Читать книгу: «Bürgerwache», страница 2

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Ezgi trat einen Schritt zurück und vergewisserte sich mit einem Blick, dass ihr Freund klarkam.

»Scho recht, bisch mei Kumbel«, versicherte Tobi und tätschelte Lars die Wange.

»Des wor scho scheiße von dir, weisch, aber ich hab’s dir verziehen!«, versicherte Lars.

»Was meint er denn?«, wollte Ezgi wissen.

Tobi winkte ab. »Ach. Alte Geschichte. Vergiss es.«

»Willsch a Kippe?«, bot Lars an und nestelte in seiner Hosentasche herum. Es waren die guten, selbst gedrehten, ganz speziellen, das wusste Tobi.

»Heut net, Lars. Und du lässt das besser auch.«

»Jaja, net, dass mir des noch amol bassiert, gell!«, grinste Lars und hob gespielt mahnend den Zeigefinger. Er steckte die Zigarette wieder ein und wankte davon.

»Was war denn da los?«, erkundigte sich Ezgi noch einmal.

»Wie meinsch?«, fragte Tobi zurück.

»Was hat er denn gemeint?«, insistierte sie. »Komm, sag!«

Aber Tobias winkte in einer Art ab, die klarmachte, dass er nicht darüber reden würde.

Und Ezgi kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das unumstößlich war.

Parkfestsonntag

André Hellmer stand vor dem Spiegel. Er hatte sich extra einen lebensgroßen gekauft, damit er sich ganz betrachten konnte. So einen hatte er schon immer gehabt, auch vorher. Es gab vorher und nachher, ganz klar, das würde es immer geben. Seit einem halben Jahr war er jetzt ein ganzer Mann, auch körperlich. Es war eine harte Zeit gewesen.

Schon immer hatte Andrea, wie er früher geheißen hatte, gewusst, dass etwas mit »ihr« nicht gestimmt hatte. Dass »sie« anders gewesen war als die anderen Mädchen. »Sie« war nie eine von ihnen gewesen, gefühlt. »Sie« hatte sich schon immer besser mit den Jungs verstanden, sich »Cars« und »Transformers« statt Disneys »Eiskönigin« angeschaut. In der Pubertät hatte »sie« sich die Haare raspelkurz geschnitten und war in Schlabberpullis und weiten Hosen herumgelaufen. Schnell hatte »sie« in der Schule »ihren« Stand gehabt, und erstaunlicherweise hatten die meisten »sie« so akzeptiert, wie »sie« eben war. Der Tobi war ihr da immer eine große Hilfe gewesen, schon damals auf der Realschule, und er hatte denjenigen, die »sie« dumm angemacht hatten, Schläge angedroht oder ihnen wirklich mal die Fresse poliert. Denn dazu war »sie« tatsächlich selbst zu schwach gewesen – körperlich hatte »sie« nicht mithalten können mit den Jungs. Und deshalb war »sie« dem Tobi immer dankbar gewesen, nur einmal, neulich, da hatte er sich echt was geleistet, das ging gar nicht. Aber egal.

André war eher klein, mit nicht allzu breiten Schultern. Aber das würde sich jetzt ändern, er nahm fleißig seine Hormone. Nach und nach, seit seinem endgültigen Entschluss vor drei Jahren. Er hatte beobachtet, wie seine Stimme tiefer geworden war, wie ein Bart zu sprossen begonnen hatte, den er hegte und pflegte, bis er ein perfekt getrimmter Vollbart war. Die Brüste waren kleiner geworden, und dann hatte er die finalen Operationen machen lassen. Und er war froh darum, denn seither war er, was »sie« schon immer hatte sein wollen – ein Mann. Nicht mehr Andrea, sondern André. André drehte sich zur Seite und strich über die Uniform, die perfekt saß und wirklich, wirklich gut aussah. Männlich! Er setzte den Federhelm auf, die roten Federn wallten in einem fließenden Busch über sein dunkles Haar, bildeten einen hübschen Kontrast. Wieder drehte er sich frontal. Gut sah er aus, so konnte er gehen, so konnte er sich mit den anderen treffen, mit ihnen mithalten.

Simone Reißig war noch im Bett. Sie liebte es, sonntags ewig lang liegen zu bleiben. Tobi schlief immer bei ihr. Auf ihren Füßen, um genau zu sein. Und er schlief immer so lange, bis sie aufwachte und sich bewegte. Dann erhob er sich, streckte sich und wanderte die Bettdecke nach oben, um ihr Ohr abzulecken. Simone kicherte meistens ein bisschen und streichelte dem Kater, der eigentlich Felix hieß, über den Kopf. Das Tier schmiegte sich in ihre Hand, der Schädel passte genau in die Höhlung. Simone hatte Felix nach der Trennung umbenannt in »Tobi«, denn auf diese Weise konnte sie immer noch seinen Namen sagen.

Tobi sprang mit einem Satz vom Bett, um in der Küche etwas zu trinken. Etwas enttäuscht drehte sich Simone wieder um, angelte nach ihrem Handy und tat, was sie jeden Morgen tat: ihre letzte Nachricht erneut schicken und nachsehen, ob sie diesmal ankam. Denn die Nachrichten kamen nicht mehr an, seitdem er sie blockiert hatte. Das machte sie wütend, ein bisschen. Ach was, unglaublich wütend. Was fiel dem ein! Er hatte sich anzuhören, was sie ihm zu sagen hatte, das war nur fair. Er hatte ihr jedes Gespräch verweigert. Das war nicht in Ordnung. Es fraß sie auf. Sie konnte nichts anderes mehr denken als … ach. Sie wechselte zu Clix-Mix und scrollte die Belanglosigkeiten durch, die ihre »Freunde« gepostet hatten. Schönen Sonntag, dazu ein Bild von einem knuffigen, debil treudoof dreinblickenden Bärchen mit Herzchen. Habe soeben einen Kuchen gebacken, lautete ein Post, der 67 Likes bekommen hatte. Bin total glücklich mit meinem … – schnell scrollte sie weiter. Like, wenn du mich magst, bat eine Freundin, und sie scrollte weiter, ohne zu liken. Lecker Low-Carb-Frühstück, warb ein Kerl, den sie seit Neuestem auf der Freundesliste hatte, den sie aber im Verdacht hatte, dass er ihr nur irgendwelche Abnehmpülverchen andrehen wollte. Nächster Post: Klicke auf deine Geburtsnuss, und wir verraten dir, was für ein Liebestyp du bist. Simones Mund verzog sich zu einem freudlosen Grinsen. Aha, die Geburtsnuss! Das wurde ja immer abstruser. Sie betrachtete das Bild: Es gab die Haselnuss, die Macadamianuss, die Erdnuss, die Pekannuss, die Cashewnuss, die Walnuss, die Edelkastanie, die Hanfnuss, die Steinnuss, die Wassernuss, die Eichel und die Buchecker. Als im März Geborene war sie die Erdnuss, die sie nicht einmal mochte, war ja klar. Simone klickte trotzdem auf die Erdnuss. Loggte sich wie gewohnt auf der Seite ein, und es war ihr egal, dass dabei womöglich dubiose Marktforscher all ihre Daten abzogen. Simone, du bist ein liebevoller und gütiger Mensch. Allerdings kann es vorkommen, dass du deinen Partner mit deiner Liebe erdrückst. Die Menschen kommen nicht mit der Gewalt deiner Liebe klar. Lerne deshalb, loszulassen, wenn dich jemand zurückstößt. Es wird bald jemand kommen, der deine Liebe will und auch verdient. Simone schluckte. Verdient! Und will! Sie warf das Handy mit einer schnellen Bewegung in das Wasserglas, das auf ihrem Nachttischchen stand. Es machte eigentlich nichts aus, denn das Gerät war wasserdicht. Und trotzdem verschaffte es ihr Genugtuung. Dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf, um Tobi zu füttern.

Die Johanneskirche war eines der ältesten Gebäude Crailsheims. Das große, für eine mehrheitlich gotische Kirche sehr schwer wirkende Bauwerk stand wirklich mitten in der Stadt und war nachgerade unspektakulär in ein Grundstück der Fußgängerzone eingebettet. Vielmehr musste man eigentlich sagen, dass die Fußgängerzone um die Kirche herumgebaut worden war, denn der erste Bauabschnitt des Gotteshauses war bereits 1398 begonnen worden. Stand man vor der Kirche, so empfand man sie als würdiges, mächtiges Gebäude. Durch schwere Holztüren waren an diesem Sonntag die Gläubigen hereingeströmt, deutlich mehr als sonst. Denn es handelte sich am Parkfestsonntag nicht nur um die übliche Gemeinde, sondern auch noch um die Mitglieder der Bürgerwache und ihre Familien, zudem um die Mitglieder der jeweiligen Abordnungen befreundeter Bürgerwehren. All diese Menschen füllten die hölzernen Bänke der drei Kirchenschiffe, sodass eine durchaus beachtliche Gemeinde zusammenkam. Neben dem Altar hatten sich die Fahnenträger aller Bürgerwachen aufgestellt. Der Fahnenträger wurde jeweils von zwei Fahnenbegleitern und teilweise von einem Kommandanten flankiert.

Pfarrer Langsam, ein großer, hagerer Mann mit grauer Stoppelfrisur und Brille, stand in seinem Talar auf der Kanzel und hatte zunächst die Abordnungen der Bürgergarde Esslingen, der Haller Sieder, der Bürgerwache Ehingen, der Bürgerwehr Schwabach, der Bürgerwehr Lauchheim, des Historischen Schützencorps Bad Mergentheim, der Bürgergarde Ellwangen und der Bürgergarde Hüttlingen begrüßt. Proppenvoll war der Altarraum, was für die meisten Gläubigen ungewohnt war. Dann hatte Pfarrer Langsam eine Bibelstelle verlesen. »Johannes der Täufer hörte im Gefängnis vom Wirken des Messias und schickte einige seiner Jünger zu ihm. Er ließ ihn fragen: ›Bist du wirklich der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?‹«, zitierte er gerade noch einmal. »Liebe Gemeinde«, machte er weiter, und seine Stimme hallte von der hohen Kirchendecke wider. »Lasst Jesus sein, wie er sein möchte! Er ist ein lieber, ein gütiger Jesus, der die Menschen liebt! Er ist womöglich moderner, als wir denken. Er lässt sich nicht in spießige Muster pressen. Er war ein Vorreiter, ein Pionier! Jesus …«

»Es reicht!«, kam eine Stimme aus der Gemeinde.

Der Pfarrer suchte irritiert nach dem Störenfried, sein Blick schweifte unsicher umher, streifte den einen oder anderen. Dann beschloss er offensichtlich, einfach weiterzupredigen.

»Jesus ist …«

»Jesus!«, rief es wieder aus der Gemeinde, und diesmal sprang der Rufer auf.

Alle Augen wandten sich ihm zu, es war ein kleiner, schmächtiger Mann mit dunklem, strähnigem Haupthaar. Einige verdrehten die Augen, denn den Zwischenrufer kannte man schon.

»Paul. Bitte!«, tadelte der Pfarrer mit mildem Lächeln.

»Hogg dii nou und halt dei Gosch«, befahl der Banknachbar des Angesprochenen und fasste ihn am Arm.

Paul machte sich brüsk los und trat aus der Bank heraus. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, proklamierte er.

Pfarrer Langsam verdrehte nur innerlich die Augen, noch hatte er sich gut im Griff. Auch Paul war eines seiner Schäfchen, auch der.

»Jesus hätte euch Kriegsgeschmeiß aus dem Tempel geworfen! So, wie er die Händler rausgeworfen hat. Denn mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht!«

»Hier wird keiner ermordet, mein lieber Paul«, berichtigte der Pfarrer von der Kanzel herab, »und jetzt setz dich bitte wieder.«

Paul dachte kurz nach, schüttelte dann trotzig den Kopf und marschierte nach vorne, wo er Anstalten machte, die Fahnen und Standarten der Abordnungen umzurangeln. Er visierte den Schellenbaumträger der Bürgerwache an, der während des ganzen Gottesdienstes schon unbeweglich hinter seinem riesenhaften Instrument stand, die weiß behandschuhten Hände auf den silbernen Metallhörnern abgelegt.

Tobias Baumann fixierte den Angriffslustigen, überlegte wohl gerade, wie ihm beizukommen sei, und die Mitglieder der entsprechenden Bürgerwehren tauschten unsichere Blicke, denn man konnte ja in der Kirche kaum eine handfeste Schlägerei anfangen.

»Paul!«, gellte es in diesem Moment von der Kanzel. »Bitte benimm dich. Wir sind alle Brüder im Geiste!« Pfarrer Langsam eilte die Stufen der Kanzel hinunter, lief zu dem Übereifrigen und baute sich zwischen ihm und den Standarten auf. »Setz dich wieder hin, Bruder. Bitte! Störe den heiligen Gottesdienst nicht.«

Paul schluckte, die Autorität des Pfarrers schien zu wirken, zumindest im ersten Moment. Nach einer Schrecksekunde jedoch breitete er die Arme aus, als wären es Engelsflügel, und mit in Richtung der Fahnen ausgestreckten Zeigefingern rief er: »Eine Mördergrube! Habt keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis!« Er drehte sich um, schritt durch die Reihen und verließ hocherhobenen Hauptes das Gotteshaus, begleitet vom zischenden Gemurmel der Gemeinde.

Und Pfarrer Langsam erklomm wieder die Kanzel und ließ in die Predigt einfließen, dass der gute Bruder Paul das noch lernen müsse, dass die Dinge manchmal anders lägen, als er geglaubt habe, und dass auch Jesus manchmal eben ein anderer sei. Aber er fügte noch hinzu, dass der Paul in vielen Dingen auch ein Vorbild sei. »Und nun, lasset uns beten«, schloss er seine Predigt, und Christian Blumenstock ließ ein zackiges »Helm ab zum Gebet!« durch den Kirchenraum schallen, dem alle Mitglieder der anwesenden Bürgerwehren augenblicklich Folge leisteten.

Helles Sonnenlicht fiel durch die Wipfel der Bäume und malte gelbgrüne Flecken auf die Wiese des Spitalparks. Die Luft hatte noch Spuren jener morgendlichen Restkühle, die verhießen, dass es ein schöner, klarer Sommertag werden würde.

»Ein ganz tolles Kleid hast du da an, Lisa!«, lobte Doris, Heikos Mutter.

Lisa lächelte und bedankte sich.

»Gell, Werner?«, fuhr Doris fort und versetzte ihrem Mann einen kleinen Klaps auf den Oberarm.

Heikos Vater brummte. »Ja, gut!«, meinte er dann, was wohl höchstes Lob oder auch Gleichgültigkeit beziehungsweise irgendwas dazwischen ausdrücken sollte.

»Heiko, du kannst wirklich froh sein, dass du so eine hübsche Freundin hast! Sicherlich sind ganz viele andere Kerle hinter ihr her, pass bloß auf, dass die dir nicht ausgespannt wird!«, frotzelte Doris, und Heiko sparte sich eine Antwort. Seine Mutter lag ihm beständig in den Ohren, dass er der Lisa endlich einen Antrag machen sollte. Dabei war er erstens noch nicht einmal vierzig. Zweitens war Heiraten grundsätzlich ungut. Und drittens brauchte man doch keinen Trauschein, um glücklich zu sein. Aber Lisa sah heute schon besonders gut aus, das musste Heiko zugeben. Sie trug ein Kleid, das obenrum eng war und unten weiter. Rot mit weißen Punkten. Ihre Haare waren offen, und sie hatte einen roten Lippenstift aufgetragen.

»Du weißt, dass ich in diesem Leben noch Enkel will!«, maulte Doris und wurde damit konkreter.

»Ruhe jetzt!«, befahl Werner, »Nicht schon wieder dieses Thema!«

Er und Heiko grinsten sich verschwörerisch zu, und Lisa tat, als hätte sie nichts gehört.

»So, jetzt holen wir uns erst mal ein Bier«, beschloss Heiko.

»Für mich eine Apfelschorle, bitte«, bestellte Lisa, und Doris schloss sich ihr an.

»So frühmorgens muss man sich nicht besaufen«, tadelte sie.

Heiko grinste entwaffnend. »Ach. Ist ja nicht andauernd. Nur am Parkfest.«

»Wie süß«, fand Doris und wies auf die Bühne, wo kleine Mädchen in rosafarbenen Tutus elegant auf Zehenspitzen Ballett tanzten. »Da, so eine hätte ich auch gern, eine Enkelin, oder einen Jungen, mir egal«, fuhr Doris fort.

»Bisch etz ruich«, zischte Werner.

Lisa folgte Doris’ Blick zur Bühne. Soeben verbeugten sich die kleinen Tänzerinnen elegant und senkten dabei ihre Köpfchen, auf denen große und kleinere Dutts wie Kronen saßen.

»Wirklich niedlich«, pflichtete sie bei und schenkte Doris ein undeutbares Lächeln.

Svetlana Blumenstock stand in der Schlange vor dem Eisstand und entdeckte Ezgi hinter sich, die Frau von Tobi Baumann.

»Na, auch Lust auf ein Eis?«, begann sie im Small-Talk-Modus und strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden Haares aus dem Gesicht. Ezgi sah gut aus in ihrer Uniform. Die Frau des Kommandanten musterte die junge Türkin, die eine der wenigen Frauen in der Kompanie war. Das dunkle, perfekt glatte Haar. Das hübsche Gesicht mit den braunen Augen und den vollen Lippen. Die schöne Figur, den ziemlich flachen Bauch. »Kein Wunder, bei dem Wetter«, fuhr sie fort.

Ezgi lächelte. »Ja, es ist verdammt heiß, ich tu nach dem Auftritt auch die Jacke runter.«

»Da bin ich froh, dass ich heute nicht so rumlaufen muss«, versetzte Svetlana.

»Für Sie?«, erklang eine Stimme vor ihr aus dem Wagen des »Bauernhofeises« von Familie Lang.

»Erdbeer und Vanille, bitte«, bestellte Svetlana mit einem strahlenden Lächeln. Darauf hatte sie wirklich, wirklich Lust, und das war wunderbar sommerlich.

»Hi, Tobi«, grüßte Barbara und schnalzte anerkennend mit der Zunge.

»Hey, Babsi!«, grinste Tobias und zwinkerte ihr schelmisch zu.

»Na, alles okay?«, fragte sie und ließ sich neben ihn auf die Bierbank fallen, sehr nahe, unnötig nahe, denn eigentlich war die Bank ansonsten leer. Das war nicht so schlimm, denn Ezgi war gerade ein Eis kaufen gegangen und würde davon nichts merken.

Babsi brachte ihre vollen Lippen an Tobis Ohr und wisperte: »Du siehst heute so scharf aus, ich steh total auf dich!«

Tobi schluckte, wobei sein Adamsapfel energisch hüpfte. »Sou«, machte er, das konnte ja Gott sei Dank alles bedeuten.

Babsi blickte sich verstohlen um und ließ dann ihre rechte Hand wie zufällig seinen Oberschenkel entlanggleiten. »Ich steh voll auf deine Uniform … Herr Wachtmeister«, fuhr sie grinsend fort und setzte gurrend hinzu: »Ich hätte so Bock drauf, jetzt mit dir im Musikkämmerle eine Nummer zu schieben.«

»Babsi!«, entfuhr es Tobias Baumann. Nun, die Idee war ja grundsätzlich gut, denn die Babsi mit ihrem frechen roten Bob, ihrer milchweißen Haut, ihren katzengrünen Augen und der perfekten Figur war definitiv eine Erscheinung. Aber da hätte wohl die Ezgi was dagegen, und er ja eigentlich auch, denn er liebte die Ezgi schon, und die Babsi war ja …

»Da bist du, Babsi! Ich hab dich gesucht!«, tönte es in diesem Augenblick von hinten.

Tobi Baumann brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, um wen es sich handelte – es war Max Steller, Babsis Freund. Unauffällig zog die Babsi ihre Hand zurück, und Tobi hoffte inständig, dass der Max das nicht gesehen hatte.

Ein Grinsen stahl sich auf ihre pinkfarben geschminkten Lippen, bevor sie sich umdrehte und flötete: »Max, mein Held!« Sie stand auf, schlang die Arme um seinen massigen, muskulösen Körper und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Tobi fasste sich salutierend an die Stirn, und Max erwiderte den Gruß, allerdings ohne ein Lächeln.

Bernd Seiler hielt sich an seinem Hefeweizen fest. Es war Crailsheimer Engel-Bräu, absolut widerlich und kein Vergleich zum Haller Löwenbräu. Immerhin war es Bier, technisch gesehen, und das hatte er heute bitter nötig. Denn er war ausgewählt worden für die Parkfest-Abordnung der Haller Sieder. Das konnte man sich bloß schönsaufen. Wenigstens war Timo mitgekommen, sein Kumpel, der gar nicht bei den Siedern war und jetzt bei der Siedersabordnung am Tisch saß. Aus Solidarität. Er musste jedoch in einer Stunde wieder gehen, Familientreffen in Hessental. Also total lieb von dem, eigentlich. Solidarisch. Und er wäre ihm wirklich dankbar gewesen, wenn es nicht seit einigen Wochen ein Problem zwischen ihnen gegeben hätte. Ein Problem, von dem der Timo womöglich gar nichts wusste, weil er so unsensibel wie ein Mammut war. Der Timo war nämlich seit Anfang Juli mit der Tina zusammen, und die saß jetzt auch dabei. Bei den insgesamt drei Siedern, auf der Bierbank vor dieser seltsamen improvisierten Bühne, von wo aus gleich das ganztägig ablaufende und überaus nervtötende Uff-tata losgehen würde. Bernd nahm einen Schluck Bier und wischte sich mit dem Ärmel der Siederskleidung über den Mund, weil ihm Schaum an der Oberlippe kleben geblieben war.

Die Tina. Die Tina hatte so getan, als hätte sie gar nicht bemerkt, dass er sie auch gut gefunden hatte, und sich für den Timo entschieden. Der hatte noch alle Haare und wirkte in allen Dingen deutlich dynamischer. Außerdem arbeitete er nicht bloß als kleiner Beamter bei der Stadt, sondern war aufstrebender Junior-Chef in einer Haller Firma. Der Timo kann nichts dafür, sagte Bernd sich, es ist unfair, wenn du einen Hass auf ihn hast. Immerhin sind sie mitgekommen aufs Parkfest. Und wir sind Freunde seit der Grundschule. Er würde sich damit abfinden müssen, dass die beiden zusammen waren. Tina und Timo, hörte sich doch super an, fast wie Tina und Tini. Würde sich ausnehmend gut machen auf Hochzeitseinladungen.

»Die Horaffen haben’s echt nicht drauf«, meinte Tina gerade, wohl, um ihn irgendwie aufzuheitern. Womöglich merkte sie doch, was Sache war, klar merkte sie das. Alle Frauen wussten, wer hinter ihnen her war, insgeheim. Und die meisten hielten sich ihre Verehrer warm, denn die waren gut fürs Ego. Eine Gemeinheit eigentlich. Aber die war auch nicht wirklich schuld, die Tina.

Bernd zwang sich zu einem Grinsen, nickte und trank noch einen Schluck.

In Bernds Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass irgendwie das dumme Geschwätz von dem Horaffen auf dem Kuchen- und Brunnenfest eine Rolle gespielt hatte. Dort saß der Gedanke, blieb da, ging nicht mehr weg. Niemals würde er vergessen, wie die Tina damals fein gelächelt hatte, so unmerklich irgendwie. Aber dennoch – das Lächeln war da gewesen. Sie hatte das alles ganz witzig gefunden. Zumindest unbewusst. Und vielleicht darüber nachgedacht und das dann vielleicht genauso gesehen. Dass er ein bedauernswerter, dicklicher Kerl war, der noch bei seiner Mutter wohnte und es im Bett nicht draufhatte.

Längst hatte er ihn entdeckt in der Menge. Er trug Uniform, und an seinem Arm hing gerade eine hübsche uniformierte Schwarzhaarige, die der Tina gar nicht so unähnlich war, rein von der Optik her. Bernd Seiler hob das Bierglas und trank die Hälfte, die noch übrig war, in einem Zug aus. Der Baumanns Tobi hatte sich den Falschen zum Verarschen ausgesucht. Der würde das noch bereuen.

Ezgi blickte sich suchend um, ihre Eiswaffel in der Hand. Der Tobi hatte sich schon mal hinsetzen wollen, um einen Platz für sie beide zu suchen. Wo war er denn jetzt? Ach, dahinten, da saß er, in der Nähe des »Weinstandes«, landläufig als »Bar« bezeichnet, an dem außer Wein Spirituosen aller Art ausgeschenkt wurden. Sie rückte ihre Uniformjacke zurecht, es war unglaublich heiß. Sobald es ginge, würde sie das Teil ausziehen. Den Helm mit den grün gefärbten Gänsefedern hatte sie bereits abgenommen und trug ihn lässig unter dem linken Arm, in der Rechten hielt sie ihre Eiswaffel. Sie steuerte auf ihren Tobi zu, bei dem Freddy mit seiner Freundin Kathrin Platz genommen hatte – soweit Ezgi wusste, waren die beiden noch nicht allzu lange zusammen. Ezgi musste sich zu einem Grinsen zwingen, Kathrin war eine blöde, überkandidelte Tussi. Aber was soll’s, für Small Talk würde es ausreichen. Sie ließ sich auf der Bank nieder, küsste ihren Tobias flüchtig und lächelte den beiden anderen so freundlich wie möglich zu.

»Traumhaftes Wetter, nicht?«, begann sie und leckte an ihrem Eis – Schokolade und Pfirsich.

»Ja, total«, freute sich die goldblonde, blauäugige Kathrin und wunderte sich augenblicklich: »Ach, du bist in der Kompanie?«

Ezgis Lächeln verkrampfte. »Ja. Warum nicht?«

Kathrin druckste herum, bevor sie hervorbrachte: »Dürfen Frauen das auch?«

Fred lachte dröhnend und ließ eine seiner Pranken auf Ezgis linke Schulter niedersausen. »Die Ezgi war eines unserer ersten Flintenweiber. Und eine Trefferquote hat die, das sag ich dir, besser als jeder Kerl!«

Ezgi schnalzte mit der Zunge und sandte Fred einen tadelnden, aber augenzwinkernden Blick, bevor sie Kathrin aufklärte: »Frauen dürfen auch zur Kompanie. Wieso denn auch nicht?«

»Und das macht dir Spaß, diese Ballerei? Und wie heißt du noch mal?«, fragte Kathrin zurück und nippte elegant an einem Glas Weißwein, das vor ihr stand und schon beinahe leer war.

Ezgi leckte Eis, bevor sie antwortete. »Ezgi. Das ist ein türkischer Name. Und weißt du was? Klar macht mir das Spaß, wir Dschihadisten bringen gern Leute um die Ecke, das weißt du doch!«

»So hab ich das doch gar nicht …«, begann Kathrin.

Ezgi besann sich. »Entschuldige. Ich bin da ein bisschen ein gebranntes Kind, das musst du verstehen. Und ziemlich empfindlich. Crailsheim ist meine Heimatstadt, und ich finde es wichtig, die Traditionen zu erhalten. Und da ich leider total unmusikalisch bin und auch zu ungeschickt für die Majoretten, bin ich eben in die Kompanie eingetreten.«

Tobias Baumann erhob sich. Er spürte die Halbe. Verdammt, er wurde alt. Früher hätte er die locker weggesteckt. Er war vernünftig, eine, nicht mehr, und dazu ein Gulasch, das brachte ja auch was beim Nüchternbleiben. Eine war die Obergrenze, denn immerhin musste er noch den Schellenbaum tragen. In 20 Minuten war sein Zug dran, es war an der Zeit, sein Instrument zu holen. Ganz schön schwer war das Teil, aber er war ja kräftig.

»Bis nachher«, raunte er, drückte seiner Ezgi einen Kuss auf die Wange und nickte den anderen grüßend zu.

Dann kletterte er aus der Bank und wandte sich links von der Bühne am Bauernhofeisstand vorbei zu den Gebäuden der VHS. Hier, in einer kleinen Kammer, lagerte der Schellenbaum, wohlverschlossen. Tobias ging die paar Schritte zum Gebäude, steckte den Schlüssel ins Schloss und wunderte sich kurz, dass das Aufschließen nicht wie gewohnt funktionierte, irgendwas blockierte das Schloss. Schließlich wurde ihm klar, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war – komisch. Mit gerunzelter Stirn drückte er die Klinke herunter und tastete nach dem Lichtschalter. Ein elektrisches Summen ertönte, die Leuchtstoffröhren flackerten und das Licht ging an. Puh, gut, es sah nicht so aus, als würde etwas fehlen. Glück gehabt. Er würde nachher dem Kommandanten melden, dass nicht abgeschlossen gewesen war, so was war nachlässig und durfte sich nicht wiederholen. Dahinten an der Wand stand der zwei Meter hohe Schellenbaum, in einem kühlen Silberton leuchtete er im Licht der Glühlampen. Perfekt poliert war das Metall. Ein goldener Adler breitete schützend die Flügel über die gelb-schwarze Schellenbaumfahne mit der Aufschrift »Bürgerwache Crailsheim« und dem Wappen der Stadt aus. Vier goldene Adlerköpfe waren an den Enden der beiden metallenen Schwingen befestigt, an denen die Glöckchen und silbernen sechszackigen Sterne befestigt waren. In der Mitte prangte ein sonnenartiges Emblem, das von den Mitgliedern der Bürgerwache scherzhaft »Monstranz« genannt wurde. Und von den Schnäbeln der Adler hingen vier Rosshaarschweife in den Stadtfarben Gelb und Schwarz herunter. Tobias Baumann trat zu seinem Instrument. Er zog sich die Uniformjacke zurecht, entfernte ein Stäubchen auf seinem Revers und bewunderte kurz das Rosshaar. Sanft ließ er die feinen Haare durch seine Finger gleiten. Dann fasste er den Schellenbaum mit beiden Händen am Stab.

Im selben Moment durchfuhr Starkstrom seinen Körper. Der Schellenbaumträger war außerstande, den Schellenbaum loszulassen, auch wenn das der einzige, verzweifelte Gedanke war, der sein Hirn durchzuckte, immer und immer wieder, erfolglos. Seine Muskeln waren verkrampft, er war nicht in der Lage, sich zu rühren. Stattdessen wurde sein Körper in unkontrollierten Zuckungen geschüttelt. Ihm war so heiß, so unglaublich heiß, er fürchtete, dass er kochte. Womöglich kochte er auch, sein Blut, sein Hirn siedete, ach was, konnte das sein? War das möglich? Er wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Sein Blick wurde trüb. Die Augäpfel traten hervor, geweitet, entsetzt. Ein letztes Mal setzte er all seine Willenskraft ein, um das verdammte Ding loszulassen, vergeblich. Es war das Letzte, was er in seinem Leben in Angriff nahm. Sein Kreislauf kapitulierte, und sein Herz hörte von einer Sekunde auf die andere auf zu schlagen. Noch kurz verharrte sein Körper in aufrechter Haltung, dann fiel er zusammen mit dem Schellenbaum, der ihn getötet hatte, wie ein Brett nach hinten um, und das Klingeln der Glöckchen wäre ohrenbetäubend gewesen, wenn draußen nicht gerade der Musikzug die Himmelfahrts-Polka gespielt hätte.

»Seid ihr komplett?«, fragte Christian in die Runde und ließ den Blick über den Spielmannszug schweifen. Gleich würde nach dem Kinder-Nachwuchsballett der Musikzug fertig gespielt haben, dann wäre der Spielmannszug dran.

»Der Schellenbaum fehlt«, stellte der Tambourmajor fest, und Christian starrte entgeistert auf das vordere Ende des Zuges. Natürlich! Wie hatte ihm das entgehen können!

»Wo ist denn der Tobi? Ich hab ihn doch vorhin gesehen?«

Allgemeines Achselzucken, dann meinte einer: »Der ist vorhin in Richtung Kämmerle gelaufen.«

Applaus brandete auf für den Musikzug.

»Wir sind jetzt dran!«, zischte irgendjemand, und Christian hörte erstarrt, wie Walter Lilienfelder, der in diesem Jahr noch einmal als Moderator fungierte, den Spielmannszug ankündigte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Truppe ohne den Schellenbaum auftreten zu lassen. Aber nein, das ging nicht. Das brächte alles durcheinander.

»Das geht nicht«, sagte er laut zu Philipp, dem Zugführer, der wie ein Mondkalb dastand und offenbar nicht vorhatte, irgendwie tätig zu werden. Christian Blumenstock setzte sich in Bewegung, in Richtung des VHS-Kämmerles. Köpfe drehten sich nach ihm um, kaum dass er die Kameraden passiert hatte. Gleichzeitig zeichnete sich Sorge auf dem hageren Gesicht ab. Dem Tobi würde doch nichts passiert sein?

»Vielleicht ist ihm schlecht geworden«, vermutete jemand, an dem er vorbeikam.

Ja. Vielleicht. Christian beschleunigte seinen Schritt. Das sah dem Tobi nicht ähnlich, so gar nicht! Der war nervig, intrigant, oft einfach nur doof und manchmal ein Hallodri, aber in solchen Dingen absolut zuverlässig. Auf der Bühne war es ruhig geworden, das Publikum, das oft sowieso nur mit halbem Ohr zuhörte, würde noch für kurze Zeit mit sich selbst und seinen Gesprächen zufrieden sein.

»Der Spielmannszug!«, wiederholte Walter nun durch das Mikrofon, das war nicht so schlau, wäre er doch bloß ruhig.

Christian stand vor der Tür und fand sie halb offen stehend vor.

»Wenn der Spielmannszug jetzt aufmarschieren könnte … Hallo, Christian?«, beharrte die Stimme aus dem Lautsprecher.

Christian schluckte und öffnete die Tür vollends. Das Licht war an. Und er sah im selben Moment, was los war. Er schlug die Hand vor den Mund und trat einen Schritt auf die stocksteif daliegende Leiche zu, die unter dem Schellenbaum begraben war. Er streckte die Hand aus, wurde aber von einem »Nicht anfassen!« von der Tür her zurückgehalten.

Er drehte sich um, es war Freddy. »Der hat sei Beet­le nausgschort«, konstatierte der Kamerad trocken und nahm seine Kopfbedeckung ab.

»Hä?«, machte Christian vollkommen perplex.

»Der is hie«, übersetzte Freddy seine Metapher. »Doa kousch nix mehr macha. Ii hobb im Publikum an Bulla gseecha, ii holl en amol.«

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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263 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839268681
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