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DARK PLACES
William Gay
Stoneburner
Aus dem Amerikanischen von Sven Koch
Herausgegeben von Jürgen Ruckh
Originaltitel: Stoneburner by William Gay
Copyright: © 2017 Estate of William Gay
First published by Anomolaic Press
Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2020
Aus dem Amerikanischen von Sven Koch
Mit einem Nachwort von Jürgen Ruckh
© 2020 Polar Verlag e.K., Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Abbildung Seite 391 mit freundlicher Genehmigung der »Estate of William Gray«.
Redaktion: Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck
Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann
Coverfoto: © martin / Adobe Stock
Autorenfoto: © Michael White / William Gay
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland
ISBN 978-3-948392-12-3
eISBN 978-3-948392-13-0
Inhalt
Prolog
Teil 1: Thibodeaux
Teil 2: Stoneburner
Danksagung
Es war ein erstaunliches Archiv
»He never found her, though he looked
Everywhere,
And he asked at her mother’s house
Was she there.
Sudden and swift and light as that
The ties gave,
And he learned of finalities
Besides the grave.«
Robert Frost, The Hill Wife
»Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
Nietzsche
Prolog
Stoneburner schob das Magazin in seine .45er-Armeepistole und steckte die Waffe in den Hosenbund. Er knöpfte die Jacke darüber zu, trat aus dem Haus und ging zu seinem Pick-up. Stoneburner war großgewachsen und langgliedrig, und das ließ ihn schmal wirken, dennoch waren Brust und Schultern breit und kräftig. Seine dunkelbraunen, gewellten Haare, die an den Schläfen grau wurden, waren so lang, dass sie im Nacken den Kragen berührten und sich ringelten. Er trug eine Levi’s, ein weißes Hemd und eine alte schwarze Sportjacke.
In einem 7-Eleven kaufte er einen Sixpack Coors, dann fuhr er eine Weile ziellos dahin. Die Nacht brach herein, und als es zu regnen begann, wurden die Straßen schwarz und glatt und schimmerten. Die Scheinwerfer der Autos spiegelten sich auf dem glänzenden Asphalt, als würde sich auch unter der Fahrbahn etwas bewegen. Auf den Gehwegen wimmelte es von Menschen. Jeder schien irgendwelchen Vergnügungen nachzugehen. Es war ein anderer Menschenschlag, vielleicht sogar eine andere Rasse als die Leute, denen er tagsüber begegnete. Im peitschenden Regen tauchte die Leuchtreklame sie in ein hartes, gleißendes Licht, kontrastreich und grellbunt, und verlieh den schwarzen Männern in Straßenkleidung die Färbung zwielichtiger Zielstrebigkeit.
Er fuhr weiter westwärts, wo die beleuchteten Geschäfte spärlicher wurden und schließlich verschwanden, bis nur noch Straßenlampen den Fahrweg erhellten. Von der Charlotte Avenue bog er nach Süden in die Beverly ein und kam in ein Mittelschichtviertel mit Backsteinhäusern und Doppelgaragen. Die Häuser schienen alle gleich zu sein, ihr Grundriss mit drei Schlafzimmern und einem Wohnzimmer ließ sich von der Straße aus erahnen. Vor einem weiß gestrichenen Haus, das sich nicht erkennbar von den anderen unterschied, hielt er an und fuhr, durch die regennasse Heckscheibe nach hinten blickend, rückwärts in die Einfahrt eines leer stehenden Hauses auf der anderen Straßenseite. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus und stellte den Motor ab. Mit der plötzlichen Stille kehrte auch in ihm so etwas wie Ruhe ein, und er saß einfach da und lauschte dem Trommeln des Regens auf dem Autodach.
Er hatte wohl nicht richtig aufgepasst, dachte er. Aber mit dem Viertel war etwas geschehen. Es wirkte, als wäre es in den Fängen einer vagen Wirtschaftskrise. Die Gärten waren ungepflegt, in vielen standen FOR-SALE-Schilder oder Ankündigungen einer Zwangsversteigerung. Von mutwilligen Jungen eingeworfene Panoramafenster waren mit Sperrholz vernagelt. Alles hier wirkte traurig und verloren, so einladend wie ein surrealer Elefantenfriedhof, in den der amerikanische Traum gekommen war, um zu verenden.
In dem Haus, das Stoneburner beobachtete, brannte Licht. Es war bewohnt. Einmal sah er hinter den Vorhängen die Silhouette einer Frau. Der Stoff wurde zur Seite geschoben, ein Gesicht erschien, verschwand jedoch nach einem kurzen Blick auf die Straße wieder. Er saß schweigend und Bier trinkend da und starrte hinaus. Ein Auto kam angefahren, um die Scheinwerfer eine Korona aus Regen. Stoneburner schaltete seine Scheibenwischer ein. Das Auto hielt vor dem weiß gestrichenen Haus, gleich darauf stieg ein Mann aus. Aus Gewohnheit sah Stoneburner auf die Uhr. Neun Uhr fünfunddreißig. Eilig ging der Mann zum Haus. Er hatte einen schwarzen Regenmantel an, der im Licht der Straßenlampen glänzte. Seine Haare wirkten weiß. Stoneburner konnte nicht sagen, ob sie blond oder grau waren, aber der Gang des Manns hatte etwas Jugendliches, deswegen tippte er auf blond. Die Tür ging auf, als hätte der Mann eine versteckte Lichtschranke ausgelöst; im Türrahmen stand die Frau, ein hinterleuchteter Schatten mit einem Strahlenkranz aus blonden Haaren. Sie gingen hinein, die Tür wurde geschlossen. Stoneburner schaltete die Scheibenwischer wieder aus, und das Bild vor ihm verschwamm, wurde unscharf wie ein Gemälde unter Wasser.
Vielleicht ein Versicherungsagent. Ein Staubsaugervertreter, der seine unübertrefflichen Geräte vorführte. Ein Immobilienmakler. Der Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts, der Gräber in malerischem Hügelland und dauerhafte Grabpflege anpries. Mit Betonung auf dauerhaft. Solche Geschichten hatte Stoneburner in den vergangenen zehn Jahren zur Genüge gehört. Vertreter, Gasableser, Brüder aus Philadelphia, Cousins aus Arizona. Unzählige Male hatte er gesehen, wie getuschte Wimpern aus großen Augen schmale Schlitze machten, sich Blicke in der Ferne verloren oder furchtsam wurden, wie sich Angst erst in Panik, dann in Trotz und Ablehnung verwandelte. Also gut, Sie haben mich erwischt. Und jetzt? Verraten Sie’s meinem Mann?
Es hatte Frauen gegeben, die Stoneburner wissen ließen, dass ihnen sein Schweigen etwas wert war und die Bezahlung nicht unbedingt in Form von Geld erfolgen müsste. Doch das hatte Stoneburner immer abgelehnt. Wenn ihm jemand Zeit abgekauft hatte, blieb sie gekauft. Nicht dass diese Zeit besonders wertvoll war, aber sich selbst wollte er deswegen nicht verkaufen.
Er hatte sich schon zu viele in billigen Motelzimmern aufgenommene Mitschnitte angehört, zu viele mit einem Teleobjektiv aufgenommene Fotos entwickelt, in zu viele angewiderte Gesichter geblickt, wenn er die Fotos wieder an sich genommen oder den Kassettenrekorder abgeschaltet hatte.
Meine Frau würde nie so etwas sagen, nicht zu so einem Mann, hatte ihm ein Kunde beharrlich versichert. Daraufhin hatte Stoneburner mit den Schultern gezuckt und zitiert: Es ist das Herz ein trotzig und verzagtes Ding. Wer kann es ergründen?
Diesmal lagen die Dinge anders. Ihm war übel, ein dumpfer Schmerz wühlte in ihm. Es schien, als hätte das Schicksal den Spieß umgedreht und wollte es ihm heimzahlen. Sein eigenes Leben hatte ihn schachmatt gesetzt, denn das Haus, das er beobachtete, war seines, die Frau seine Ehefrau.
Er wusste nicht, warum er gekommen war, aber er war seit jeher der festen Überzeugung gewesen, dass Zeit, die man mit Lernen und Verstehen zubrachte, nicht vergeudet war. Leben heißt Streben nach Erkenntnis, hatte er gesagt. Auch das, was er jetzt sah, führte zu einer Erkenntnis, selbst wenn sie mehr als unerfreulich war. Aber vielleicht konnte er dennoch einen Nutzen daraus ziehen.
Es war zwei Uhr nachts, als der Mann das Haus wieder verließ. Stoneburner hatte längst kein Bier und keine Zigaretten mehr. Noch immer regnete es. Stoneburner ließ dem Chrysler ein Stück Vorsprung und folgte ihm mit seinem Pick-up in gemächlichem Tempo. In der Charlotte Avenue reihte sich der Chrysler in den spärlichen Verkehr aus Memphis ein, und Stoneburner schloss zu ihm auf. Mit anderen Autos um sich herum war er nicht mehr so leicht zu bemerken. Er nahm die .45er aus dem Hosenbund und legte sie auf den Beifahrersitz. Er fuhr dicht, bis knapp an die Stoßstange, auf den Chrysler auf und merkte sich das Kennzeichen. Plötzlich und ohne zu blinken, bog der andere von der Charlotte Avenue ab und fuhr an einer von blau-weißer Leuchtreklame erhellten Shoppingmall vorbei hinaus aus der Stadt. Er bog ein weiteres Mal ab und beschleunigte, und dabei beobachtete der Fahrer im Rückspiegel Stoneburners Pick-up. Kurz sah Stoneburner ein bleiches sorgenvolles Gesicht, erhellt vom Licht seiner eigenen Scheinwerfer.
Teil 1
Thibodeaux spürte die tonnenschwer drückende Augustsonne durch das Dach des Pick-ups, sah ihr grelles, trügerisches Flirren über der staubgepuderten Straße und betrachtete den flüchtigen Tanz der Hitzegespenster vor ihm, die ihm wie das wunderliche Abfallprodukt des blassblauen Falcon erschienen, dem er folgte. Mit der ersten Augustwoche war eine große trockene Hitze gekommen, und dieser geballte, bösartige, rachsüchtige Höhepunkt des Sommers machte den Wohnwagen, den er gemietet hatte, zum Backofen und trieb ihn tagsüber hinaus. Draußen fuhr er ziellos umher, aber das Unterwegssein milderte die Gluthitze nicht, sondern schien sie nur weiter anzufachen, so als stocherte er darin herum. Dennoch fuhr er von einer Art Verzweiflung getrieben und mit am Rücken klebenden Hemd umher und hoffte, dass etwas geschah – dass die Nacht kam, dass Regen fiel, dass es Winter wurde.
Der Falcon war schon eine Weile vor ihm, aber er fuhr so unberechenbar, dass Thibodeaux sich scheute, ihn zu überholen; der Wagen bremste vor weiten Kurven, schnitt die engen und zog über den Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn. Dann, kurz vor dem kleinen Lebensmittelladen an der Kreuzung von Highway 13 und Highway 20, wollte er scharf rechts abbiegen, verschätzte sich aber, kam von der Straße ab und fuhr eine steile Böschung hinunter. Thibodeaux, der dicht aufgefahren war, sah hilflos zu, wie er über vom Regen ausgewaschene rote Rillen holperte, aus denen träge, lustlose Staubwölkchen aufstiegen und wieder herabsanken. Unaufhaltsam pflügte der Falcon durch ein Gestrüpp aus Brombeerranken und Sumach-Büschen und rauschte in einen Hain junger Erlen, deren dünne knochenbleiche Stämme mit empörtem, schussgleichem Knallen brachen.
Thibodeaux hielt an, stieg aus und ging auf die andere Straßenseite. Der Falcon lag auf die Seite gekippt und halb verschluckt vom Unterholz in einem Gewirr aus alten Reifen, rostigen Bettfedern und wucherndem Geißblatt. Thibodeaux ging zwischen den Bierdosen am Straßenrand in die Hocke und schob seine dicke runde Brille nach oben. Nach einer Weile erschien ein Kopf im linken Seitenfenster. Die blonden Haare glänzten in der Sonne. Umständlich kletterte eine junge Frau heraus, sprang vom Türblech auf den Boden und trat nach der Landung wütend nach den Brombeerranken und Ästen, die sie am Fortkommen hinderten. Ohne einen Blick zurück auf den Wagen ließ sie das Dickicht hinter sich und kletterte die lehmige rote Böschung hoch. Sie war sonnengebräunt und trug ein weißes Neckholder-Top und knappe Shorts. In einer Hand hatte sie eine Handtasche, in der anderen ein Paar Sandalen.
Als sie oben an der Straße ankam, atmete sie so schwer, dass sich die bloßen Brüste unter dem Top hoben und senkten. Sie hielt einen Moment inne, um in den Graben hinabzublicken, dann bückte sie sich und begutachtete ihre von den Brombeerranken zerkratzten Waden und Fesseln. Vornübergebeugt schlüpfte sie in ihre Schuhe. Thibodeaux sah ihr zu.
Die hättest du vorher anziehen sollen.
Die Sandalen haben mich fünfzehn Dollar gekostet, die Beine keinen Cent.
Die sind aber wesentlich mehr wert als die Sandalen.
Sie musterte ihn mit einem abschätzenden Blick. Ihm kam es vor, als prüfte und bewertete sie ihn wie eine Rechenmaschine in Sekundenschnelle nach ihren speziellen Kriterien, und weil er leider nicht die von ihr gewünschten Werte erreichte, wurde er aus dem Bereich des für sie Relevanten entfernt, genauso wie sie es mit dem Auto getan zu haben schien, das ihr bis vor Kurzem zu Diensten gewesen war, jetzt aber nur ein weiteres kaputtes und nutzloses Requisit für eine Rolle war, die sie nicht mehr spielte.
Auch Thibodeaux schätzte sie ab. Ihre Augen waren tiefblau, beinahe violett, auffallend groß und seltsam ausdruckslos, so unbegreiflich und ohne Tiefe wie die aufgemalten Augen einer Porzellanpuppe. Das dunkle Gesicht, das die Augen umschloss, war süß und auf unschuldige Weise erotisch, zugleich irgendwie trotzig, aber nicht mehr. Die Oberlippe war kurz und ein wenig nach oben gezogen, was dem Gesicht einen leicht gereizten Ausdruck verlieh. Sie schien über etwas wütend zu sein, das noch gar nicht geschehen war, sich vor einem Schlag zu ducken, der noch nicht gekommen war. Er spürte die drückende Hitze der Sonne, die hinter ihr stand, und wurde sich bewusst, dass sie von oben auf ihn herabblickte. Sie hatte eine starke erotische Ausstrahlung, die alles andere zu überwiegen schien, während sie, von einer feinen Schweißschicht überzogen, ihn mit kühler, selbstbewusster Trägheit ansah, aber vor allem mit sich selbst beschäftigt schien.
Zwei, drei Männer waren aus dem Lebensmittelladen getreten und kamen langsam und feierlich näher. Gemächlich, wie von der Hitze benommen, schlenderten sie mit Colaflaschen in der Hand herbei, um sich den Unfall anzusehen.
He Cathy, rief einer. Der schwarze Teil von der Straße ist das, worauf man fährt. Das links und rechts davon sind die Straßengräben. Du musst immer dazwischen bleiben.
Sie warf den Männern einen wütenden und verächtlichen Blick zu, und kurz schien es, als wollte sie antworten, aber dann ging sie auf dem Asphalt von ihnen weg. Dabei schlenkerte sie mit der Handtasche in ihrer Hand.
Soll ich Cap anrufen?, rief ihr einer der Männer hinterher.
Nein, danke, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Soll ich dich heimfahren?
Es gibt nichts auf der Welt, das du hast und ich will.
Thibodeaux erhob sich. Soll ich dich zu einem Telefon fahren, damit du einen Abschleppwagen rufen kannst?
Das ist sein Auto. Soll er’s doch rausholen.
Thibodeaux drehte sich um, weil er im ersten Moment dachte, dass sie von einem der Männer im Overall gesprochen hatte, die sie ansahen. Dann besann er sich und folgte ihr ein paar Schritte, ehe er sagte: Ziemlich heiß für nen Spaziergang. Du scheinst irgendwohin zu wollen, und egal wo das ist, mit dem Auto geht’s schneller.
Sie drehte sich um. Und was hast du davon?
Gar nichts, sagte Thibodeaux. Aber bitte, wenn du lieber zu Fuß gehst … Damit drehte er sich um und ging zu seinem Pick-up.
Sie saß entspannt und mit selbstbewusstem Schweigen neben ihm und betrachtete müßig die sonnenversengte Hügelkette, an der sie entlangfuhren. Ihre Gedanken schienen sich irgendwo in den verdorrenden Sumach-Büschen und den verstreuten, schon gelb werdenden und unbestellt wirkenden Maisfeldern verlaufen zu haben. Der Himmel, der hinter ihrem gestanzt klaren Profil über den Bäumen zu sehen war, hatte die Farbe einer bläulichen Flamme.
Wo wohnst du?
In der Nähe der Kimmins Road. Ich sag Bescheid, wenn wir da sind.
Was ist eigentlich passiert? Wie kam’s zu dem Unfall? Streit mit deinem Freund?
So könnte man sagen.
Weil sich Thibodeaux über ihre Unnahbarkeit ärgerte, konzentrierte er sich wieder auf die Straße vor ihnen. Na ja, sagte er. Das geht mich nichts an, und es ist mir auch egal.
Stimmt, sagte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ihr scharfgeschnittenes Kinn blieb dem vorbeigleitenden Landschaftsrelief zugewandt. Es geht weder dich was an noch sonst jemanden außer ihn und mich, aber am Ende muss er blechen, und zwar viel. Auf ein paar Beulen in einem Auto kommt’s da nicht an.
Thibodeaux gab keine Antwort. Bald danach forderte sie ihn auf, vor einem schachtelartigen, mit Teerpappe gedeckten Haus auf einem Sockel aus Betonblöcken zu halten. Ein Schlag Kinder verschiedener Größe sah sie neugierig und mit großen Augen an. Er bog in einen staubigen Hof, und noch ehe der Wagen stand, hatte sie die Tür geöffnet und stieg aus. Mit einem knappen Dank schlug sie die Tür zu und marschierte über die blanke Erde zum Haus. Ein junger Mann mit freiem Oberkörper, der aus dem Schlund eines Fords mit aufgestellter Motorhaube aufblickte, sagte etwas zu ihr, aber sie gab keine Antwort. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und hinterließ darauf eine schwarze Schmierspur. Nach einem Blick auf Thibodeaux nahm er einen Steckschlüssel und tauchte wieder ab, verschwand aus Thibodeaux’ Sichtfeld in den Motorraum, so als würde er sich einem riesigen schwarzen Untier aus Blech zum Fraß vorwerfen.
Aus der offenen Haustür trat ein Mann mittleren Alters und blieb stehen, wie um ihr den Weg zu versperren. Er war barfuß, sein Oberkörper ebenfalls nackt, sein Bauch fischartig blass. Mit hervorquellenden Froschaugen beugte er sich zu ihr und sagte mit tiefer rauer Stimme und in vorwurfsvollem Ton etwas, das Thibodeaux nicht verstand. Doch als sie sich an dem Mann vorbeischlängelte, hörte er ihre Stimme glockenklar: Der liegt in nem verdammten Graben. Dann trat sie in die staubige Dunkelheit des Hauses. Die Tür schloss sich hinter ihr.
Thibodeaux wendete den Pick-up im Hof. Ein paar Jagdhunde kamen unter dem Haus hervor, betrachteten ihn jedoch mit ähnlich geringem Interesse wie der Mann. Entweder waren sie zum Bellen zu faul und zu lethargisch oder von der Hitze zu erschöpft. Auf dem Weg zurück zur Kimmins Road sah er, wie sich im Südosten große Wolkenberge auftürmten, die hoffentlich etwas Regen bringen würden.
Bis zur Kreuzung waren es mehrere Kilometer. Er sah Lindsey Popes gelben Abschleppwagen am Straßenrand stehen, ein straff gespanntes Drahtseil führte davon in den Straßengraben. Es bewegte sich langsam, und schließlich kroch der blaue Falcon mit eingedrückter Front und Brombeerranken und Erlenzweigen als Feenschmuck die Böschung herauf.
Thibodeaux kannte den großen schweren Mann mit den lockigen Haaren, die sich bis über den Hemdkragen ringelten. Beide Hände in den Hosentaschen, sah Cap Holder mit verbissener Miene zu. Thibodeaux meinte die Situation jetzt etwas besser zu verstehen, und während das Drahtseil sich zitternd spannte und aufrollte, erinnerte ihn Holder an einen verärgerten Fischer und der verbeulte Falcon an einen ausgespuckten, verschmähten Köder.
Thibodeaux’ Wohnwagen stand ein paar Kilometer von Ackerman’s Field entfernt am Cades Creek, und noch bevor er dort ankam, hüllte sich die Welt in Dunkelheit, und die Luft wurde schwer und glasig. Er fuhr am Fluss entlang direkt auf den Sturm zu, der sich im Westen zusammenbraute. Es war merklich kühler geworden, die aufkommende Brise wirkte wie mit feinem Eis angereichert, und er fühlte sich erfrischt und beschwingt. Er öffnete alle Türen und Fenster, um den reinigenden Wind bei flatternden Vorhängen durch den Wohnwagen blasen zu lassen. Auf einem brachen Feld sah er die ersten Regentropfen niedergehen. Wie versprochen ließ die Hitze nach, über das Feld wischte Kühle heran, Regentropfen schimmerten im Gras wie Perlen, Halme und Stängel wackelten, in der Ferne grollte der Donner wie eine sentimentale Kindheitserinnerung. Er setzte sich ans Fenster und dachte träumerisch an die junge Frau von heute, ihr schönes Gesicht, das ihrer Art zu reden und sich zu bewegen Hohn sprach. Kurz sah er das dunkle blaue Leuchten ihrer Augen wieder vor sich. Er verspürte kein Begehren, kein Verlangen, es war nur ein nostalgisches Gefühl. Sie erinnerte ihn an die erste Begegnung mit seiner früheren Frau, die noch immer in ihrem alten Zuhause in Town Creek in Alabama lebte.
Dann dachte er kaum noch etwas. Es war Sonntag. Morgen war ein Arbeitstag, und er hoffte auf eine kühle Nacht, in der er schlafen konnte. Er saß immer noch da, als der Sturm über ihn hinweg nach Osten zog, das trancehafte Trommeln des Regens auf dem Blechdach nachließ, das Donnergrollen schwächer wurde und schließlich nur ein fernes, gleichwohl bedrohliches Grummeln war. Ohne dass es ihm aufgefallen wäre, hatte es während des Sturms zu dämmern begonnen. Die Welt verlor ihre Konturen, Wald und Felder verschwammen in rauchigem, nachtblauem Dunst. Schwer und drückend kehrte die Hitze zurück und kroch mit Feuchtigkeit aufgeladen vom Fluss herauf. Am Waldrand zogen Leuchtkäfer in der Luft erratische Lichtlinien und glommen grünlich wie langsam brennender Phosphor.
Diesen Sommer über arbeitete Thibodeaux als Gehilfe zweier Maurer aus Beech Creek, schwerblütigen und schweigsamen Zwillingsbrüdern, die so fromme Christen waren, dass ihnen die Gottgefälligkeit aus den Ohren herausquoll. Die Pelgram-Zwillinge schienen alles an Thibodeaux mit stiller Abscheu zu betrachten. Sie sprachen kaum. Untereinander schienen sie sich auf geradezu okkulte Weise zu verständigen. Wenn sie das Wort ergriffen, waren es meist frömmelnde Gleichnisse über das Wetter, Autounfälle und verschiedene andere Unglücke, die sie dem Willen Gottes zuschrieben und für verdient hielten, selbst wenn die zu bestrafende Missetat schon lange zurücklag und von allen außer dem Allmächtigen vergessen worden war. Wenn sie sich unterhielten, sprachen sie meist nur Verdammnis über die Sünder, zu denen offenbar alle außer ihnen gehörten.
Die Arbeit war hart und schwer, und die Bezahlung war eher mau, aber irgendwas musste man ja tun, dachte Thibodeaux. Und wenn er miterlebte, wie allmählich ein Schornstein oder eine Mauer entstand, sah er darin auch eine gewisse Schönheit. Wenn aus nichts als einem Haufen Steinen, Mörtel und dem Schweiß dreier Männer gerade, lotrecht und symmetrisch ein Schornstein emporwuchs.
Außerdem gefielen ihm die sparsamen Bewegungen der Maurer, der ruhige, fließende Schwung der Kelle, mit dem der Mörtel gleichmäßig auf einen Backstein ausgebracht wurde, das Abziehen des überschüssigen Mörtels, um ihn zurück auf das Mörtelbrett zu werfen und gleich wieder aufzunehmen. Beim Zusehen fühlte er sich an rituelle Handlungen erinnert. Alles wurde so oft wiederholt, dass die Tätigkeiten sich selbst transzendierten und etwas ins Gedächtnis riefen, das längst seine Bedeutung verloren hatte, aber allein durch den Bewegungsablauf fortgesetzt wurde. Sie kamen ihm wie Betende vor, die inbrünstig etwas beschworen, das bereits vor langer Zeit gestorben war oder jedes Interesse an ihnen und ihrem Tun verloren hatte.
Mit nacktem Oberkörper, der von der Sonne schon tiefbraun war, um den Kopf ein rotes Tuch gewickelt, damit ihm der Schweiß nicht ins Gesicht troff, stieg er mit Zehn-Liter-Eimern voller Mörtel das Gerüst hinauf, bis er sich in der Arbeit verlor. Er fluchte über die Plackerei, aber zugleich mochte er sie, weil sie ihn von allen Gedanken befreite und so müde machte, dass er schlafen konnte. Im Vergleich zur einfachen uhrwerkshaften Präzision des Mauerns erschien ihm sein eigenes Leben wie das genaue Gegenteil. Seine Hilfstätigkeit für die Pelgrams, das stete Anschleppen von Backstein und Mörtel für die Brüder, kam ihm wie der einzige klare, verständliche Teil seines Lebens vor, und deshalb sollte er es besser jemand Fähigerem überlassen, den Rest zu ordnen. Früher hatte er im Leben fälschlicherweise einen Prozess des Vermehrens gesehen, in dessen Fortschreiten man Menschen, Gefühle und Verantwortlichkeiten ebenso ansammelte wie materielle Dinge, aber bei der Arbeit in diesem Sommer, während das Gewicht der Eimer schwer an seinen Armen hing, dachte er spöttisch, dass sein Leben das genaue Gegenteil davon war. Jetzt schien ihm sein Leben eine einzige Auszehrung zu sein, der schleppende Verlust von allem, was er mit großer Mühe angesammelt hatte, ein In-den-Wind-Schießen, bis nichts mehr übrig war als bloßes Fleisch. Nach seiner Heimkehr aus Vietnam war er einer kurzen, aber heftigen Manie verfallen. Nach zwei Jahren im Dschungel war er mit nichts zurückgekehrt als einer billigen, mit Samtimitat ausgeschlagenen Schachtel für eine Medaille, die er nicht wollte, und einer Menge nach Plastik aussehenden Narbengewebes auf dem rechten Oberschenkel, das er ebenfalls nicht wollte. Das Leben hatte ihn abgehängt.
Die Wochenenden waren noch schlimmer. Von einer Art Verzweiflung getrieben, hing er an Samstagen oft an einer Straßenecke herum, wo er in seiner Großstadtkleidung fehl am Platz war, und schien geradezu gierig auf etwas zu warten, auf eine Einladung, ein Ereignis, auf irgendwas. Dabei war er sich seiner innerlichen Unfähigkeit bewusst, mit der vorbeiziehenden Welt in Verbindung zu treten, sich anzupassen, und dieser Eindruck hatte sich mit der Zeit verfestigt. Das Gemeinsame zwischen ihm und den Leuten aus Ackerman’s Field war in einem Spalt verschwunden, der immer schon da gewesen war, aber bislang eine gelegentliche Überbrückung gestattet hatte. Jetzt war die Welt abweisend und flüchtig geworden und schloss ihn aus.
Als die Pelgram-Brüder mit dem Bau einer Mauer an der Old Kimmins Road beauftragt wurden, sah er den blassblauen Falcon wieder, der zerknautscht, aber sonst fahrtüchtig zwei, drei Mal am Tag vorbeifuhr. Eines Montags, als er in der Nähe der Straße arbeitete, rollte er langsam vorüber, und sie hob eine Hand, aber er wusste nicht, ob sie sich an ihn erinnerte oder ob es nur ein beiläufiger Gruß für alle und niemand war.
Monk de Vries war ein Mann mit vielen Talenten, die objektiv betrachtet oder bei Tageslicht besehen wenig Wertschätzung erfahren würden. Er war ein dürrer, spitznasiger Mann mit Frettchengesicht, ausstaffiert mit fremder Leute Sachen, die er entweder geklaut oder jemandem abgekauft hatte, der sie seinerseits gestohlen hatte. Heute kam er herausgeputzt wie der Laufbursche des Leibhaftigen daher, und er hatte seinen alten Plymouth so mit Bierkisten vollgepackt, dass die Wagenschnauze nach oben ragte. Straßenkontrollen hatte er mithilfe von heimlich zugesteckten, gefalteten Geldscheinen passiert. Er war Hehler und Verhehler von kleinerem Diebesgut. Gelegenheitsdieb von Radkappen und Ersatzreifen. Im Umgang mit Wagenheber und Ratsche war er so geschickt, dass er einem das Getriebe ausbauen konnte, noch während man den Ersatzkanister in der Hand schlenkernd zur Tankstelle ging.
Sein halbes Gesicht war mit einem bräunlichen Bluterguss überzogen, und das linke Auge war blutunterlaufen. Damit sah er Thibodeaux an.
Kann ich nicht brauchen, sagte er.
Nicht brauchen? Das wär ja was ganz Neues. Jeder braucht Ersatzreifen. Den kannst du verkaufen, irgendwer braucht immer einen Ersatzreifen.
Den kann ich nicht brauchen. Das ist ein Sondermaß. Die Diesellaster, die mit so was fahren, haben einen anderen Felgendurchmesser. Auch das Stollenmuster ist anders. Das Ding passt nirgends.
Du willst nur, dass ich dir das verdammte Ding schenke, aber da hast du dich geschnitten. Bevor ich ihn dir umsonst geb, schau ich zu, wie er in irgendein Loch rollt. Teufel noch mal. Schau, wie viel Profil da drauf ist. Der Reifen allein ist zehn Dollar wert.
Nicht für mich. Aber weil er aufgezogen ist, geb ich dir zwei.
Thibodeaux’ Blick wanderte am Tankstellenhäuschen vorbei zu den angerosteten orangeroten Zapfsäulen. Dahinter lag ein schnurgerades Asphaltband, das scheinbar ins Nichts führte, an seinen Rändern vertrocknetes Gestrüpp und dahinter ein Meer aus Autowracks, in dem die Farben Detroits verblassten und zu einem rostigen Einheitsbraun verschwammen. Am Haus nebenan klapperte eine Fliegentür. Aus einem Radio kam ein trauriger Song über Whiskey und treulose Liebe. Eine schrille Frauenstimme, ein weinendes Kind. Ein Mann mit aufgekrempelten Hemdsärmeln trat auf die betonierte Veranda und schlug die Tür hinter sich zu. Wieder rief die Frau etwas. Der Mann blickte mit wutentbranntem Gesicht zurück, dann über das vertrocknete Gras im Hof zu Thibodeaux, als läge dort die Quelle all seines Übels. Gleich darauf ließ er den Blick in die Weite des heißen Tags schweifen, als wollte er sich in sie stürzen. Fernes Grau drohte späteren Regen an. Schließlich drehte sich der Mann um und ging wieder ins Haus. Nur das Radio war noch zu hören.
Ich geb ihn dir für fünf, lockte Thibodeaux.
Vier ist mein letztes Angebot.
Dann nimm ihn. Ich brauch das Geld.
Monk lächelte verschlagen. N Spatz in der Hand, sagte er.
Thibodeaux griff unter die Plane auf der Ladefläche und zog ein Gewehr hervor. Er reichte es Monk, der den Lauf abkippte, ihn in die Höhe richtete und durch die Bohrung zum Himmel sah. Ein Mann, der durch ein seltsames Teleskop eine ferne Gewalttat betrachtete. Da ist nicht mal eine Schachtel Munition durchgegangen, sagte Thibodeaux.
Monk starrte weiter durch die Bohrung. Tja, dann dürfte wohl erst am Sonntag eine kleine alte Lady damit geschossen haben.
Thibodeaux zuckte mit den Schultern. Monk senkte das Gewehr, betrachtete den Lauf und strich über den Schaft aus poliertem gemasertem Walnussholz. Das ist wirklich eine schöne Waffe, sagte er widerwillig. Ordentlich gepflegt. Aber ein Kaliber .410 ist nicht viel wert.
Ich hab auch das noch. Aus einem Staufach auf der Ladefläche zog Thibodeaux einen Unterhebelrepetierer mit Zielfernrohr und wickelte ihn aus dem Tuch, in das er eingeschlagen war. Monk legte das Gewehr auf die Kühlerhaube und nahm die Büchse. Kaliber .30-30?, fragte er.
.30-06.
Hm, mit dieser Bockbüchse kann man was anfangen.