigbehält. Dadurch verkehrt sich deren Abstammung vom Konkreten in dessen Ableitung aus ihnen.4 Wie ein Gleichnis dafür liest sich eine Beobachtung des mexikanischen Schriftstellers Rafael Argullol: Eingeladen zur Feier anlässlich der Verleihung des Titels »immaterielles Weltkulturerbe« an die mexikanische Küche, stieß ihm die idealistische Verhimmelung auf, da ihm wie jedem, der seine Sinne beisammen hat, »die äußerst wohlschmeckende mexikanische Küche kaum ›immateriell‹ erschien« (2010). Das Kunstparadigma von Kultur schließlich verliert die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder aus dem Blick, und indem sie die nach Klassenlage gestufte Kultur »anhand einiger geweihter Objekte« beredet (Althusser 1967/1985, 46), legitimiert sie damit indirekt die Herrschaftsverhältnisse.

Am klarsten scheinen die Ethnologen zu sprechen, die davon ausgehen, »dass Kulturen immer im Plural existieren« (Hauck 2006, 7). Der den Sinn bestimmende Gegenbegriff zu Kultur ist damit weder die Natur noch die Kulturlosigkeit, sondern die je andere Kultur. Das war relativistisch-befreiend angesichts eines Universalismus, dessen Gewalt-, ja Vernichtungspotenziale gegen das Besondere ans Licht getreten waren. Doch dann hat das Blatt sich wiederum gewendet, und der »ursprünglich ausdrücklich als Gegenbegriff zu dem der Rasse« in die US-amerikanische Sozialwissenschaft eingeführte pluralisierte Kulturbegriff hat »den Rassebegriff abgelöst als zentrales Rechtfertigungsargument für Diskriminierung und Unterdrückung aller Art« (8). Dagegen kämpft heute der Mainstream durch die Dekonstruktion homogener Ethno-Vorstellungen an, indem er querliegende Teilungen und Verbindungen (nach Klasse, Geschlecht usw.) oder transnationale Intellektuellenkulturen herausarbeitet, Elemente sozialer Konstruiertheit in Selbst- und Fremdbildern von Ethnizität hervorhebt, sowie gegenüber statischen Auffassungen von Kultur deren Fluidität betont als eine in der praktischen Aneignung stets mitvollzogene Umgestaltung.

Die ›Pluralität der Kulturen‹ wanderte von der Ethnologie – im ›kulturanthropologischen‹ Sinn einer Kunde von fremden Völkerschaften – zur ›ethnomethodologischen‹ Erforschung der eigenen Gesellschaft, zur »Binnenethnologie«, als deren »wohl wichtigste Zielsetzung […] das Dolmetschen« zwischen »Klassen und Schichten komplexer Gesellschaften« gelten kann (Warneken 2006, 340). Den Platz der Kulturtheorie nimmt dann die ›Ethnographie‹ ein.5

Werden wir mit Paul Willis (2009, 149f) aus theoretischen Klärungsversuchen in die überwältigende empirische Positivität des Faktischen flüchten und in die Rede von einer »Kultur, die […] eher anthropologisch als ›Lebensweise‹ zu verstehen ist«? Die Berufung auf Raymond Williams versieht diese Gegenstandsbestimmung zunächst mit einem Vertrauensvorschuss (wir kommen darauf weiter unten zurück) – und tatsächlich scheint sie auf den ersten Blick einiges für sich zu haben: Theoretisch grundlegend zu klären, was man mit ›Kultur‹ im Unterschied zu Gesellschaft oder Lebensweise sagen möchte, wird man sich im empirisch ertragreichen Geschäft der vergleichenden ›Kulturen‹- oder Lebensweisenbeschreibung doch nicht zusätzlich aufladen wollen. Hat man nicht in der Lebensweise ein handfest-empirisch Gegebenes als soliden Forschungsgegenstand? Doch abgesehen von der »(unvermeidlichen) Selektivität in der Gegenstandswahl und ihrer Begründung« (Fluck 2004, 21) beschreibt keine Beschreibung je nur, jede wählt aus und deutet. Nachdem man Wittgensteins »Die Welt ist alles, was der Fall ist« gleichsam in »die Kultur ist alles, was Lebensweise ist« übersetzt hat, schlägt diese Entgrenzung die Beschreibung mit Blindheit für das, was sie wirklich tut. Denn da, wie Kant aufgezeigt hat, Anschauung ohne Begriffe blind wäre, öffnet diese Uferlosigkeit unthematisierten Begriffen die Tür, die bestimmte Dimensionen oder Momente der Lebenspraxis herausheben, andere Momente oder Zusammenhänge ausblenden. Eine Ahnung davon macht sich breit angesichts der Talkshow-Einladungen »zu Themen, die vom Osterhasen über urban legends bis hin zu den neuesten Stämmen der Postmoderne reichen« (Lindner 2000, 97). In der Regel ist es die Ideologie, die hinterm Rücken des gesunden Menschenverstands eintritt, falls man sich nicht einem momentan virulenten Theorieparadigma unterstellt, während die von Marx ins Bewusstsein gehobenen Mechanismen des Kapitalismus, der Klassengesellschaft und der ideologischen Herrschaftsreproduktion wie von selbst aus dem Blickfeld verschwinden.

Oft fasst man Kultur dann mit einer dem Denken der Warengesellschaft besonders eingängigen Kategorie als »System von Werten«, ohne zu fragen, wie dieser Wertehimmel aus den irdischen Verhältnissen im Sinne »praktischer, also durch die Tat begründeter Verhältnisse« (Marx, 19/362) aufsteigt und sich als ideelle Entsprechung und Legitimation gesellschaftlicher Herrschaft verfestigt. Der Wertebegriff fasst das Resultat und verfehlt den Prozess, woraus es resultiert. Und was mehr ist, er artikuliert dieses Resultat in der Sprache der vom unmittelbaren Arbeitsprozess abgehobenen und ihm hierarchisch vorgesetzten Gesellschaftsschicht. Kurz, der Wertbegriff gehört der Herrschaftssprache an, die auf Grundlage der ›horizontalen‹ Arbeitsteilung die ›vertikale‹ Teilung zwischen »der materiellen und geistigen Arbeit«6 voraussetzt. Darin gründet, was man den strukturellen Idealismus der Klassengesellschaft selbst nennen kann.

Als Gegenbewegung zu diesem strukturellen Kulturidealismus erscheint auf den ersten Blick die Hinwendung zur sogenannten »materiellen Kultur« (vgl. dazu das dritte Kapitel). Doch sie distanziert sich nicht so sehr von solchen und anderen Formen des Kulturidealismus, als dass sie sich als deren Ergänzung andient, wie ja auch ihr Name von dem der ›immateriellen Kultur‹ zehrt.7

2. Ist ›Kultur‹ nichts als ein ›Diskurs‹?

Was erfahre ich über die Sache ›Kultur‹ selbst, wenn ich eine Typologie der Kulturauffassungen aufstelle? Ich weiß nicht einmal, ob es eine solche Sache überhaupt gibt, und kann also ebenso wenig sicher sein, dass es sich lohnt, vom Kulturbegriff so viel Aufhebens zu machen. Zwar gibt es wohl keinerlei Sozialkategorie, deren Deutung unumstritten wäre. Auch über Ökonomie oder Staat oder selbst Klassengesellschaft sind kontroverse Auffassungen im Umlauf. Doch bei solchen handfesten Realitäten verhält es sich eher wie in dem Bild, das Leibniz gebraucht, um die Standortgebundenheit der einzelnen Sichtweisen mit der Leitvorstellung absoluter Wahrheit zu versöhnen, und zwar im Sinne einer Mit-Möglichkeit, compossibilité, einander bedingender Möglichkeiten: Es ist, als blickten die Einzelnen von unterschiedlichen Stellen auf eine Stadt – wir können ergänzen: mit unterschiedlichen Interessen. Von jedem Standpunkt und jeder Sichtweise zeigt sich etwas anderes, und doch zweifelt niemand an der Existenz der Stadt. Selbst wenn jemand etwa die Existenz der Klassenverhältnisse bestreitet, lugt das Verleugnete mitsamt dem Interesse an seiner Verleugnung aus deren fadenscheiniger Textur.

Anders, bodenloser bei der ›Kultur‹. Sie scheint Wittgensteins resignierten Freibrief in Kraft zu setzen: »Ein Wort hat die Bedeutung, die jemand ihm gegeben hat.« (W 5, 52) Doch die Frage gibt keine Ruhe: Wieso gibt jemand dem Wort ›Kultur‹ diese oder jene Bedeutung? Welche interessierten oder bewusstlos ideologisierten Blickrichtungen sind da am Werk? Könnte es sein, dass es hier umgekehrt wie in der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern zugeht, wo die ›Gebildeten‹ ihren Kotau machen vor der wundermodischen Einkleidung der Herrschaft, bis ein ungebildetes Kind die einfache Wahrheit ausspricht: »Der Kaiser hat ja gar nichts an.« Könnte es sein, dass im vorliegenden Fall ›Kultur‹ nichts als eine ›diskursive Einkleidung‹ ist, in der nichts Substanzielles eigenen Rechts steckt? Oder gibt es für diesen Diskurs doch ein – trotz aller Verschiedenheit – gemeinsames Fundament in der Sache? Wenn das nicht der Fall ist, müssen wir dann nicht unseren Klärungsversuch abbrechen?

In dieser Sackgasse verspricht ein anderes von Wittgensteins Bildern uns zur Hand zu gehen, nämlich das von der »Familienähnlichkeit« (W 5, 37 u. 41). Auf dem Rückzug aus der Wesensmetaphysik räumt es Allgemeinbegriffen einen pragmatischen Status ein. Schauen wir uns das Bild näher an: Keine zwei Individuen einer Großfamilie sind einander vollkommen gleich, doch die einzelnen Züge streuen sich in immer neuen Kombinationen. Selbst zwei Individuen, die völlig unterschiedliche Züge haben, können jeweils einen Zug mit einem dritten Individuum gemein haben, das mit jedem der beiden zumindest einen seiner charakteristischen Züge teilt. Über diese dritte Person vermittelt sich dann die Familienzugehörigkeit der beiden ersten. Wittgenstein legt ein zweites Bild darüber, das Bild vom Spinnen eines Fadens, wobei wir »Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, dass irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern einander übergreifen.« (Philos. Untersuchungen, §67, W 1, 278) Freilich lassen sich über solche vermittelnden Teilgemeinschaften die Grenzen des »Fadens« wie auch der »Familie« immer weiter hinausschieben, bis tendenziell Alles dazugehört. Das ist jedoch nur eine andere Weise zu sagen, dass keines mehr zu etwas Bestimmtem gehört.

Oder trägt der Griff, der ein Allerlei als ›Kultur‹ zusammenfasst, die Handschrift des Staates oder einer der an ihn angelehnten Verwaltungen? »Die Zusammenfassung von so viel Ungleichnamigem wie Philosophie und Religion, Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten, schließlich dem objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur verrät vorweg den administrativen Blick, der all das, von oben her, sammelt, einteilt, abwägt, organisiert.« So sieht es Adorno in einem Essay von 1960, der zur Orientierung von Kulturredakteuren im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gedacht war. Zugleich sieht er ›Kultur‹, »gerade nach deutschen Begriffen, der Verwaltung entgegengesetzt. Sie möchte das Höhere und Reinere sein, das, was nicht angetastet, nicht nach irgendwelchen taktischen oder technischen Erwägungen zurechtgestutzt ward.« Doch sieht er nur allzu deutlich, »wie sehr die hundertmal zu Recht kritisierte Kategorie der Welt wie sie ist, der verwalteten, verschworen und angemessen ist. Gleichwohl wird kein einigermaßen Empfindlicher das Unbehagen an der Kultur als einer verwalteten los.« (GS 8, 121f) – Wir sind gut beraten, wenn wir uns darauf einstellen, dass das kulturelle Feld nicht nur von Zweideutigkeiten dieser Art, sondern auch von einem vielfältigen Kräftemessen durchzogen, kurz: »ein Feld wuchernder Antagonismen« (Hall, AS 3, 151) ist. Machen wir uns auf ein Tauziehen gefasst, in dem alles verloren, nie alles gewonnen werden kann.

Wir kommen auf diese unaufhebbare Ambivalenz zurück. Zuerst wenden wir uns der Frage der philosophischen Reflexion zu. Denn die philosophische Anthropologie reduziert Kultur keineswegs auf Lebensweise, zumal dann nicht, wenn sie das »Passwort Marx« entschlüsselt hat.

3. Die ›Kulturelle Wende‹ als Abwendung von der Philosophie

Von den frühen Cultural Studies8 bekennt Stuart Hall (2008b), fehlende Deutschkenntnisse im Verein mit damals noch fehlenden Übersetzungen hätten den Zugang zumal zur deutschsprachigen kritisch-marxistischen Philosophie blockiert. So kam es, dass dieser neu aufbrechende Zweig der Kulturforschung sich als »Feld ohne Philosophie konstituierte«. Für Hall ist es »der verfehlte Moment in der Geschichte« und eine »wirkliche Schwäche«, die allerdings den Vorteil hatte, der Forschergruppe theoretische Spekulationen zu ersparen.

Ganz anders der Tenor in einem relativ willkürlich herangezogenen, jedoch symptomatischen kulturwissenschaftlichen Textbuch von 2010. Das Vorwort erklärt, warum man die Philosophie seit dem »Cultural turn« vergessen könne. Von der ethnologischen, im Englischen und Französischen als anthropologisch bezeichneten Kulturwissenschaft heißt es, dass sie sich »dezidiert von einer Tradition der Ideen- oder Kulturgeschichte verabschiedet […]. Die wissenschaftliche Grundlage bilden weder Philosophie noch Philologie, sondern Soziologie und Anthropologie.« (Kimmich u. a. 2010, 9) Wir erfahren, dass die US-amerikanischen Ethnologen Alfred L. Kroeber und Clyde Kluckhohn bereits in den frühen 1950er Jahren philosophische Kommentare oder Reflexionen zur menschlichen Geschichte verbannt hätten.9 Stattdessen solle man sich darauf beschränken, »Sitten« und »Gebräuche« zu erforschen, »die variabel, partikular, plural und empirisch« sind; an die Phänomene solle »historisch, pluralistisch, relativistisch« herangegangen werden, »gleichwohl bestrebt, die Totalität der bekannten Welt von Brauchtum [custom] und Ideologie abzudecken« (146f). Man habe deshalb »Ansätze, die einer eher idealistischen Tradition […] angehören, […] weitgehend unberücksichtigt« gelassen (Kimmich u. a., 10). Nicht gesagt wird, dass erst recht die geschichtsmaterialistische Tradition unberücksichtigt bleibt. Antonio Gramsci oder Stuart Hall, ohne deren Gedanken der »Cultural turn« eine taube Nuss geblieben wäre, werden nicht einmal erwähnt, Michail Bachtin oder Raymond Williams zwar genannt, doch bei der Textauswahl nicht berücksichtigt.

Der Rückzug aufs positiv Vorhandene, den auch Willis mit seinem »anthropologisch als ›Lebensweise‹« gefassten Kulturbegriff angetreten hat, entbindet eine Dialektik der verwandelten Wiederkehr des Verdrängten. Herbert Marcuse hat sie in den USA der 1960er Jahre im Einflussbereich der Analytischen Philosophie beobachtet. Letztere war darauf aus, solche »›Mythen‹ oder metaphysischen ›Gespenster‹ wie Geist, Bewusstsein, Wille, Seele, Selbst zu bannen, indem sie die Intentionen dieser Begriffe in Feststellungen über besondere, identifizierbare Operationen, Veranstaltungen, Mächte, Stimmungen, Neigungen, Fertigkeiten usw. auflöst. Das Ergebnis erweist auf merkwürdige Art die Ohnmacht der Destruktion – der Geist spukt nach wie vor.« (1967, 216) Auch die Herausgeber des zitierten Textbuchs scheinen zu ahnen, dass ihre »Vorstellung einer ›Kultur-Theorie‹ einen internen Widerspruch enthalte« (Kimmich u. a. 2010, 9). Unerkannt sucht der Widerspruch sie dort heim, wo sie davon sprechen, »was Kultur ist, wie sie entsteht, sich wandelt, sich von anderen Kulturen abgrenzt« (10). Das Subjekt des Satzes ist Kultur im Allgemeinen, die Aussage bezieht sich auf eine besondere Kultur im Unterschied zu anderen Kulturen. Es ist dasselbe Wort, benennt indes zwei ganz verschiedenartige Erkenntnisobjekte. Das führt sie zu der Frage: »Was aber macht eine Theorie zu einer Kulturtheorie?« Die Definitionen, die sie als beispielhafte Antworten aus drei Veröffentlichungen anderer Autoren zu »Kulturtheorien« anführen,10 haben gemeinsam, dass jeweils »Kultur« oder »kulturell« als definitorische Erklärung (definiens) fungiert, ohne selbst definiert zu werden. Das läuft auf die Definition von Kulturtheorie durch sich selbst hinaus. Das kann nicht anders sein, solange nicht gefragt wird, was ein Phänomen zum kulturellen macht. Haben wir es mit dem Paradox einer Kulturtheorie zu tun, die keine Theorie der Kultur mehr hat? Dabei macht deren »Postulat der Kulturalität aller gesellschaftlichen Handlungsebenen und Handlungssysteme« sie, wie Warneken (2010, 13) sagt, »zumindest theoretisch zu einer Hyperwissenschaft«, was »in einen Kultur-Imperialismus ausarten kann«.

Wenn es keine explizite Begründung des Erkenntnisobjekts mehr gibt, so spiegelt die Textauswahl bei Kimmich u. a. zumindest ein implizites Verständnis. Es erweist, wie von Marcuse vorhergesagt, »die Ohnmacht der Destruktion – der Geist spukt nach wie vor«, nur dass er jetzt als vulgärmetaphysische Gespenster spukt. Dies nicht vor allem in der Gestalt von Malinowskis »Geistern der Toten auf den Trobriand-Inseln«, die in der Auswahl vertreten sind, sondern im dichotomisch aufgespannten Interpretationsrahmen des kulturwissenschaftlichen Gegenstands insgesamt. Wie selbstverständlich spuken die Geister des ›Heiligen‹, des ›Irrationalen‹, des Gewaltrauschs usw. in dieser Welt ohne sozial- und politisch-ökonomischen Boden. Doch was erfahre ich eigentlich über Kultur, wenn ich von Schamma Schahadat gesagt bekomme, »die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan« werde »als eine Grunderfahrung begriffen« (24), solange nicht darüber nachgedacht wird, was vorstaatliche Gemeinwesen dazu bringt, bestimmte Orte, Dinge oder Akte ›heilig‹ zu halten?11 Die Verdrängung der geschichtsmaterialistischen Kulturtheorien ist vollkommen. Der Preis, den der als einzig legitim sich gebärdende momentane ›Mainstream‹ unbemerkt entrichtet, ist seine theoretische Aushöhlung.

1 627,39 ₽
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22 декабря 2023
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9783867549400
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