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Ein anderes Mal fragte er mich: »Wo sind denn die Medizinmänner und Medizinfrauen, von denen du sagtest, sie wollten sich hier zum Powwow treffen, um starke Medizin5 zu machen? Was ich hier sehe, sind hauptsächlich Unterhalter (showmen), wortgewandte Prediger und einige, die irgendwelche Rituale machen. Und der da (er zeigte auf einen populären Schamanen, einem Superstar des Seminarbetriebs), der hat zwar Federn am Hut, aber fliegen kann er nicht! Das ist ein Lügner!«

»Warum«, fuhr er fort, »hast du mich überhaupt hierhergebeten?«

»Zum einen«, antwortete ich, »weil wir keinen Zugang mehr zu den Geistwesen und zu unseren Ahnen haben. Wir haben keine heiligen Lieder mehr, keine Rituale. Wir haben alles verloren. Ich dachte, vielleicht könntest du uns helfen.«

Er sagte nichts. Geschwätz und theoretische Diskussionen sind nichts, womit die Indianer ihre Zeit verschwenden.

Da ich merkte, dass ihm der esoterische Rummel unangenehm war, entschloss ich mich, ihm mal die schöne Tiroler Berglandschaft zu zeigen. Mit dem Auto fuhren wir die Serpentinstraße hinter der majestätischen Zugspitze hinauf, kurvten entlang wilder Felsenschluchten und durch Fichten- und Tannenwälder bis hin zum Fernpass. Elkshoulder sprach während der Fahrt kein Wort. Mit wachen Sinnen nahm er die Natur in sich auf: Die schäumenden Wasserfälle, die moosbewachsenen Felsformationen, die alten knorrigen Tannen, die Birken, Eschen und Espen, und – wenn es welche gab – die Tiere. Kein Adler am Himmel, kein Hirsch im Tann, kein Murmeltier entging seinem scharfen Blick. Als wir am Abend, nach vier oder fünf Stunden Herumgekurve, wieder im Konferenzsaal waren, sagte er: »Nichts habt ihr verloren! Wenn ihr eure Lieder und eure heiligen Rituale wiederfinden wollt, dann geht zu den Bäumen, geht zu den Tieren, den Bergspitzen, den Flüssen. Sie sind alle da. Fragt sie. Sie wissen es. Sie werden euch wiedergeben, was ihr verloren habt!«

Wieder einmal wurde mir klar, dass für die Indianer, wie auch für andere indigene Völker wie die Mongolen, die Natur die Quelle aller Spiritualität ist. Nicht irgendwelche Schriften, Bücher und mönchische Gedankenkonstruktionen, sondern die Berge, Schluchten, der Himmel, das Gewitter, die Bäume und Kräuter, die Gewässer, die Vögel und Fische sind die Sprache des Göttlichen. Man muss ihnen nur lauschen, muss das Geplapper der Gedanken abschalten, muss leer werden, um ihre Weisungen aufzunehmen, um wieder heil zu werden.

Die Tage gingen vorüber, Workshops und Seminare wurden gehalten. Die Schamanen und Medizinleute aus den indigenen Kulturen verhielten sich einander gegenüber respektvoll, aber sie tauschten sich nicht wirklich aus. Die Veranstalter waren leicht irritiert. Das ging doch nicht, dass die Schamanen und Medizinleute im Speisesaal oder im Referentenzimmer einfach herumsaßen und kaum miteinander redeten! Sie, denen es gegeben ist, in andere Wirklichkeiten zu blicken, sollten sich doch rege austauschen, ihre Visionen teilen, sich vernetzen.

Zwei engagierte Frauen, Christine Gottschalk-Batschkus von der Ethnomedizinzischen Gesellschaft und die Völkerkundlerin Amélie Schenk, schafften es, dass sich der mongolische Schamane Zeren Baawae mit dem Medizinmann der Cheyenne an einen Tisch setzte. Orgilmaa und ich wurden beauftragt, das ungeduldig erwartete Gespräch zu übersetzen – Orgilmaa vom Mongolischen und ich vom Englischen ins Deutsche.

Die beiden großen Meister der spirituellen Künste schauten einander erst einmal schweigend an. Offensichtlich erkannten sie die persönliche psychische Kraft, die medicine power, oder wie die Mongolen sagen, das »Windpferd« (Chiimori), das der jeweils andere in sich trug.

»Was kannst du heilen?«, fragte Baawae.

»Alles«, antwortete Elkshoulder.

»Ich kann auch alles heilen«, sagte Baawae.

Nach einer kurzen Pause sprach der mongolische Schamane weiter: »Ich kann alles heilen, nur bei Kehlkopfkrebs habe ich Schwierigkeiten. Kannst du das heilen?«

Ich fand es merkwürdig, dass der Schamane mit dem Heilen von Kehlkopferkrankungen Probleme hatte. Aber dann kam mir die kulturelle Bedeutung dieses Organs in Zentralasien in den Sinn. Die Kehlkopfregion ist ein Fokus für Angstgefühle. Im buddhistischen Lamaismus, dem die Mehrzahl der Mongolen inzwischen angehören, gibt es die Vorstellung einer Hölle, in der die Totengeister von Heißhunger geplagt werden; ihre Bäuche sind zwar riesig groß, aber ihre Hälse (Kehlkopfregion) sind ganz dünn und eng, sodass sie nichts schlucken können; es ist ihnen unmöglich, sich satt zu essen.

Weiterhin spielt auch der Kehlkopfgesang (Khöömei) eine zentrale Rolle in dieser Kultur. Der Gesang dient nicht nur zur Unterhaltung, sondern als Kommunikation mit und als Wiedergabe der Töne und Klänge der Natur – das Pfeifen des Windes durch die Bäume oder über die Steppe, Tierstimmen, Wolfsgeheul, Vogelgesang und Geisterstimmen sind da zu hören. Die dabei erzeugten Obertöne verbinden mit der Geisterwelt, die dunkleren Basistöne gehören zur irdischen Welt. Das Singen hat eine schamanische Dimension. Es ist tatsächlich so, dass der Sänger beim Obertonsingen leicht entrückt ist und während des Singens keine alltäglichen Gedanken denken kann. Tiere reagieren auf Kehlgesang; auf menschliche Zuhörer wirkt er heilend; er kann auch die Selbstheilkräfte anregen.

»Ja, Kehlkopfkrebs kann ich auch heilen«, sagte Elkshoulder.

»Wie machst du das?«

»Mit einer Pflanze!«

»Wie sieht diese Pflanze aus?«, wollte Baawae wissen.

Ich war selber gespannt, welche Heilpflanze das wohl sein könnte. Cathy Welschbillig, eine Ethnopharmakologin aus Luxemburg, die sich zu der Runde gesellt hatte, spitzte ebenfalls die Ohren und rückte näher, um die Antwort genau zu hören. Die junge Frau hatte bei den Northern Cheyenne in Montana Feldforschung betrieben und eine Doktorarbeit über deren Heilpflanzen geschrieben (Welschbillig 1997). Einige der Medizinleute des Stammes, auch mein Freund Tallbull, waren ihre Gewährsleute.

»Sie hat grüne Blätter, einen Stängel und gelbe Blüten.« Das war’s, mehr sagte er nicht. Cathy und ich sahen einander an und zuckten mit den Schultern. Auch Zeren Baawae sagte nichts weiter. Hatte Elkshoulder vielleicht, wie ich es oft bei den indianischen Medizinleuten erlebt habe, seinem Gegenüber ein mentales Bild telepathisch vermittelt? Könnte sein, aber ich glaube, das war es nicht. Wie oft bei indigenen Heilern und Schamanen ist das Wissen um Heilpflanzen persönlicher Besitz. Es wurde ihnen von den Geistern in der Vision geschenkt und gehörte nur ihnen. Immer wieder hatte ich das bei den Cheyenne erlebt: Materielle Gegenstände wurden umstandslos geteilt – mit dem geparkten Pick-up-Truck konnte man einfach wegfahren, das Winchester-Gewehr vom Gestell an der Wand nehmen, wenn man diese Dinge dringend brauchte; man konnte sich ungeniert aus dem Kochtopf oder Kühlschrank bedienen –, aber Visionen und Rituale, die einem die Geister geschenkt hatten, die waren Privatbesitz. Später erwähnte Elkshoulder, dass seine Mutter ihm das Wissen über diese gelb blühende Heilpflanze geschenkt hätte. Welche es ist, blieb sein Geheimnis.

Nach dem Gespräch kam es zu einer Pressemitteilung. Darin hieß es, die internationalen Schamanen tauschen sich aus, was schwere Krankheiten, zum Beispiel Krebs betrifft, und erwägen mögliche Behandlungsmethoden. Einige der großen Tageszeitungen und Magazine nahmen das auf. Ein Reporter der BILD-Zeitung erschien und wollte ein Foto von dem indianischen Medizinmann knipsen. Elkshoulder verweigerte sich. Er hatte als Bedingung seiner Teilnahme an der Konferenz festgelegt, dass er weder gefilmt noch fotografiert wird. Er war überzeugt, dass es ihm die Lebenskraft absauge, wenn das geschehe. Es schien, als verstehe der Reporter die Welt nicht mehr: »Aber wir sind BILD!«, meinte er, »Da will doch jeder rein!«

Opferlamm und Hundebiss

Ein oder zwei Tage darauf sollte Zeren Baawae seine schamanische Kunst zur Schau stellen. Unter dem freien Himmel, im Stadtpark von Garmisch, sollte er die Geister der Berge herabrufen und verehren. Ein solches Ritual bedarf immer eines Blutopfers, am besten ein Schaf. Aber wie sollte das gehen? Im öffentlichen Park eines bayrischen Kurorts und zudem in einer Hochburg der CSU?

Amélie Schenk, die zuständige Ethnologin, hatte die rettende Idee. Ein Osterlamm aus der Backform, das wäre es! Ein passendes Ersatzopfer! Das sei nichts Außergewöhnliches, es sei, wie man in der Religionsethnologie sagt, eine »Substitution«. Die Götter würden es annehmen. Schließlich ist das Schaf auch das bevorzugte Opfertier der abrahamitischen Religionen; während die Muslime noch immer ein lebendiges Schaf beim Bayram-Fest opfern, backen die Katholiken einen Osterkuchen in Lammform.

Eine relativ kleine Gruppe neugieriger Zuschauer hatte sich auf dem Rasen eingefunden. Der berühmte Schamane hatte seinen Schamanenmantel angelegt, in dem seine Schutzgeister wohnten; in den Händen hielt er seine große runde Rahmentrommel und den dazugehörigen Schlägel. Neben ihm zur linken Seite stand seine Assistentin, Orgilmaa. Vor ihnen, auf dem Erdboden, befand sich der in Schafform gebackene, luftige, gelbe Kuchen.

Langsam, rhythmisch seinen Körper bewegend, fing der Schamane an zu trommeln und seine Zauberlieder zu singen. Die Zuschauer standen im Halbkreis um den Geisterbeschwörer herum. Neben mir war Hky Eichhorn, der Windhornbauer, der selbst so etwas wie ein indigener Schamane ist und es vermag, mit seinem »Windhorn« (Didgeridoo) die Naturgeister zu rufen und zu bewegen. Rechts neben mir stand der Rahmentrommelbauer Rolf Baumann aus der Schweiz. Da ihn das Schamanentum besonders interessierte, hatte er sich mit seinem alten Campingbus extra auf den Weg nach Garmisch gemacht. Wie immer hatte er seinen treuen Schäferhundmischling mit dabei. Der Hund, der eine freundliche Natur hatte, brauchte keine Leine, er folgte Rolf brav bei Fuß.

Während Baawae mit seinem Schamanisieren allmählich in Fahrt geriet, fiel mein Blick auf den Hund. Als Hundeliebhaber hat mich schon immer das Verhalten dieser Tiere interessiert. Ich merkte, wie er den Kuchen witterte und neugierig wurde. Er blickte zu seinem Herrn auf, als wolle er um Erlaubnis bitten, das Gebäck näher zu erkunden; dieser aber war ganz von dem Spektakel absorbiert. Langsam und ganz vorsichtig wagte sich der Hund in die Runde, um an dem Kuchen zu schnuppern. Orgilmaa bemerkte ihn, bückte sich freundlich zu ihm herunter und der Hund schaute zu ihr hinauf. In dem selben Augenblick wirbelte der Schamane herum und traf Orgilmaa mit seiner großen Rahmentrommel im Gesicht, sodass das Blut spritzte und sie zu Boden stürzte.

Eine Schockwelle ging durch die Zuschauer. Die Ethnologin war sich sofort sicher, der Hund hätte zugebissen. Sie verkündete das und alle schienen ihr zu glauben. Ich hatte aber genau gesehen, dass das nicht so war.

Sanitäter kamen herbeigeeilt. Auch zwei uniformierte Polizisten erschienen und schnauzten den armen Rolf im Kommandoton an: »Warum war der Hund nicht angeleint? Es besteht Leinenpflicht!«

»Und überhaupt, ist der Hund geimpft?«, fragten sie noch, als sie ihn, samt Hund, wie ein Verbrecherduo abführten. Kein guter Tag für die bundesdeutsch-schweizerischen Beziehungen!

Orgilmaa, deren Lippe geplatzt war und die einen lockeren Zahn hatte, wurde in der Notfallklinik ärztlich versorgt. Die Verletzung wurde vom Arzt genäht – also wie eine Platzwunde behandelt und nicht wie ein Hundebiss. Hundebisse werden wegen der Gefahr von Wundinfektion und Blutvergiftung grundsätzlich nicht genäht. Das ist, weil die Zähne im Hundemaul mit allen möglichen gefährlichen Staphylokokken, Streptokokken, Pasteurellen und anderen Keimen besetzt sein können. Aus ärztlicher Sicht handelte es sich also um eine Platzwunde und keine Bisswunde. Trotzdem verlangte man von Rolf, dass er Behandlung und Schadensersatz zahlt. Die wilden Berggeister verlangten ein echtes Blutopfer. Sie hatten sich – so schien es mir – mit dem christlichen Osterlammkuchen nicht zufriedengegeben. Eigentlich, könnte man sagen, war die Beschwörung der wilden Berggeister erfolgreich gewesen.

Das Ereignis hatte sich auf der Konferenz schnell herumgesprochen. Ein nepalesischer Schamane verkündete großspurig: »Was da geschah, ist nicht nur eine Beleidigung des großen mongolischen Schamanen, es ist eine Beleidigung des Schamanismus überhaupt. Der Hund muss getötet werden, um das wiedergutzumachen!«

Einer der anwesenden Ethnologen, ein international bekannter Experte, dessen Namen ich hier nicht nennen will und der wahrscheinlich gerade eine lange Linie Kokain geschnupft hatte, stieg darauf ein. Mit gezücktem Kurzschwert lief er durch die Hallen des Kurhauses, um das Todesurteil an dem Hund zu vollstrecken. Er sah auch mich und zischte, ehe er weiterraste: »Ich weiß, du weißt, wo er sich versteckt, aber du sagst es nicht!«

Er hatte recht, ich wusste, wo sich Rolf und sein treuer Gefährte aufhielten, ich hatte sie gerade in ihrem Camper auf dem Parkplatz besucht. Rolf hatte mir erzählt, dass er zwar gesehen hätte, wie sein Hund auf den Kuchen zuging, aber er hätte sich aus Respekt vor dem Schamanen gescheut, ihn zurückzurufen. Er wollte das Ritual nicht stören.

Auf dieser Reise in der Mongolei erzählte ich Orgilmaa die Geschichte, wie ich sie erlebt hatte. Sie war aber nach wie vor davon überzeugt, der Hund hätte sie gebissen.

»Das Letzte, was ich sah, ehe ich das Bewusstsein verlor, waren die gefletschten Zähne des Hundes!«

Das mag wohl sein, dachte ich. In dem Moment, als die Trommel auf sie krachte, bekam der an sich friedliche Hund einen plötzlichen Schreck, zog die Lefzen hoch und zeigte die Zähne.

Jeder der Anwesenden schien etwas anderes gesehen zu haben. Es erinnerte mich an den japanischen Filmklassiker Rashōmon (»Lustwäldchen«) von Akira Kurosawa: Im finsteren Wald wird ein Samurai ermordet und seine Frau vergewaltigt. Jeder Zeuge – ein Mönch, ein Holzfäller, die Frau selbst sowie der tote Samurai, der seine Version durch einen Geisterbeschwörer vermittelt – berichtet eine andere, dennoch glaubwürdige Version des grausamen Zwischenfalls. Was war wirklich geschehen? Man kann es nicht sagen. Jedes Zeugnis ist stichhaltig. Das Problem der selektiven Wahrnehmung oder der kognitiven Verzerrung wird damit angesprochen und ist in den philosophischen Diskurs als Rashomon-Effekt eingegangen. Selbstverständlich spielt dieser Effekt auch in der ethnologischen Feldforschung eine Rolle – und auch in diesem Bericht von einer magischen Reise. Obwohl wir zusammen gereist sind, hat jeder Teilnehmer eine andere Reise unternommen.

Indianerfilme und Pferdeherden

Nach kurzem Frühstück in einer Wohnung irgendwo in der nicht besonders einladenden Innenstadt von Ulan Bator machten wir uns mit drei robusten Allradfahrzeugen auf den Weg ins offene Gelände. Die Glasfassaden der neuen, von internationalen Konzernen hochgezogenen Hochhäuser, die grauen Plattenbauten aus sozialistischen Zeiten und schließlich die Bretterhütten und Jurten der ärmeren Stadtbewohner hinter uns lassend, fuhren wir über zerfurchte, staubige Pisten durch eine fast menschenleere, grenzenlose, von vielen verschiedenen Beifuß- und Gänsefußarten bewachsene Steppenlandschaft. Diese hügelige Steppe, überdeckt von einem unendlich weiten, tiefblauen Himmel, die Täler, in denen gelegentlich Schwarzpappeln wuchsen, und die sanften Berge, die an der feuchteren Nordseite mit Kiefern, Lärchen, Espen und Birken bewachsen waren, erinnerten stark an Wyoming und Montana. Auch im amerikanischen Westen erstreckt sich ein tiefblauer Himmel, der Big Sky, von Horizont zu Horizont. Nur hier, in der mongolischen Steppe, gab es keine Ranches, keine Getreidesilos, keine Zäune, keine asphaltierten Straßen. Auf den schier grenzenlosen, weiten Grasflächen weideten freilaufende Herden von Schafen, Ziegen, Yaks, Rindern und vor allem Pferde. Junge Reiter, die eins mit ihren wendigen Pferden zu sein schienen, hüteten zusammen mit großen Hunden die Tiere. Hier und da, völlig eingepasst in die Landschaft, sah man die Jurten (mongolisch Ger) der Nomaden.

Auch die Ziesel, die mit den Präriehunden verwandten Erdhörnchen, gaben den Eindruck, als wäre man in einem Spiegelbild der nordamerikanischen Prärie gelandet. Genau wie ihre Verwandten standen diese Nager, Männchen machend, auf ihren Bauten und hielten Ausschau nach Raubvögeln und Füchsen.

Ich malte mir aus, was für fantastische Western man hier drehen könnte. Nicht nur wegen der Ähnlichkeit der Waldsteppe mit der Landschaft im nördlichen Montana, sondern auch wegen der Ähnlichkeit des hiesigen Menschentypus: Die glatten schwarzen Haare, die hohen Wangenknochen, der gelbbräunliche Teint der Haut und auch die Lidfalte der Augen glich oft denen der amerikanischen Ureinwohner. Und dann, wie sie reiten konnten! Dieses Steppenvolk war genauso zu Hause auf dem Rücken eines Pferdes wie die Prärieindianer.



Pferde sind allgegenwärtig in der Nordmongolei. Hier ein Hirte mit seinen freilaufenden Pferden. Unten ein Ziesel, ein mit den Präriehunden verwandtes Erdhörnchen.

Erst als ich wieder zu Hause war, erfuhr ich, dass tatsächlich sogenannte Indianerfilme in der Mongolei gedreht wurden, und zwar als Koproduktionen der DDR und der Mongolischen Volksrepublik. Es sind Filme, in denen die Indianer die Guten sind und die US-Kavallerie die Bösen. Heldenhaft wehren die Ureinwohner sich gegen Kolonialismus und Unterjochung. Der DEFA-Film Der Scout (1983) zum Beispiel erzählt vom Zurückholen einer vierhundertköpfigen Pferdeherde, welche die US-Kavallerie den Nez-Percé-Indianern gestohlen hatte. Der mutige Häuptling Weiße Feder, gespielt von Gojko Mitić – die »Chef-Rothaut der DEFA« –, befreit die Pferde. Gojko, der auch Winnetou-Darsteller bei den Karl-May-Festspielen und Idol der DDR-Jugend war, brauchte viel Schminke und eine schwarze Perücke, um als Indianer glaubhaft zu sein. Die mongolische Schauspielerin Nasagdordschiin Battseseg, die in dem Film als Indianer-Squaw auftrat, dagegen nicht, und auch nicht die mongolischen Reiter, die mit ihren langen schwarzen Haaren aussehen wie echte Indianer.

Kaum jemand liebt Pferde so sehr wie die Mongolen. Auf dem Rücken der kleinen, zähen, wendigen Rosse eroberten die mongolischen Reiter unter der Führung Dschingis Khans im 13. Jahrhundert ein Riesenreich, das sich von China über Afghanistan und Persien bis nach Russland und Osteuropa erstreckte. Ein Bericht erzählt, dass die Krieger Dschingis Khans auf ihren Feldzügen neben ihrem Reitpferd jeweils noch drei oder vier Pferde zum Wechseln oder auch als lebenden Proviant mitnahmen. Die mongolischen Krieger vermochten es, im Sattel zu schlafen. Bis zu hundertzwanzig Kilometer konnten sie am Tag auf dem Pferderücken zurücklegen.

Dschingis Khan ließ es nicht ungestraft, dass der Herrscher des großen Choresmien-Reichs6 Ala ad-Din Mohammed II. – der »Schatten Allahs«, der »zweite Alexander« – mongolische Gesandte und Botschafter heimtückisch ermorden ließ. Nichts hasste der Khan mehr als Wortbruch. Der Mensch galt ihm so gut wie sein Wort, und diesen Frevel würde er rächen. Im Herbst 1218 zogen seine Reiter durch staubtrockene Wüsten und, mitten im eiskalten Winter, über praktisch unübersteigbare Gebirge. Mannshoher Schnee und eine Kälte, in der die Adern der Pferde zu platzen und die Hufe abzufrieren drohten, hielten sie nicht auf. Sie kämpften sich zwischen den hohen Bergen durch ungeheure Schneestürme und über vereiste Pässe hindurch. Alle überflüssigen Lasten warfen sie ab. Die Beine ihrer Pferde umwickelten sie mit Yakhäuten, sich selbst mummten die Krieger in Doppelpelze ein. Um sich zu erwärmen, öffneten sie den Pferden die Adern, tranken das heiße Blut und schlossen sie wieder.

Erschöpft und ausgehungert, aber für seine Feinde völlig unerwartet, stieß das Reiterheer in die blühenden Täler des Großreichs hinab. Mohammed II., der über ein zahlenmäßig weit überlegenes Heer verfügte, schickte Spione, um erst einmal den Feind auszukundschaften. Der Bericht gab nichts Erfreuliches her: »Die barbarischen Reiter sind tapfer wie Löwen, keine Mühseligkeit und keine Beschwerden des Krieges können ihnen etwas antun. Sie kennen weder Ruhe noch Rast, wissen nichts von Flucht oder Rückzug. Wenn sie aufbrechen, führen sie alles, was sie brauchen, mit sich. Sie sind mit getrocknetem Fleisch und gesäuerter Milch zufrieden, sie halten sich nicht an das (für Muslime) Erlaubte (halāl) oder Verbotene (harām), sondern essen das Fleisch aller Tiere, selbst das der Hunde und Schweine. Sie öffnen ihren Pferden die Ader und trinken das Blut. Ihre Pferde brauchen weder Stroh noch Weizen; sie scharren mit ihren Hufen den Schnee auseinander und fressen das Gras darunter oder kratzen die Erde auf und sind zufrieden mit Wurzeln und Kräutern (…) Kein Gebirge und kein Fluss kann sie aufhalten. Sie übersteigen jede Schlucht und schwimmen neben ihren Pferden über die Flüsse, indem sie sich an ihren Mähnen und Schwänzen festhalten« (Tomascy 1997:160). Ohne ihre kleinen robusten, strapazierfähigen Pferde hätten die mongolischen Steppenreiter ihr Riesenreich nicht erobern können.

Noch heute kommen – statistisch gesehen – auf jeden einzelnen Mongolen drei Pferde. Die Mongolen reiten von Kindesbeinen an. Schon Dreijährige werden auf den Pferderücken gesetzt; und Fünfjährige können schon wie der Teufel reiten – bis zu zwanzig Kilometer im Vollgalopp.

Für die Gäste werden Airag, vergorene Stutenmilch, und getrocknete Quarkplätzchen bereitgestellt.

Vor allem aber werden die Pferde wegen der Stutenmilch gehalten. Die leicht säuerliche, erfrischende, leicht vergorene Stutenmilch (Airag; Kumys bei den Turkvölkern) hat einen hohen Nährwert, ist voller lebensnotwendiger Vitalstoffe (Vitamin A, B, C), Aminosäuren, Fette und leichtverdaulichem Zucker. Sie ersetzt den Steppenvölkern Obst und Gemüse, das sich in dem extremen Klima schlecht anbauen lässt. Airag gilt praktisch als Allheilmittel. Die Steppenkrieger trugen die Milch einst in am Sattel befestigten Lederbeuteln mit sich, dabei wurde sie genügend durchgeschüttelt, was den Gärprozess förderte. Ansonsten walken die Frauen mit Stößeln die Stutenmilch.

Die vergorene Stutenmilch – der Alkoholgehalt liegt zwischen ein und drei Prozent – ist auch aus einem anderen Grund wichtig. Sie wird zu einem Milchschnaps gebrannt, dem Archi. Und dieser klare Schnaps – er kann auch aus Yakmilch gebrannt werden – wird verwendet, um die Geister und Götter gut zu stimmen. Die Pferde sind also nicht nur wirtschaftlich von Bedeutung, sie sind auch heilig, sie verbinden mit den Göttern. Oft wurde bei der Bestattung eines mongolischen Schamanen ein Ross mit geopfert, damit er auf diesem in den Himmel reiten konnte. Manchmal sieht man die Köpfe und Schädel geopferter Pferde bei den Owoos, den mongolischen Kultstätten auf kraftvollen Plätzen. Solches Brauchtum war auch den heidnischen Europäern nicht ganz fremd. Auch die Kelten, Slawen, Römer und andere indoeuropäische Völker, wie die Iraner und Indoarier, kannten das Rossopfer für die Götter, dessen Fleisch dann rituell verspeist wurde – ein Brauch, der die christlichen Missionare sehr störte, was im Jahr 732 zum päpstlichen Verbot von Pferdefleisch führte. Die Germanen hingen die Köpfe geopferter Rosse über das »Windauge«, die Rauchöffnung am Giebel, durch das die Geistwesen ein- und ausgingen, um Unheil abzuwehren. Das Raiffeisen-Logo mit den gekreuzten Pferdeköpfen erinnert daran. Mit den Schädeln der geopferten Pferde konnten die Schamanen und Schamaninnen sprechen. Das Motiv erscheint zum Beispiel in dem alten Volksmärchen von der Gänsemagd, wo die zur Magd erniedrigte Königstochter mit dem über einen finsteren Torbogen aufgehängten Kopf ihres Pferdes Fallada spricht und es ihr antwortet (STORL 2014b:221ff).



Oben: Beim Stutenmelken. Unten: Siegermedaillen in der Jurte des Hengstzüchters.

Einige Tage später, irgendwo in der Grassteppe in der Nähe eines alten buddhistischen Klosters, waren wir zu Gast bei einer Nomadenfamilie, die uns stolz ihre Herde von mehreren hundert Pferden zeigte, die hauptsächlich wegen ihrer Milch gehalten wurden. Alle zwei Stunden mussten die Frauen die Stuten melken. Man konnte sehen, dass das gar nicht so leicht ist; Kühe melken ist einfacher. Die große Pferdeherde lief frei herum. Allein die kleinen bockigen Fohlen waren an einem langen Seil festgebunden. Um die Stuten zu melken, wurden die Kleinen dann ihren jeweiligen Müttern vor der Nase gehalten. Wenn die Stute ihr Junges roch, schoss die Milch ins Euter. Die Frauen melkten, indem sie mit dem linken Bein auf dem Boden knieten; auf dem Schenkel des rechten Beins ruhte der mit einer Schnur am Arm befestigte Eimer; einen Arm legte die Melkerin um das Bein des Pferdes, während sie die kurzen Zitzen strich. Heutzutage sitzen einige der Melkerinnen auf Melkschemeln. Selbstverständlich bleibt auch Milch – etwa die Hälfte – für die Fohlen zurück.

Nachdem wir beim Melken zugeschaut hatten, lud uns der Herr des Lagers in die gemütliche Familienjurte ein und bewirtete uns als Erstes mit Airag und steinhart getrockneten Quarkplätzchen. Offensichtlich war die Familie wohlhabend, denn neben dem Altar stand sogar ein Fernsehapparat. Der konnte von einem Stromaggregat betrieben werden. An der Wand dahinter hingen zahlreiche Medaillen und Orden. Sie seien für seine schnellen Hengste, erklärte der Familienvater stolz. Er rief seinen zehnjährigen Sohn herbei und erklärte, dieser habe beim diesjährigen Nadaam-Fest beim Pferderennen den ersten Preis geholt. Das Nadaam-Fest im Juli, das »Fest der drei männlichen Spiele«, ist das größte und wichtigste Fest in der Mongolei. Es hat seinen Ursprung in den Klan- und Stammestreffen, wie sie schon zu Zeiten des Dschingis Khan stattfanden. Die große Veranstaltung beginnt mit Paraden und Umzügen, wobei Tracht getragen wird und die Soldaten wie die Krieger des Dschingis Khan gekleidet sind. Die drei männlichen Spiele sind Ringkampf, Bogenschießen und Pferderennen. Außer bei den Ringkämpfen nehmen auch Frauen und Mädchen an den Wettkämpfen teil. Frauen sind in der mongolischen Gesellschaft sowieso sehr selbstbewusst und frei.

Ein Höhepunkt des Nadaams sind die Pferderennen, eingeteilt in Altersklassen der Pferde. Die längste Strecke ist 35 Kilometer lang. Die Jockeys sind Kinder, auch Mädchen, die oft sogar ohne Sattel reiten. Bei diesen wilden Rennen geht es vor allem um den Ruf der Pferde und des Züchters, weniger um den der Reiter. Die gewinnenden Hengste sind ein Vermögen wert und werden zu Höchstpreisen gehandelt. Weil seine Zucht so erfolgreich war und er eine große Herde besaß, galt unser Gastgeber als reicher Mann.

Cècile, ein Mitglied unserer erlauchten »lausigen Gesellschaft« (in irgendeinem missmutigen Moment hatte ich unsere Reisegruppe eine »lausige Gesellschaft« geschimpft – eine Bezeichnung, die für den Rest der Exkursion zum geflügelten Wort wurde), blühte in der Gegenwart der Pferde richtig auf. In ihrer Liebe zu diesen Tieren stand sie den Mongolen in nichts nach. Man lieh ihr eines der stolzen kleinen Rösser und dann sah man sie wie der Wind über die Steppe reiten. Dschingis Khan hätte seine Freude daran gehabt.

Beifuß

Zur Gattung Beifuß (Artemisia) gehören weltweit rund 300 bis 500 Arten. Die Heimat dieser Korbblütler sind vor allem die Steppen und Halbwüsten. Allein in der Mongolei gibt es 65 Arten des Beifußes. Schon in der eiszeitlichen Mammutsteppe am Rande der Gletscher gehörten die Artemisien zur dominanten Flora. Ihr würzig herber Duft begleitete die paläolithischen Großwildjäger tagtäglich. Das Aroma dieser Pflanze war das Erste, was das Kindlein nach der Geburt – mit dem ersten Atemzug sozusagen – einatmete. Bei den Prärieindianern und bei den nomadischen Mongolen ist das noch heute so. Für diese Völker ist es der Duft der Heimat.

Beifußpflanzen, insbesondere die verschiedenen Unterarten des Gewöhnlichen Beifußes (A. vulgaris), gelten, wo immer man sie findet, als Ritualpflanzen und Zauberkräuter. Der Rauch des getrockneten Krauts reinigt spürbar die geistig-seelische Atmosphäre. Seit eh und je spielte das Räuchern mit Beifuß in schamanischen Ritualen bei der Anrufung der Geister eine wichtige Rolle. Der Duft öffnet – wie die Hindus sagen – das Kronenchakra (Sahasrara), er wärmt und putzt die feinstofflichen Kanäle.

Die Böden der Ritualplätze, auch der Schwitzhütten, werden bei den Indianern mit Beifußkraut bestreut. Zwar kennt die mongolische Kultur die Schwitzhütte nicht mehr, aber sie war in Zentralasien in vorhistorischen Zeiten bekannt, etwa bei den Turkvölkern im Altai; auch die finnougrischen Völker kannten die Dampfsauna (Savusauna), wie auch die skythischen Reitervölker der westasiatischen Steppe (McKee 2007). Die Schwitzhütte galt bei vielen Völkern als Schoß der Erdgöttin, die die auf Wiederverkörperung harrenden Tier- und Menschenseelen sowie die Pflanzensamen hütet. Der Gang in die Schwitzhütte ist eine regressio ad uterus, eine Rückkehr in den Schoß der Mutter Erde. Hier in der Dunkelheit, nackt wie bei der Geburt, schwitzen sich Kranke gesund; hier offenbaren sich die Götter und Ahnengeister in der Vision. Wie einst in der Eiszeit in der schützenden Geborgenheit der Schwitzhütte werden noch heute in der ländlichen russischen Banja oder im baltischen Dampfbad (Pirts) die Kinder geboren.

Die Artemisia-Gewächse – die Griechen weihten sie der Göttin der Wildnis, Artemis, der Herrin der wilden Tiere, der Beschützerin der Gebärenden – sind archetypische Frauenkräuter. Sie galten noch lange als Pflanzen der Geburt, als Frauen- und Hebammenkräuter. Sie wurden verwendet zur Anregung der Fruchtbarkeit oder, im entgegengesetzten Sinn, zur Auslösung der verspäteten Periode (STORl 2016:84).

Medizinisch lassen die Artemisia-Kräuter fließen, was fließen soll: Sie öffnen die körpereigenen Entgiftungswege, treiben Harn, Schweiß und Galle, fördern die Verdauung und die Menstruation (Madejsky 2008:59). Alle, insbesondere der Wermut, haben eine wurmtötende Wirkung. Das Wissen um die heilkundlichen und magischen Anwendungen dieser Gattung nahmen die Paläosibirier, aus denen die Indianer hervorgingen, mit in die Neue Welt.

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9783039020133
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