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Читать книгу: «Die Bärin Roman», страница 3

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Die Großmutter lauert hinter der kleinen Fensterscheibe auf ihre Tochter und die Kinder. Sie ist gespannt, was es mit der Vorsorge auf sich hat. Oben steht sie an der Treppe und fragt durchs hallende Treppenhaus: „Na, wie war’s? Was machen die mit den Leuten?“

„Die Füße werden gebadet, und du wirst angestrichen!“ rufen die Jungen zurück, die über das Unangenehme schon hinweg sind. Und als die Tochter ihr später schildert, wie es dort zugeht, ist die alte Frau entsetzt: „Und selbst wenn ich die Krätze hätte – so etwas mache ich nicht mit! Mich vor anderen ausziehen? Niemals! Ja, wo sind wir denn!“, empört sie sich.

Nachdem sie sich beruhigt und eine Nacht darüber geschlafen hat, ist sie mit ihrem Mann am anderen Tag doch zur „Kaffeemühle“ gegangen.

Pfingsten ist vorüber, und seit etlichen Tagen ist das Wetter schön und überaus warm. Die Leute erzählen sich, dass es vorerst so bleiben werde. Der Großvater ist seit dem Morgen schon auf Tour, und die Großmutter hat einen Stuhl in das Kaninchenzimmer getragen und sich in die Sonne gesetzt. Hier sehe ich so gut wie keine Trümmer, sagte sie zur Tochter. „Und wenn ich die Augen schließe, dann ist es, als wäre ich in Thüringen auf einem Berg. So warm, so still und friedlich war es, als ich meine Großmutter in einem engen Tal in Thüringen besucht habe. Wir saßen am Abhang eines Berges, unter uns der Ort zwischen Feldern und Grünem. Da habe ich zum ersten Mal Frieden und Glück erfahren, denn ich war noch ein sehr junges Ding, was habe ich von der Natur wahrgenommen? Feld und Wiese, das bedeutete mir nur Arbeit...“, erzählt sie und schließt die Augen und lässt den Windhauch über ihre nackten Arme streichen. Im Sommer sind Fenster ohne Scheiben recht praktisch, denkt sie. Da hast du immer frische Luft und fühlst dich, als wärst du in einem herrlichen Garten. Ursula ist gegangen, neben sich hört sie die Kaninchen durch ihren Käfig hoppeln. Manchmal schlägt der junge Bock mit den Hinterbeinen auf den Boden. Anfangs hat sie das erschreckt, jetzt weiß sie, dass sein Poltern nichts zu bedeuten hat. Einmal ist die Tochter an die Tür gekommen, und als sie die Mutter immer noch wie in Betrachtung auf ihrem Stuhl sah, ist sie wieder leise gegangen. Bis zum Mittag sitzt die alte Frau im Kaninchenzimmer, und irgendwann hat sie sich die Kinderkleidung vorgenommen, die der Großvater für die Enkel aufgetrieben hat, um sie auszubessern. Die Ärmel an den Pullovern sind verschlissen, so dass Ursula Andreae sie auflösen und neu stricken wird. Die Bündchen wird sie mit anderer Wolle vervollständigen.

Ursula hat die vernagelte Balkontür geöffnet. Licht, so viel Licht in dieser Stube! Auch sie sitzt dicht bei der Tür und lässt sich von der Sonne bescheinen. Im Kaninchenzimmer mag sie nicht lange sitzen, da stinkt es. Der Großmutter macht das nichts aus, sie sagt selbst, sie könne nicht mehr gut riechen. Jetzt ist sie müde geworden und droht einzuschlafen. Vorhin wäre sie beinahe vom Stuhl gefallen.

Im Flur hört sie schwere Schritte. Der Vater ist es nicht, der geht trotz seines Alters leichfüßiger. Jemand klopft leise an die Tür. Für ungebetene Gäste hat der Vater eine Dachlatte hinter die Tür gestellt und geraten: „Keine Hemmungen, schlagt nur zu! Wenn ihr es nicht macht, macht es der Ganove!“

Lautlos huscht Ursula zur Großmutter ins Kaninchenzimmer. „Da ist jemand an der Tür“, flüstert sie.

„Wir sind nicht da“, sagt die Mutter und schließt wieder die Augen. Ohne sich zu rühren fragt sie: „Hat er Laut gegeben?“

„Nein. Es ist ein Fremder. Ein Mann. Mutter, so geht nur ein Mann, der schweres Schuhwerk trägt.“

Und noch einmal sagt die Mutter: „Lass ihn gehen, wir sind nicht da!“ Aber sie dreht sich doch auf ihrem Stuhl um und beobachtet die Flurtür. Und als heftiger geklopft wird, steht sie auf und bewaffnet sich mit der Dachlatte.

„Mach auf“, sagt sie. „Aber vorsichtig. Du nimmst den Schürhaken, ich die Latte. Leise, leise.

Ich stelle mich hinter die Tür und sollte er...“ Sie lässt die Dachlatte durch die Luft sausen. „Dann kriegt er gleich eins über seine Rübe!“

Auf Zehenspitzen schleichen sie an die Tür, und die Mutter baut sich dahinter mit erhobener Latte auf. „Mach auf!“ flüstert sie.

Ursula Andreae fragt, den Mund dicht am Türspalt: „Wer ist denn da?“

„Willst du mich nicht reinlassen?“, fragt der Fremde. „Ursula, mach auf, dann wirst du’s sehen!“

Noch ein kurzer Blick zur Mutter, die ihr zunickt, dann öffnet Ursula, den Feuerhaken hinterm Rücken, entschlossen die Tür. Vor ihr steht ein verdreckter, ein verwahrloster Soldat. Die Mutter hat ihn sofort erkannt. „Bruno!“, schreit sie und lässt die Latte fallen. „Bruno! Bruno!“ Und aufschluchzend hängt sie an seinem Hals. Einmal hält sie ihn ein Stück von sich, um ihn betrachten zu können, dann schlingt sie wieder ihre Arme um ihn. Sie lacht und weint gleichzeitig, und immerzu flüstert sie seinen Namen.

„Ihr steht hinter der Tür wie eine Räuberhorde“, sagt Bruno, der versucht, sich aus der Umklammerung der Mutter zu befreien. „Der Hitler hätte euch zwei auf den Feind loslassen sollen!“, lacht er. „Ihr zwei seid geradezu verwegen geworden. Vor euch muss man auf der Hut sein!“

Die Mutter zieht den Sohn in die Wohnung, und jetzt erst entdecken sie die beiden Jungen auf der Treppe, die still zugesehen haben. Erst haben sie sich mit der Großmutter gefreut, aber als die zu weinen anfing, schämten sie sich und wollten gehen.

Ihre Mutter mäkelt: „Was seid ihr nur für Wichte, ihr! Steht hinter dem Onkel Bruno und sagt nichts! Konntet ihr euch nicht denken, dass wir Angst bekommen haben, als es an der Tür klopfte? Wenn der Onkel Bruno ein Fremder gewesen wäre, der unsere Sachen wegtragen wollte! Warum habt ihr nicht gerufen?“ Darüber können die Jungen nur kichern. Sie wissen vor Verlegenheit nicht, was sie machen sollen. Sich gegenseitig stoßend stürmen sie wieder nach draußen.

Mutter und Sohn sitzen am Tisch, und die Mutter hat seine Hände genommen und streichelt sie immerzu, dann hält sie sie fest und sieht ihn an und sagt: „Was du für harte Hände bekommen hast! Hart und rauh. Na, Bruno, jetzt bist du da! Gott sei Dank. Ja, Gott sei Dank!“ Und immer wieder zittert ihr Kinn und füllen sich ihre Augen mit Tränen.

Ursula hat ihm Brote gemacht und Kaffee gekocht, und als Bruno den Malzkaffee riecht, sagt er zur Schwester: „Es ist wie in den Cafés vor dem Krieg. So etwas Feines habe ich schon lange nicht mehr gerochen...“

„Was hast du denn getrunken?“ fragt die Mutter.

„Was wohl? Wasser, egal, wo es sich fand.“

„Ach, du armer Kerl. Einfaches Wasser!“

„Mutter, was wunderst du dich? Hatten wir vielleicht Bohnenkaffee oder Wein?“, fragt die Tochter verständnislos. „Ich habe drüben im Keller wochenlang nichts anderes getrunken als Wasser. Der Muckefuck war für die Kinder. Und gehungert haben wir auch!“

Bruno sieht sie aus den Augenwinkeln an. Die Schwester macht den Eindruck, als trüge sie angestauten Ärger mit sich herum. Sie ist ihm nicht um den Hals gefallen wie die Mutter, sondern hat ihm wie einem Fremden wortlos die Hand gereicht und ist, nachdem sie mit ihren Jungen gezankt hatte, unauffällig verschwunden.

Nachdem sie den Bruder versorgt hat, geht sie mit ihren Strickarbeiten ins Kaninchenzimmer, wo sie ungestört arbeiten kann, wie sie den Bruder wissen lässt, denn der möchte sich wohl zuerst mit der Mutter aussprechen. Für sie beide bliebe noch genügend Zeit, sagt sie, und wenn etwas benötigt würde – sie arbeite nebenan und käme sofort herüber.

Ursula Andreae sitzt untätig am Fenster. Ihre Arbeit liegt im Schoß. Wenn jemand ins Zimmer kommt, dann kann sie sie aufnehmen und Geschäftigkeit vortäuschen.

Jetzt ist der Bruno gekommen, denkt sie, wie lange wird sie noch auf Reinhold warten müssen? Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, dann wird sie den Bruder fragen, was mit den meisten anderen Soldaten passiert ist. Bruno muss etwas über sie wissen, denn er ist selbst Soldat gewesen. Wo sind die Desertierten geblieben? Jene, die nicht in ein Lager geschickt wurden, sondern die man laufen ließ? Und wohin wurden die gebracht, die gefangen genommen wurden? Sind sie noch im Lande? Oder sind sie ins Ausland verschleppt worden? Denn es können nicht Hunderttausende in Gefangenschaft gekommen sein. Leichter ließe sich etwas über Reinhold herausfinden, wenn sie nur wüsste, zu welchen er gehört hat: Zu den Verschleppten, den Desertierten? Wo ist er geblieben? Für die Mutter hat das Warten ein Ende. Aber sie muss weiter die Ungewissheit ertragen. Und das Warten mit dem Bruder an der Seite, ihn hier im Haus, täglich am Tisch zu sehen, das wird schwer für sie sein, das ahnt sie. Ja, sie hat sich gewünscht, dass der Bruder unversehrt heimkehrt, aber an ihn dachte sie anders als an Reinhold. Und wenn sie an Bruno dachte, dann dachte sie in Wahrheit an ihren Mann. Irgendwie kamen in ihrer Vorstellung immer beide gleichzeitig vor: der Bruno für die Mutter, aber Reinhold für sie. Jetzt ist nur der Bruno heimgekehrt.

Der Vater ist gekommen. Sie hört ihn sprechen, leise und unaufgeregt, und ebenso leise antwortet Bruno ihm. Ein wenig lauter fragt er nach ihr: „Wo ist denn die Urschel?“ Die Mutter gibt Antwort. Lange muss sie nicht warten, da steht der Vater bei ihr im Kaninchenzimmer.

„Wird es dir hier nicht schon zu kalt?“, fragt er.

Ursula möchte ihm antworten, aber da ist etwas, das ihr die Kehle zuschnürt, dass sie nicht sprechen kann. Er legt seinen Arm um ihre Schulter, und bei seiner Berührung durchläuft sie ein Zittern, wie beim Schüttelfrost, sie lässt den Kopf nach vorne fallen und weint in ihren Schoß.

Der Vater legt sein Kinn auf ihren Kopf. Sie riecht ihn, er riecht nach Tabak und Kernseife. Früher benutzte er täglich ein Duftwasser, und das hat sie sehr gerne gerochen. Keiner roch wie ihr Vater, der das Vornehme und Edle geradezu ausströmte. Jetzt riecht er wie sie, wie die Kinder und die Mutter und alle anderen – sie riechen nach Kernseife, nach Armut.

„Diese Stunde, Ursula, wird auch für dich kommen“, sagt er. „Bald schon. Die können doch nicht über Jahre die Soldaten festhalten. Das ist viel zu teuer. Ihr Geld ist durch den Krieg aufgebraucht, wie können sie da solche Mäuler füttern?“

Ganz langsam wiegt der Vater sich, und sie muss sich mitwiegen. Lange steht er so bei ihr, bis sein Rücken schmerzt. Er streckt sich und sie hört, wie seine Knochen knacken. Bevor er zu den anderen zurückgeht, tätschelt er ihre Wange und meint: „Urschel, ein wenig Geduld wirst du wohl noch aufbringen müssen. Auch für dich wird es gut werden. Ganz bestimmt. Einer muss ja zuerst kommen. Nun ist es der Bruno...“

Dankbar lächelt Ursula zu ihm auf, ja, das will sie gerne glauben, sie nickt: ja, heute der Bruno, morgen der Reinhold. Nachdem der Vater gegangen ist, bleibt sie noch eine geraume Weile sitzen und beschäftigt sich mit den anzustrickenden Ärmeln. Dann packt sie entschlossen alles zusammen und geht in die Stube, wo die Eltern mit Bruno immer noch um den Tisch sitzen und ihm lauschen, was er vom Kriegsende zu erzählen hat, wie er es erlebte.

Eine Weile hört sie ihm zu, dann ruft sie die Kinder, scheucht sie ins Badezimmer und ist für die nächste Zeit mit ihnen beschäftigt. Als das getan ist, kommt sie wieder an den Tisch. Sie fragt: „Wo wird der Bruno schlafen?“

„Natürlich in meinem Bett“, sagt der Vater.

„Und wo schläfst du?“

„Mit dem Kopf auf dem Tisch. Darin, das weißt du, habe ich Erfahrung“, meint er augenzwinkernd. „Und morgen früh, da gehe ich gleich nach einem fünften Bett auf Tour.“ Er verbessert sich: „Nach dem fünften und dem sechsten. Ich glaube fest daran, dass die Familie bald wieder vollzählig ist! Ja, es wird noch so weit kommen, dass hier so etwas wie ein Hotelbetrieb entsteht“, lacht er. „Na, da kriegt ihr Frauenspersonen noch allerhand zu tun!“

Nun, da die Schwester dazugekommen ist, ist der Bruder wortkarg geworden. Wenn er den Mund aufmacht, dann gibt er Antwort auf eine Frage, die an ihn gestellt wurde, sonst starrt er nur auf die Flecken im Linoleum der Tischplatte. Er wirkt fremd und störend unter den Eltern und der Schwester. Auch die Mutter ist stiller geworden, sie hat wohl alles aus ihrem Sohn herausgefragt; das und die Wiedersehensfreude haben sie müde gemacht. In der Stube ist es dämmerig geworden, fast ist es dunkel. Der Vater zündet die Karbidlampe an und die Mutter füllt Eimer für Eimer den Waschkessel, damit der Sohn sich baden kann. „Erst wirst du den äußeren Dreck abwaschen, Junge.“ Und als das getan ist, beugt sie sich zu ihm und meint: „Du hast wohl mehr als nur Dreck und Staub abzuwaschen.“ Sie geht wieder an den Ofen, um ordentlich Holz nachzulegen.

Der Bruno sieht an sich herunter. „Das, Mutter, sieht man nicht. Ja, wenn man das andere auch wie Dreck und Staub abwaschen könnte! So einfach geht das nicht, Mutter. Der andere Dreck ist zäh, der sitzt tiefer, der klebt nicht nur an Kopf und Füßen. Der klebt hier drinnen.“ Bruno schlägt seine Faust gegen Schläfe und Brust. „Davon sauber zu werden, das dauert.“

Jetzt meldet sich die Ursula, die nicht hören mag, wie der Bruder zur Mutter von Schuld spricht. „Es ist ganz unmöglich, dass der Vater am Tisch schläft. Wir sind drei Erwachsene. Wenn jeder ein Kind zu sich ins Bett nimmt, dann braucht sich keiner von uns die Nacht am Tisch um die Ohren zu schlagen!“

„Ich kann nicht mit einem Kind schlafen!“ wehrt sich der Vater. „Wenn ich am Tisch schlafe, dann bin ich ausgeruhter, als wenn mir einmal ein Kopf, dann ein Knie in den Bauch gestoßen wird. Nein, nein: ich schlafe hier!“ Er lässt seine flache Hand auf die Tischplatte fallen. „Und morgen, Urschel, hat auch der Bruno sein Bett. Ich weiß, wo ich danach suchen muss! Nicht nur der Bruno bekommt sein eigenes Bett, auch die Jungen. Und eins ist für...“ Er spricht vor der Mutter und dem Bruder nicht aus, wem er das Bett besorgen will. Er sagt: „Wie es mit Matratzen aussieht, das weiß ich nicht. Dann werden wir uns eben mit Strohsäcken behelfen. Als Kind hatte ich auch nur einen Strohsack!“

Ursula hilft der Mutter, Brunos Badewasser in die Wanne zu schütten. Das hat der Bruno tun wollen, aber die Mutter hat es nicht zugelassen. So mager, so schwach, wie er sei, da könne sie nicht zusehen, wie er sich mit dem Wasser abmühe.

Der Bruno lässt sich Zeit im Bad, so dass die Großmutter fürchtet, er sei in der Wanne eingeschlafen. Einige Male hat sie an der Tür gehorcht, aber sie getraute sich nicht, zu klopfen oder zu fragen. Wartend ist sie auf ihren Platz neben dem Ofen zurückgegangen, und wenn der Großvater sie ansieht, dann blickt sie etwas verschämt weg. Ursula ist ins Bett gegangen. Der Vater sitzt am Tisch und kämpft gegen den Schlaf an. Er möchte nicht vom Sohn mit Armen und Kopf auf der Tischplatte gesehen werden. Die stinkende Karbidlampe mit ihrem kalten Licht hat er weit von sich geschoben, so dass sein Gesicht im Dunkel liegt. Er wartet wie die Mutter darauf, dass der Bruno endlich aus dem Bad kommt. Als drinnen etwas umgestoßen wird, erhebt sich die Großmutter, um dem Bruno das Bett aufzudecken. „Na endlich“, murmelt sie.

Da steht der Bruno auch schon in der Tür, das Handtuch hat er um die Lenden geschlungen. „Das Bad hat dir gefallen, Bruno, du hast dir viel Zeit gelassen. Das Wasser ist wohl kalt geworden“, sagt die Mutter und streckt die Hand nach ihm aus, als wollte sie ihn zu seinem Bett führen. Der Bruno bemerkt das nicht, er bleibt zwischen Küche und Flur stehen, weil er nichts sehen kann. „Wo seid ihr? Ihr habt es sehr dunkel.“

Die Mutter fasst nach seinem Arm. „Hier bin ich, Junge. Du musst ins Bett, wenn du dich nicht erkälten willst.“

„Nach dem, was ich hinter mir habe, Mutter, werde ich mich hier in der Wohnung nicht erkälten. Im Wasser war es so gemütlich, dass ich gleich eingeschlafen bin.“

Ja, das versteht die Mutter. Leise öffnet sie die Stube, in der ihr Bett steht und schüttelt noch einmal das Oberbett auf. Sie legt ihm ein Flanellhemd hin, das der Großvater an kühleren Tagen trägt. „Zieh das an, Bruno. Das ist wärmer als dein Soldatenhemd. Ein Nachthemd für dich habe ich nicht. Brauchst du noch eine Decke dazu? Es ist nicht warm hier.“

„Mutter, ich bin es schon lange nicht mehr gewohnt, in einem Bett zu schlafen. Ein Deckbett hatten wir nicht – uns hat der Himmel zugedeckt...“

„Mein armer Junge! Jetzt hat das Elend ein Ende, und alles wird besser.“ Wie gut, dass es dunkel ist und der Bruno nicht sehen kann, dass sie wieder weint. Ihr ist danach, ihn in die Arme zu nehmen, aber das würde er nicht verstehen. Um etwas zu sagen, brabbelt sie vor sich hin: „In dieser Ecke schlafe ich... Hier zieht’s nicht durchs vernagelte Fenster... Da drüben schläft der Vater... Du erinnerst dich? Der Vater braucht immer frische Luft, auch heute noch... Gute Nacht, mein Junge.“

„Gute Nacht, Mutter.“

Die Mutter ist noch einmal zu ihm gegangen und hat nachgesehen, ob er gut zugedeckt ist, dann hat sie sich ausgezogen. Wie gut sie sich in der Dunkelheit zurechtfindet, wundert sich der Bruno. Sie läuft sicher durch den Raum, ohne irgendwo anzustoßen. Bruno hört, wie sie vor dem Bett auf die Knie geht. An diesem Abend betet sie lange, und manchmal seufzt sie. Alt ist sie geworden, denkt er. Und ihr Bemuttern hat sie noch immer nicht abgelegt! Ob sie es mit der Ursula ebenso macht? Die war den ganzen Abend über einsilbig, geradezu abweisend und hat ihn nicht nach Reinhold gefragt, wie sie es sonst machte, wenn er auf Heimaturlaub kam.

Bruno hört, wie die Mutter ihre Gebete murmelt, wie sie sich mühsam erhebt und ins Bett legt. Und wieder seufzt und stöhnt sie, als hätte sie Schmerzen. Unter ihr knarrt die Bettstelle, aber was ist das schon! Er liegt warm und sicher und braucht sich nicht vor irgendwelchen Überraschungen oder gar Bedrohungen zu fürchten.

In der Nacht schrecken alle auf, weil der Bruno sich die Seele aus dem Leib schreit. Der Vater und die Ursula laufen in die Schlafstube, der Vater leuchtet mit einem seiner Pfeifenspäne – vor dem Bett liegt der Bruno auf dem Boden und sieht entgeistert um sich. Neben ihm kniet die Mutter, die ihn umklammert und zu beruhigen versucht.

„Er hat schlecht geträumt“, sagt sie, seinen Kopf streichelnd, den sie in ihrem Schoß liegen hat. „Ist das ein Wunder? Nach allem, was der Junge durchgemacht hat! Legt euch wieder hin, es ist nichts, nur ein schlechter Traum...“

„Du kannst einen aber auch erschrecken“, sagt Ursula. „So zu schreien, nur weil du schlecht geträumt hast! Ich dachte, dich hätte jemand überfallen.“

„Es ist das Bett“, meint Bruno. „In einem Bett kann ich nicht schlafen, so weich, so warm...“

„Ja, wo kannst du denn schlafen, Junge?“ Die Großmutter wirft ihren Zopf nach hinten, der dem Bruno ins Gesicht zu fallen droht.

„Auf dem Boden. Mutter, Vater, lasst mich auf dem Fußboden schlafen.“

Die Mutter beugt sich tief über ihn und meint: „Ja, bist du denn ein Hund? Auf dem Fußboden...“

Für jemanden, der Jahre auf dem blanken Boden gelegen habe, sogar auf gefrorenem Boden, für den sei ein Bett so ungewohnt wie für die Katze der zugefrorene Dorfteich, sagt der Vater. „Mutter, lass Bruno auf dem Boden schlafen. Es wird nicht lange dauern, und er wird von allein ins Bett steigen! Hier hast du das Kopfkissen, das Oberbett... Leg dich auf eine Decke, der Boden ist kalt. Und jetzt: Gute Nacht!“

„Gebt mir Zeit, ich muss es wieder lernen, normal zu leben. – Vater, mir wäre wohler, wenn du in deinem Bett…“

„Lass mal, Bruno. Da wo ich geschlafen habe, drüben am Tisch, da habe ich nicht so fürchterliches Zeug geträumt, wie du. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Vater.“

Der nächste Tag beginnt mit Dunst, als hätte es des Nachts geregnet. In der Frühe ist der Vater auf Tour gegangen, um nach Betten zu sehen. Er ist auch fündig geworden, und mit Brunos und Ursulas Hilfe kommen noch drei Bettstellen ins Haus, dazu eine Matratze.

„Wozu denn drei Betten?“ fragt die Großmutter. „Willst du ein Hotel aufmachen?“

„Na, weißt du, wer noch alles kommen kann?“

Die Großmutter wendet sich ab und lässt ergeben ihre Hand gegen die Hüfte klatschen. „Du hast immer zusammengehamstert, was zu hamstern war, du eigensinniger Dickschädel, du!“

„Oft hat sie zu nörgeln über das, was ich heranschaffe“, sagt der Vater zum Bruno. „Hinterher ist sie mir dankbar dafür. Aber glaube nicht, dass sie mir das auch nur ein Mal sagt!“ – und zur Großmutter gewandt: „Brunos Bett wird in unserer Schlafstube aufgestellt, die beiden anderen lagern wir erst einmal im Kaninchenzimmer.“

„Zu den beiden Betten fehlt noch etwas“, versucht die Großmutter abzulenken.

„Ja, ja, die Strohsäcke. Mutter, die kommen, wenn es so weit ist.“

Am späten Vormittag ist der Dunst verschwunden, und es sieht so aus, als würde es schwül, so dass die Großmutter in allen Räumen die Fenster geöffnet hat, um ein wenig Durchzug zu haben. Die Kinder sind auf der Straße, auch das Marlenchen, das beim Spielen wenig Ausdauer zeigt und meistens müde herumsitzt. Den Jungen hat die Großmutter verboten, in die Trümmer zu klettern. Das sei gefährlich, weil etwas einstürzen könnte. Um zu sehen, ob sie gehorchen, läuft sie hin und wieder auf den Balkon und sieht nach. Nein, sie beschäftigen sich vor der Tür und stapeln Steine auf.

Die Erwachsenen sitzen um den Tisch und trinken Kaffee, zu dem die Großmutter etwas Zucker spendiert. Sie hat nur Augen für Bruno, auch würde sie gerne ihre Hand auf seinen Arm legen, aber das wagt sie nicht, weil der Sohn sie deswegen aufziehen könnte.

Der Vater fragt: „Dann bist du gar nicht in Gefangenschaft gewesen, Bruno?“

Doch, doch, er sei in amerikanische Gefangenschaft gekommen, erzählt Bruno. Aber seine Geschichte habe, ganz anders als bei den Kameraden, eine gute Wendung genommen:

„Mein letzter Einsatz ist in Berlin gewesen. Wir sollten die Reichshauptstadt mit dem Führer vor der roten Flut aus dem Osten schützen. Alte Männer und junge Burschen, die besser den Konfirmandenanzug als die Uniform angezogen hätten, standen hilf-und ratlos unter Beschuss und rannten in die Trümmer und haben sich vor Angst die Hosen vollgeschissen, bis es schließlich hieß: Der Russe ist weit in Berlin vorgedrungen und kämpft sich zum Führerhauptquartier durch. Das bedeutete: Häuserkampf! Und alles, was noch laufen konnte, hat das einzig Vernünftige getan: Reißaus genommen! Nach Westen, nach Westen, das hatte sich in die Köpfe gebrannt! Jeder wollte sichergehen und ungefährlich aussehen, und das hieß, zuallererst Hitlers Siegerdrillich loszuwerden. Also wurden die Wohnungen nach Männerkleidung durchsucht. Und wer etwas fand, der zog es auf der Stelle an und gab Fersengeld. Nach Westen, so hämmerte es in unseren Köpfen.“ –

„Ja, wir kamen nach Westen“ erzählt Bruno weiter, „wir kamen auch über die Elbe und liefen dem glücklich in die Arme, von dem wir in die Arme genommen werden wollten: dem Amerikaner. Ja, der schien sich über die Sympathien zu freuen, die wir ihm entgegenbrachten. Er sammelte uns ein, schrieb auf, was wir ihm erzählten, sortierte, wer ihm verdächtig vorkam und sperrte uns wie eine Schafherde in ein Lager, so unvorstellbar groß, dass wir meinten, er würde uns über die ganze Erde verteilen wollen, um sie neu zu bevölkern. Wollte der Amerikaner die aufgegriffenen Soldaten loswerden? Gab es bei ihm Versorgungsprobleme? Oder hatte er ein Abkommen mit Stalin? Wer weiß es. Eines Tages hieß es dann: Marsch auf die LKWs, es geht weiter! Und wohin ging’s? Geradeswegs in die Arme des Iwan, vor dem wir davongelaufen waren. Im Lager ging das Gerücht, dass deutsche Soldaten, die vom Osten herübergekommen sind, an den Russen zurückgegeben werden. Ja, und so war es auch! Wagen für Wagen, vollgeladen mit deutschen Landsern, fuhr an die Elbe zurück. Der Traum von unserer Sicherheit war ausgeträumt.

Mich wollten sie in aller Herrgottsfrühe wegfahren. Es war ein kalter und dunkler Tag, mit tiefhängenden Wolken und leichtem Nieselregen. Wir fuhren nordwärts, und je näher wir der Elbe kamen, umso dunstiger und nebliger wurde es. Der Wagen holperte von einer Anhöhe, die voll Ginstergestrüpp war, das auch noch die ganze Ebene füllte. Da wagte ich es. Ich saß hinten auf dem Wagen an der offenen Klappe. Einmal sprang der Wagen, dass er umzukippen drohte und alle durcheinanderfielen. Und diesen Moment nutzte ich, um mich herausfallen zu lassen. Jemand schrie, ein Ami sprang vom Wagen und kam gelaufen, aber die Kolonne fuhr weiter. Und so sprang er auf den nächsten Wagen auf und fuhr davon. Eine Weile lag ich still und wartete, und als nichts geschah und ich mich sicher glaubte, rollte ich mich ins Ginstergestrüpp. Ich war gerettet. Ich habe die Elbe nicht noch einmal überqueren müssen. Sich von hier nach Westen durchzuschlagen, das war nicht leicht, ich musste ständig auf der Hut sein und mir den Gedanken zueigen machen: du oder ich! Und ihr seht, ich habe durchgehalten und gewonnen!“

„Du oder ich – das klingt nach: Wer seinen Finger zuerst am Abzug hat...“ Ursula wendet kein Auge vom Bruder. Es sieht aus, als suche sie etwas an ihm.

„Es klingt nur so, Schwester, denn ich besaß keine Waffe mehr. Und auch was davor geschehen ist: Meine Hände sind sauber geblieben.“ Er streckt ihr die Hände entgegen, dass sie sehen kann: Es klebt kein Blut daran.

Die Mutter richtet ihren Blick gegen die Stubendecke und flüstert, und dabei verhakt sie ihre Finger ineinander: „Gott sei Dank!“

„Ja, und jetzt bin ich bei euch und habe Angst, mich in ein Bett zu legen“, lacht Bruno. „So verrückt geht es auf der Welt zu. Was so ein Krieg alles anrichten kann! Ist er vorüber, dann zählen sie die Toten. Aber wer zählt die, die verletzt und verstümmelt weiterzuleben haben? Keiner. Ganz zu schweigen von den inneren Verletzungen, die kein Mensch sieht! Die Davongekommenen dürfen sich freuen und dankbar sein, dass sie ihr Leben retten konnten!“

Ursula fragt: „Ob Reinhold eine ähnliche Chance hat? Ihn haben sie auch an die Ostfront geschickt... Vielleicht hat er das machen können, was dir eingefallen ist, Bruno.“

Bruno bezweifelt das, aber er sagt: „Der Reinhold ist gewitzt. Ich bin überzeugt: Der wird die erstbeste Gelegenheit nutzen, um zu türmen, Urschel. Darauf sind die Schlaumeier ja alle aus!“

Ja, Ursula will das glauben und sie lächelt, um zu zeigen, dass sie voller Zuversicht ist. Der Vater, der die ganze Zeit geschwiegen hat, meint: „Wir sollten das Kaninchenzimmer für dich herrichten, Bruno. Du brauchst einen eigenen Platz. Den Karnickeln werde ich eine Bleibe auf dem Balkon bauen. Dann stinkt es auch nicht mehr in der Wohnung.“

„Auf dem Balkon?“ ruft die Großmutter. „Auch im Winter sollen die armen Tiere draußen in der Kälte bleiben? Wir haben manche Nacht noch leichten Frost!“

„Und wie ist das mit den wilden Kaninchen?“ fragt die Tochter.

„Ach, das sind eben wilde“, antwortet die Großmutter. „Die kennen es nicht besser.“

Der Vater hat mit dem Herrichten des Zimmers für Bruno nicht lange gewartet. Aus einem der halbzerstörten Häuser hat er Fußbodenbretter herausgerissen und den Boden des Kaninchenzimmers ausgebessert. Der lange Riss, der in der Wand dieses Zimmers klaffte, wurde vorerst mit Lappen zugestopft. Er werde ihn zuschmieren, wenn er dafür Material bekomme, sagte er. Als Unterlage für Brunos Bett haben die beiden Frauen Säcke zusammengenäht und mit Stroh gefüllt, das der Vater aus dem Pferdestall des Kohlenhändlers geholt hat.

„Geholt, Vater?“ fragt die Tochter belustigt.

„Ja, geholt! Die beiden Pferde haben nichts dagegen einzuwenden gehabt. Ich habe ihnen gesagt, dass es für den Bruno ist!“

In den nächsten Tagen hat sich der Bruno, wie es verlangt wird, bei den Behörden zurückgemeldet, und die schickten ihn umgehend zum Gesundheitsamt, dass er untersucht, entlaust und von der Krätze befreit würde, wenn er welche hätte.

951,98 ₽
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600 стр.
ISBN:
9783844246193
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