Читать книгу: «Pforte des Todes», страница 6

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»Ganz komisch«, sagte sie, »der Karton war da, das Handy nicht. Ich bin ganz sicher, dass es oben im Nachtschränkchen lag, in dem Kasten auf meiner Seite.«

Sie wirkte aufrichtig bestürzt. Reineking war sich nicht sicher, ob er ihr die Geschichte abkaufen sollte. Ehejahrzehnte brachten oft mehr als Schauspielerausbildung. Kam auf die Ehe an.

»Tja, das ist bedauerlich«, sagte er. »Hat hier außer Ihnen und Ihrem Mann jemand anders Zutritt?«

»Manchmal sind meine Tochter und ihr Mann da, aber ... Nee, die rühren so was nicht an, die nicht.«

»Und Rose?«

Sie lachte auf. »Den kenne ich ja gar nicht so richtig, oder meinen Sie, ich lass jeden in unser Schlafzimmer?«

»Sie sind es, die eine Wegnahme ohne Ihre Erlaubnis unterstellen!«

»Ja, wie soll das sonst verschwunden sein?«

»Das ist die Frage«, sagte Reineking. »Ich hoffe sehr, dass Sie uns helfen, sie zu beantworten.«

»Wie denn, wenn ich selbst keine Ahnung habe?«

Reineking suchte ihren Blick. Sie hielt ihm stand.

»Na gut«, sagte er. »Ich schlage Ihnen vor, sich die Geschichte noch einmal zu überlegen. Auch mit der Gewissheit, dass wir die Wahrheit herausfinden werden.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte sie. Und es klang nach der lauteren Wahrheit.

12

Der Mann im Türrahmen war etwa dreißig Jahre alt, groß und schlank. Er trug einen vorzüglich geschnittenen Anzug, der, schätzte Grotejohann, sicherlich nicht von der Stange war, ein schneeweißes Hemd, eine bordeauxrote Krawatte, schwarze Schuhe und über der linken Schulter an einem Riemen eine schmale Dokumententasche. Sein fein geschnittenes Gesicht wurde beherrscht von großen, dunkelbraunen Augen, deren unbekümmerte Eindringlichkeit durch die blitzenden Gläser einer randlosen Brille verstärkt wurde

»Bartholomee ist mein Name«, sagte er mit sanfter, redegewohnter Stimme. »Ich hätte gerne Frau Hermesmeyer gesprochen.«

Deutschlandfunkstimme, und dort das Feuilleton, dachte Grotejohann. Er ließ das Nachrichtenmagazin auf den Schoß sinken, in dem er über die bevorstehende Landtagswahl gelesen hatte, die bequem ruhenden Beine trotz eines gegenteiligen Impulses auf dem Schreibtisch. Eher Lexikon als Staubsauger, schätzte er.

»Da haben Sie aber Pech«, sagte er nicht ohne Genugtuung. »Ich glaub nicht, dass sie Ihnen was abkauft.«

Bartholomee lachte jungenhaft.

»Ich will weder Ihnen noch Ihrer Sekretärin etwas verkaufen.«

Grotejohann nahm die Beine vom Tisch.

»Aber wollen tun Sie was, oder?«

»Ihre Hilfe. Ich nehme an, Sie sind Herr Grotejohann und der Inhaber dieser Agentur?«

Er blickte den Journalisten fragend an, klopfte, als keine Reaktion kam, mit dem rechten, gebogenen Zeigefinger symbolisch gegen die Türzarge und betrat das Büro.

»Darf ich?«

»Wenn Sie Ihr Versprechen halten.«

»Lediglich ein kurzes Gespräch«, sagte der Bartholomee, »und nur, wenn Ihre Zeit es erlaubt.«

Grotejohann erhob sich, stellte fest, dass sein Besucher ihn um einige Zentimeter überragte, deutete auf die am Fenster stehende Sitzgruppe und griff nach seiner auf dem Schreibtisch liegenden Zigarettenpackung.

»Mögen Sie?«

»Glücklicherweise nicht mehr«, sagte Bartholomee und ließ sich in einen der zerschlissenen Ledersessel fallen. »Aber vielen Dank. Auch dafür«, fügte er ironisch hinzu, »dass Sie mich so liebenswürdig empfangen.«

»Beim zweiten Besuch gibt´s Küsschen.«, sagte Grotejohann. Er zündete sich eine Zigarette an.

Bartholomee legte die Hände ineinander. Er suchte Grotejohanns Blick, schien herausfinden zu wollen, wer sich tatsächlich hinter der recht zotteligen Fassade dieses Mannes verbarg.

»Ich bin Mitarbeiter der katholischen Kirche und als solcher für die Bearbeitung bestimmter Problembereiche zuständig. Ich diene, wenn Sie so wollen, als Ermittler in strittigen Personalfragen.«

»Sie haben also die Aktienmehrheit an meinem Unternehmen erworben und wollen mir schonend meinen Rausschmiss beibringen?«

»Mich führen freundliche Absichten.«

»Sie machen mich neugierig.«

»Wir sind es, Herr Grotejohann. Seit heute Mittag, seitdem wir über den Besuch Ihrer Sekretärin im Mindener Vikariat informiert wurden.«

Leuchtgesicht, dachte Grotejohann.

»Und jetzt wollen jetzt das von ihr entwendete Altargold zurück?«

»Frau Hermesmeyer erbat Auskünfte über einen unserer Mitarbeiter. Einen ehemaligen, um präziser zu sein, den wir leider aus mehreren Gründen als Problemfall betrachten müssen.«

»Sie suchen also einen Behindertenjob?«

»Nein, wir sind lediglich erstaunt, dass Ihre Sekretärin sich nach unserem Problemfall erkundigte.«

»Wir sind eine feine, wenn auch kleine Nachrichtenagentur, Pater.«

»Gewiss.« Bartholomee nickte und lächelte. »Was uns neugierig macht, ist, wieso Sie in dieser - sagen Sie in Ihrem Metier Zielperson? - eine Geschichte vermuten.«

»Wieso alarmiert Sie das?«

»Ihr Eindruck, wir könnten alarmiert sein, ist falsch. Ganz im Gegenteil, wir sind erfreut über Ihr Interesse, zeigt es uns doch, dass unsere Hoffnung, diese Person zu finden, nicht unbegründet ist.«

»Ich verstehe«, sagte Grotejohann, »aber leider nicht alles. Ich frage mich, ob wir von der gleichen Person sprechen.«

»Daran habe ich keinen Zweifel.«

Grotejohann zerdrückte die eben erst angerauchte Zigarette, spürte jene besondere Art von Kribbeln in der Bauchgegend, die ihn immer dann stimulierte, wenn er einer guten Geschichte auf der Spur war.

»Über wen sprechen wir also?«

»Sie kennen den Namen.«

»Pater Jakob?«

»Ehemals Pater Jakob.«

»Wieso ehemals?«

»Er ist aus dem Dienst der Heiligen Kirche entlassen.«

»Exkommuniziert, davongejagt?«

Bartholomee schüttelte sanft den Kopf. »Das erste ja, das zweite nein.«

»Jedenfalls ist Ihnen seine Postleitzahl abhanden gekommen. Und die brauchen Sie. Weil Sie was von ihm wollen.« Grotejohann hob die rechte Hand und drohte mit dem ausgestreckten Zeigefinger. »Tragen Sie vielleicht so ´n schräges Abzeichen unterm Revers? Geheimdienst seiner Heiligkeit?«

Bartholomee lächelte unbeeindruckt.

»Nein, ich trage kein Abzeichen. Sie können sich gerne überzeugen.« Er legte die Daumen hinter die Aufschläge und schob sie nach vorne.

»Schon gut«, sagte Grotejohann. »Ich habe ein schlichtes Gemüt und obendrein eine schlechte Auffassungsgabe. Fahren Sie nur fort.«

»Gerne«, sagte Bartholomee. »Die Stelle, der ich zugeordnet bin und die, wie ich bereits erklärte, sich dieser strittigen Fragen anzunehmen hat, ist etwas ganz Normales, ein Amt, das sich zum Beispiel um den Verbleib von Menschen wie Pater Jakob zu kümmern hat. Und um den wir«, fügte er betont hinzu, »aus triftigen Gründen besorgt sind. Und weil wir besorgt sind, verfolgen wir jede sich anbietende Spur.«

»Warum schalten Sie nicht die Polizei ein?«

»Pater Jakob hat sich keines Delikts schuldig gemacht.«

»Warum ist er rausgeschmissen worden?«

»Ich bin nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.«

»Womit Sie der Fantasie reichlich Futter geben.«

Bartholomee schüttelte den Kopf.

»Es ist eine simple Angelegenheit, Herr Grotejohann, der Fall eines tiefgläubigen Menschen, dessen Geist aus Gründen, die weder Sie noch wir ergründen können, irgendwann einen Knacks erfährt. Pater Jakob, nennen wir ihn getrost weiter so, ist leider Gottes geistig verwirrt und neigt in seiner Verwirrung zu unkontrolliertem Handeln. Wir sehen uns in der Verantwortung und möchten Nachteiliges für ihn verhindern. Das ist der Sachverhalt.«

»Und jetzt wollen Sie, dass ich ihn Ihnen schön eingepackt vor die Füße stelle?«

»Sie wissen also, wo er zu finden ist?«

Grotejohann zündete sich eine frische Zigarette an. Es war dieses Flimmern in den Augen des anderen, das ihm das Gefühl gab, an den falschen Baum geführt worden zu sein.

»Tut mir leid«, sagte er, »ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Das ist sehr bedauerlich«, sagte Bartholomee und fügte, den Journalisten fixierend, rasch hinzu: »Warum interessieren Sie sich eigentlich für den Pater?«

Grotejohann hob die Schultern.

»Wir machen eine Geschichte über Jugendarbeit, und da ist er uns als kompetent geschildert worden«, verdrehte er leichthin seine Motive.

»Überzeugen muss mich das nicht, oder?«

»Sie sind der Fachmann für Glaubensfragen.«

»Pater Jakob hat nur am Rande mit Jugendlichen zu tun gehabt.«

»Uns sagte man, er wäre mit dem Thema auf du und du.«

»Und das ist alles, was Sie interessierte?«

»Sie ahnen nicht, wie wichtig gute Beratung ist.«

»Ich weiß es. Aber wie kann er Sie beraten, wenn Sie nicht wissen, wo er zu finden ist?«

»Er sollte für uns tätig werden. Über das Vikariat haben wir - wie Sie bei uns - seine Adresse herauszufinden versucht.«

»Vergeblich.«

»Leider vergeblich«, bestätigte Grotejohann. Seine Mundwinkel zuckten.

»Haben Sie Ersatz für diese... Beratung gefunden?«

»Wir bemühen uns.«

Bartholomee stand abrupt auf. »Und derartige Themen lassen sich in Wahlkampfzeiten verkaufen?«

»Jugend und Geistlichkeit«, sagte Grotejohann, sich ebenfalls erhebend, »gehen seit den Dornenvögeln wie ofenwarme Semmeln.«

»Ganz ohne Sensation?«

»Es kommt darauf an, welche der vielen Abnehmer Sie bedienen. Da gibt es Redaktionen, die setzen auf Bewährtes und Erbauliches, da gibt es andere, die hören erst dann zu gähnen auf, wenn Sie ihnen Sex and Crime möglichst aus der feinen Gesellschaft dazu liefern. Oder aus Ihren Kreisen, selbstverständlich.«

»Wo Menschen sind, ist Menschliches, Herr Grotejohann. Auch in der Kirche. Im Übrigen sprechen wir von einem bedauernswerten Menschen, von einem Schicksal, das nicht auf den Markt gehört. Ich hoffe, Sie nehmen bei diesem Geschäft keinen Schaden an Ihrer Seele.«

»Ihre Hoffnung ist die meine.«

»Das freut mich«, sagte Bartholomee, griff in die Brusttasche und reichte dem Journalisten eine Karte. In einem Tonfall, der nicht frei von Ironie war, fügte er hinzu: »Falls Sie zu einer anderen Einschätzung Ihrer Informationen kommen, würde ich mich über Ihren Anruf freuen. Ich bin sicher, dass wir einen Weg finden könnten, etwaige Honorarausfälle zu kompensieren.«

Er reichte dem Journalisten die Hand und ging so geräuschlos wie er gekommen war.

Grotejohann blickte auf die schlichte Visitenkarte. Bartholomee, las er, und rechts unten nichts weiter als eine Handynummer. Er setzte sich an den Schreibtisch, ließ sich das Gespräch eine Weile durch den Kopf gehen und rief seine Sekretärin an. Sie meldete sich trotz des frühen Abends mit verschlafener Stimme.

»Hör zu, Mädchen«, sagte er, »wer auch immer sich an dich wendet oder dich befragt, über unsere Leuchtgesichtgeschichte gibst du keinerlei Auskunft. Nicht einen Fetzen davon!«

»Klingt, als wenn einer mit ´nem Revolver vor dir steht.«

»Tut er nicht, Liebes, wir hatten nur Besuch vom Geheimdienst seiner Heiligkeit, aufgeschreckt durch deine Recherche im Mindener Vikariat. Brennpunkt ist unser davongelaufener Mönch.«

»Wie das, wenn er um die Ecke wohnt?«

»Das beste Versteck für Gestohlenes ist das Polizeipräsidium, mein Tigerkätzchen.«

»Warum fragen wir nicht unseren Ex-Pater?«

»Warum sollte er antworten, wenn er gesucht wird?«

»Der Polizei müsste eine Vermisstenmeldung vorliegen, oder?«

»Die Polizei haben sie nicht eingeschaltet. Sagte mein Besucher. Wollen die Geschichte auf kollegialer Basis lösen. Was wird da verborgen? Dass Leuchtgesicht einen an der Waffel hat? Das Leiden teilt er mit ´nem Haufen anderer, ohne dass der Geheimdienst der Unfehlbarkeit eingeschaltet wird. Wie siehst du das, Engelchen?«

»Na ja...«

»Na ja, ja oder na ja, nein?«

»Ich gebe keine Ferndiagnosen.«

»Trotzdem müssen wir uns um die Geschichte kümmern.«

»Auch wenn du auf mir rumtrampelst, jetzt kriegst du mich nicht mehr aus dem Bett. Ich habe mir einen gehörigen Teil der letzten Nacht und auch den frühen Morgen um die Ohren geschlagen, und einen Haufen Überstunden bist du mir auch noch schuldig.«

»Ich liebe dich«, sagte Grotejohann, den Zigarettenrest ausdrückend. »Und du hast vollkommen recht. Wir begucken uns den Entlaufenen ein bisschen später. Ist dir dreiundzwanzig Uhr recht?«

»Kann das nicht bis morgen warten?«

»Solche Sachen werden ganz schnell kalt.«

»Na gut. Klingel durch, wenn es denn unbedingt sein muss.«

»Schlaf gut, Süßes. Vielleicht komme ich auf ein kurzes Wecken vorbei.«

»Unterstehe dich!«

»Nur, wenn er einknickt, unser gemeinsamer Freund.«

Er legte lachend auf.

13

Irgendwann, hatte Reineking im Laufe seiner Dienstzeit gelernt, gerät man mit seinen Ermittlungen an eine Wand. In den meisten Fällen erweist sie sich dann doch als durchlässig, in einigen jedoch bleibt es dunkel. Man hatte zur tatsächlichen eine weitere Leiche produziert. Eine aus Papier. Die kam in das Fach, in dem die Altlasten aufbewahrt wurden. Vielleicht für alle Zeiten, vielleicht - wenn der Zufall oder das Geschick es so wollten - für eine begrenzte Zeit. Die liegen blieben, gingen einem richtig an die Nieren, weil man jedes Mal, wenn man einen Blick darauf warf, daran denken musste, dass da irgendwo ein Typ herumlief, der wieder zuschlagen und ein weiteres Menschenleben auslöschen konnte.

Der gegenwärtige Fall, er nannte ihn für sich »die Kerze«, schien sich ebenfalls festzulaufen. Reinekings Hoffnung, über das so wunderbar einfach zugeordnete Handy endlich Klarheit über den Tathergang finden zu können, war in getrogen worden. Das simple Achselzucken einer etwas späten Punk Dame hatte die gewitterte Luft ganz unspektakulär entweichen lassen. Die sofort eingeleitete Nachfrage beim Einwohnermeldeamt war negativ verlaufen. Im Bereich Minden-Lübbecke hatte sich kein Dieter Rose jenes Alters aus den Daten herausfiltern lassen. Und ob die weitergeleitete Nachfrage an die zentrale Täterdatei Erfolge brachte, ließ sich wohl erst nach einigen Tagen beurteilen, wenn die entsprechenden Ergebnisse übermittelt waren. Blieb die Frage, inwieweit Frau Meyer der Wahrheit die Teufelsfratze ihres Jeansrücken zugekehrt hatte.

»Die ist kein durchgeknalltes spätes Mädchen«, hatte Termöhlen vermutet. »Die ist im Krieg. Deswegen die Bemalung, deshalb die schrägen Klamotten. Dahinter versteckt sie das, was sie wirklich ist.«

»Sie zitterte. Entweder vor Wut oder ...«

»Vor wem soll sie denn zittern? Wenn da einer zittert, ist es ihr Kerl. Und zwar vor ihr. Hast du eigentlich mitgekriegt, wie der sich die ganze Zeit geduckt hat? Das lernst du nicht von gestern auf heute, da stecken die ganzen letzten Jahrzehnte dieser Ehe drin. Wenn du mich fragst, sollten wir ihn uns noch mal vornehmen. Könnte sein, dass er uns was über diesen Zatopek sagen kann.«

»Und über seine Frau.«

»Das Handy. Dass das plötzlich verschwunden ist ... Das stinkt. Nicht, dass wir plötzlich beim Satanismus landen.«

»Sein kann alles.«

»Ja. Und was machen wir mit dem Meyer? Fahren wir hin?«

»Häng du dich da rein, Hennes, nachdem du mich im Präsidium abgesetzt hast.«

»Du meinst, wenn er sich einem ebenfalls Abgewrackten gegenübersieht, wird er gesprächiger, was?«

»Mach dich nicht hinfälliger als du bist.«

»Na ja ...« sagte Termöhlen und rückte die zum Fahren notwendige Brille zurecht.

Reineking hatte mit Wehner telefoniert und ihn gebeten, die Vermisstenstelle nach abgängigen Personen zu befragen.

»Ich bin auf dem Weg zum Denkmal«, hatte Wehner gesagt. »Ich will die restlichen Anwohner und besonders das Personal der Restaurants befragen.«

»Gibt es da mehrere?«

»Weiter hinten noch eines, auf dem Höhenrücken, die Wittekindsburg. Ist zwar ein bisschen weit weg, aber die Angestellten müssen über die Denkmalzufahrt. Kann ja sein, dass was beobachtet wurde.«

Die Luft stand, die jähe Hitze pappte die Kleider wie Kleber an die Haut. Oben im Flur warteten Vernehmungen auf ihn, zwei von dreiundzwanzig bereits vernommenen Schülern der Klasse des im Sickerschacht tot aufgefundenen Vierzehnjährigen, die mit ihren Aussagen zwar bei der Erstellung eines Persönlichkeitsbildes geholfen, aber nicht eine einzige verwertbare Spur aufgezeigt hatten. Er bat sie, einen Augenblick zu warten, ging in sein Büro und telefonierte mit den Kollegen von Zimmer 215, um ihnen die Vernehmungen anzudienen.

Er hatte Pech. Beide Kollegen waren außerhalb des Hauses im Einsatz und hatten auch die aus dem Streifendienst übernommene Kriminaldienstanwärterin mitgenommen. Die Gedanken noch immer bei dem aktuellen Fall, nahm er sich die Jungen nacheinander ohne nennenswertes Ergebnis vor. Die auf Band mitgeschnittenen Aussagen gab er ins Sekretariat, erhielt die bei seinem Eintritt fertig gestellte Spurenakte des aktuellen Falles und besorgte sich einen Kaffee, ehe er in sein Büro zurückkehrte.

Was die Kollegen bei der Suchaktion zusammengetragen hatten, war im Augenblick nichts weiter als ein Haufen Abfall, der sich in keinen direkten Bezug zur wie auch immer erfolgten Tat setzen ließ. Getränkedosen, mehrere zerweichte Portemonnaies, einen Benzinkanister und unzählige Socken, Unterwäsche und Schuhe bildeten eine unendlich lange, korrekt durchnummerierte Liste mit den jeweiligen Querverweisen zum Fundort. Eine zwar beeindruckende und notwendige Buchhalterarbeit, die Termöhlen und Wehner noch in der Nacht geleistet hatten. Was und ob sie überhaupt etwas bringen würde, stand jedoch in den Sternen.

Er blätterte lustlos weiter, stieß auf die Namen und Adressen der am Denkmal beschäftigten Arbeiter. Er überlegte, ob er Wehner, der sowieso in der Nähe des Denkmals beschäftigt war, mit deren Vernehmung vor Ort beauftragen sollte, ließ den schon erhobenen Hörer jedoch wieder fallen und nahm sich vor, die Sache selbst zu bearbeiten.

Er trank den nur noch lauwarmen Kaffee, lehnte sich zurück und blickte an die Decke, entdeckte den dunklen Flecken, erinnerte sich jener Nacht vor fünf Jahren, als eine Stechmücke ihn sirrend umkreist und mehrmals gestochen hatte, bis er sie wutentbrannt mit einem Exemplar des Mindener Tageblatts gejagt und schließlich mit einem Klatschen zur Strecke gebracht hatte. Man sollte den schon durchgetrockneten Kadaver endlich entfernen, dachte er, und wieder einmal vergaß er ihn im nächsten Augenblick, abgelenkt von einem kurzen Klopfen an der Tür, die gleich darauf aufgestoßen wurde.

»Grüß dich«, sagte Papenburg, ein mittelgroßer Mann von gut vierzig Jahren, der im Nebenzimmer zusammen mit einem Brandermittler saß, jedoch für Sexualdelikte tätig war. »Ich habe zwei Sachen für dich.« Er legte eine kleine Plastiktüte auf den Tisch. »Erstens dieses Abzeichen aus der Brandasche. Eigentlich soll ich es deinem Kollegen ohne Kommentar mit Grüßen aus der Technik geben, zweitens eine Zusammenstellung aller Anzeigen abgängiger Personen. Mit eingeschlossen sind die aus der Inspektion Lübbecke und aus meiner Datei. Alles noch unsortiert, weil weder die Kollegen noch ich bis vor vorhin wussten, dass Ihr ausschließlich männliche Merkmale vorgegeben habt.«

»Was ist mit der Tüte?«

»Ihr habt das zum Bearbeiten runter gegeben.«

Reineking öffnete die Plastiktüte und ließ das Abzeichen in seine linke Hand fallen. Er nickte, als er vor zwei goldenen Säulen den silbernen Speer und darauf wiederum einen goldfarbenen bärtigen Kopf erkannte, dessen Antlitz christusartige Züge aufwies. Eine feine, offensichtlich alte und wohl auch kostbare Arbeit. In eine Haarlocke versteckt war ein winziger Ring eingearbeitet, der zur Aufnahme einer Kette oder eines Kettengliedes dienen mochte. Die Säulen waren unterschiedlich geformt.

»Tolles Stück«, sagte Papenburg.

»Lag in der Brandasche«, sagte Reineking. Er drehte das Abzeichen. Auf dem polierten Rücken, der weniger genau gearbeitet war, war im oberen Drittel ein gleichschenkliges Kreuz und darunter sechs Zeilen eingraviert oder mit einem Stempel eingepresst. Er bemühte sich vergeblich, sie mit bloßem Auge zu lesen. Kreuz und Schrift wirkten wie von langem Gebrauch abgenutzt.

»Irgendwo habe ich eine Lupe«, sagte Reineking.

»Im Spurenkoffer.«

Reineking fand eine im untersten Fach des Schreibtisches, die den Vorzug einer Beleuchtung hatte. Er hielt sie über das Medaillon. Die Schrift auf der Rückseite trat deutlicher zum Vorschein.

»Si tatlia jungere possis sit tibi scire posse«, las er. Er sah Papenburg fragend an.

Der schüttelte den Kopf. »Ich weiß von so ziemlich allen Perversionen, aber das, das sagt mit nichts. Latein, was?«

»Latein«, bestätigte Reineking. »Possis ist Verstehen, wenn ich mich recht erinnere... wenn du verstehst... verstehst du... klar, wenn man versteht, versteht man... Hast du Ahnung, wer das aus dem Laden richtig kann?«

»Wehner«, sagte Papenburg.

»Ach ja, unser Kulturgenie.«

Reineking schrieb den Satz auf, malte auch das gleichschenkelige Kreuz darunter.

»Sieht aus wie das Balkenkreuz«.

»Eher wie auf den Malteserflaschen«, sagte Reineking.

Das Telefon klingelte.

»Okay, ich hab zu tun. Wir sehen uns«, sagte Papenburg und verließ das Zimmer. Reineking nahm den Hörer ab.

»Du wirst es nicht glauben«, sagte Termöhlen mit allen Anzeichen der Häme, »unsere Punk Lady hat uns ganz schön gelinkt. Der Kerl mit den heißen Sohlen gibt ihr das, was Herr Meyer nur noch seinen Fliesen antut. Und wenn ich das richtig verstanden habe, ist das ein bezahltes Abenteuer. - Was sagst du jetzt?«

»Kennt er diesen Dieter Rose?«

»Kennen? Wenn er könnte, würde er ihn umbringen!«

»Sagt er?«

»Nee, aber er kocht, kocht schon seit Jahren, seitdem er dulden muss, dass sie ihm das antut.«

»So was muss man nicht dulden.«

»Versetz dich mal in seine Lage...«

»Ungern.«

»Die reine Perversion«, sagte Termöhlen. »Die treiben ‚s im Ehebett, während das arme Schwein sich unten »Wetten, dass…« ansehen muss.«

»Was erzählt er über unseren Flitzer?«

»So viel, dass wir ihn kassieren können.«

»Wann bis du hier?«

»Gleich«, sagte Termöhlen, »ich bin schon auf dem Königswall.«

»Sehr schön«, sagte Reineking. »Sammle mich unten auf.«

Termöhlen war nicht wieder zu erkennen: Seine Augen blitzten, die ansonsten bleichen Wangen glühten, die Gestik wäre auch einem Südländer hektisch erschienen. Es war, als hätte er ein Bad im Jungbrunnen genommen, und seine Stimme hatte den stolzen Klang eines danksagenden Preisgewinners.

»Otto machte erst Anstalten«, erzählte er. »Ich nix wissen und so, aber dann habe ich ihn an der Stelle gepackt, wo ´s um die Ehre geht. Plötzlich knickte er ein, ich dachte schon, jetzt geht das große Geheule los, aber da kam kein Geflenne, da kam das Elend eines ganzen Lebens: Maloche und Suff und eine Frau, die gerne zugegriffen hat, wenn da einer mit dicken Nüssen rumgelaufen ist. Ne echte Nymphenburgerin, wenn man ihm glauben kann, allzeit bereit, und er hat´s bis fast zuletzt nicht mitgekriegt, hat treu doof seine Fliesen geklebt und sie in den Urlaub ziehen lassen und sich jeden Tag seine für Monate vorgekochte Erbsensuppe aus dem Tiefkühlschrank geholt. Das musst du dir vorstellen: Die vögelt die Caballeros und der trabt mit ´nem Henkelmann zu seinen Fliesen und ist noch stolz drauf, dass sie sich die Reisen erlauben kann!«

»Bring uns nicht um«, bat Reineking und griff ins Lenkrad, als der Wagen einem Bus des Verkehrsverbundes zu nahekam.

»Entschuldige.«

»Es war reiner Selbsterhaltungstrieb.«

»Bei ihr, meinst du?«

»Nein, bei mir. Aber ich wollte dich nicht unterbrechen.«

Termöhlen warf ihm einen irritierten Blick zu.

»Jedenfalls wird er morgen vorbeikommen, damit wir seine Aussage protokollieren können.«

»Wusste er was über den Verbrannten?«

»Damit habe ich mich zurückgehalten, weil ...« Termöhlen trat heftig auf die Bremse, um an der Ampel nicht auf den Vordermann zu fahren, nahm den Gang heraus, während Reineking überlegte, ob er sich hinter das Steuer setzen sollte.

»Weil was?«

»Ich hielt das einfach für richtig, genau wie die Idee, ihn noch mal anzugehen.«

»Bei der nächsten Ordensverleihung sitzt du in der ersten Reihe«, sagte Reineking.

»Den Tag möchte ich erleben, an dem von dir Anerkennung kommt.«

»Es ist grün.«

»Meinst du, ich bin blind?«

»Sagen wir, die Bilder erreichen deine Netzhaut etwas verzögert.«

»So lange mein Instinkt für so schräge Typen wie Rose und Punk Lady funktioniert, kann ich über solche Kommentare nur lachen«, bellte Termöhlen.

»Weißt du eigentlich, wo wir hinfahren?«

»Na, zu Rose natürlich!«

»Aha«, machte Reineking und lehnte sich zurück.

»Er wohnt in Bölhorst«, erklärte Termöhlen. »Unweit des sogenannten Dorfgemeinschaftshauses auf der Klinkerstraße. Klinker deshalb, weil da oben in Ziegeleien traditionell Mauersteine gebrannt wurden.«

»Wie kommt´s, dass die vom Einwohnermeldeamt davon keine Ahnung hatten?«

»Weil er ´n Parasit ist, dieser Spritzer. Der lutscht nicht nur die verrückte Meyer aus, der scheint ´ne ganze Reihe von Weibern zu haben, wo er sich nach Bedarf und Laune einnistet. Auch das Auto, das er fährt, dieser Corsa, gehört nicht ihm, gehört einer dusseligen Kuh, die nicht merkt, dass er sie linkt.«

Sie rollten über die Kreuzung Portastraße und gelangten auf die Lübbecker. Es gab einen kurzen Stau, als ein Lastwagen sich in eine Einfahrt schob, es ging dann schleppend weiter, bis sie in den Schwabenring einbogen.

»Die zweite Straße rechts muss das sein«, sagte Termöhlen, das Gesicht über dem Lenkrad und dicht an der Windschutzscheibe. Draußen graue Bürgerhäuser, kleine Geschäfte, Vorgärten mit Windmühlen und Rhododendron. »Der Corsa ist übrigens nicht rot, sondern silbergrau und hat hinten links ´ne Delle. Ich hoffe nur, dass er uns diesmal nicht entwischt.«

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
431 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783967526769
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