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Vom Totschweigen

Die halbe Wahrheit ist manchmal schlimmer als gar keine. Bei den jüngsten Kommunalwahlen gab es wie immer Sieger und Verlierer, manchmal auch einen neuen Bürgermeister. Aufgeschreckt hat mich, dass unlängst die Wahlbeteiligung in Mannheim bei 50, in Heilbronn bei 31 und in Sachsen-Anhalt zum Teil unter 30 Prozent lag. Bürgermeister regieren also unter diesen Umständen mit den Stimmen einer Minderheit – schlimmstenfalls nur 10 Prozent aller Wahlberechtigten! An die Macht kommen mit zehn Prozent der Stimmen: Wo dies möglich ist, wackelt die Demokratie, auch wenn die Wahlverweigerer selbst schuld sind an dieser Art von Entmündigung. Nicht selbst schuld sind sie aber an der Art, wie so etwas in der Öffentlichkeit dargestellt und dann auch wahrgenommen wird: Eine Partei verkündet lauthals über alle Kanäle, sie habe 30 Prozent bekommen – und in Wahrheit sind es 30 von 30! Das ist leider inzwischen ein ganz normaler Vorgang in diesem Land, aber mir wäre es lieber, wir würden das nicht normal finden. Für eine Demokratie sind Mehrheiten normal, aber keine 10 Prozent.

Solche unangenehmen Tatsachen werden gern tot geschwiegen. Es gab einige Zeitungskommentare über den historischen Tiefststand der Wahlbeteiligung. Aber dann ging man schnell zur Tagesordnung über – zu schnell für meine Begriffe.

Manche Skandale verjähren aber nicht. Deshalb gibt es zum Beispiel ein Gesetz, das die Leugnung der Judenvernichtung im Dritten Reich unter Strafe stellt. Nun ist beim Thema Holocaust die ältere Generation der Deutschen sensibilisiert, wenn nicht gar traumatisiert. Kein Gesetz hingegen verpflichtet zur Wahrhaftigkeit im Umgang mit den Arbeitslosenzahlen. Im Gegenteil: Schon mehrfach wurden Gesetze erlassen, die es schwer machen, den wirklichen Grad der Erwerbslosigkeit zu bestimmen.

Erst wurden alle Langzeitarbeitslosen aus der Statistik genommen, die älter als 55 Jahre und damit angeblich schwer vermittelbar sind. Dann hat man alle anderen Langzeitarbeitslosen mit den Empfängern von Sozialhilfe zusammengelegt. Damit fielen auch diese Menschen aus der Statistik heraus, denn jetzt war nicht mehr feststellbar, wer Arbeit suchte und wer nicht. Drittens wurde beschlossen, diejenigen nicht als arbeitslos anzuerkennen, die nach einer Ausbildung keine Stelle fanden. Als nächstes wurden alle herausgerechnet, die gerade eine Umschulung oder Fortbildung auf Staatskosten machen. Raus aus der Statistik sind auch Millionen von Menschen, die in einen teuren vorzeitigen Ruhestand geschickt wurden. Ganz zu schweigen von Teilzeit- und Minijobbern, die gern voll arbeiten würden. Die Statistik zählt einfach bloß jede Beschäftigung und fragt nicht, ob sie zum Leben reicht.

Das geht schon viele Jahre so, und deshalb ist diese Liste ziemlich lang. Sie soll klar machen, was inzwischen alles unter den Tisch fällt und totgeschwiegen wird, wenn Monat für Monat die neuen Arbeitslosenzahlen aus Nürnberg kommen. Was sich hinter dem Verschwiegenen verbirgt, ist schwer zu ertragen – nicht nur für die Betroffenen, das will ich gern zugeben. Aber die verschweigen ihr Schicksal nicht.

Diejenigen, die schweigen und versuchen, andere zum Schweigen zu bringen, indem sie Zahlen vernebeln und Fakten verstecken, sind Politiker und Beamte, also Repräsentanten dees Rechtsstaates. Indem sie das wahre Ausmaß der Katastrophe verschleiern, tun sie den Betroffenen ein zweites Mal Unrecht durch die Demütigung, nicht einmal mehr statistisch wahrgenommen zu werden.

Wer ein bisschen darüber nachdenkt, findet überall Formen, Probleme zu verschweigen oder auch ein verdientes Lob nicht auszusprechen – um nur zwei Beispiele zu nennen. Und immer richtet dieses Verhalten Schaden an. Leute, die glauben, sie könnten sich jede Gemeinheit leisten, solange nichts davon bekannt wird, kommen sich meistens unheimlich schlau vor. Sind sie aber nicht. Dass Lügen kurze Beine haben, wissen wir. Aber auch viel Totgeschwiegenes oder auch nur Peinliches kommt eines Tages ans Licht – nicht nur das Plagiat bei der Doktorarbeit des CSU-Ministers Karl Theodor zu Guttenberg im Jahr 2011. Durch einen dummen Zufall, durch die Presse, oder weil immer irgend jemand ein Interesse daran hat, kommt fast alles heraus. Und dann steht der Übeltäter doppelt dumm da: als Täter und überdies als Feigling, der nicht den Mut hatte, zu seinem Verhalten zu stehen.

Zwischenbilanz mit 40
Beruf und Karriere

„Was hast du erreicht in deinem Leben?“ – Das ist eine der typischen Fragen, die sich Männer stellen, wenn sie 40 werden. Frei nach Martin Luther soll ja der Mann in seinem Leben einen Sohn zeugen, einen Baum pflanzen und ein Haus bauen: auch so eine Messlatte für Männer in der Lebensmitte. Das alles hat nur sehr eingeschränkt mit dem Beruf zu tun, finde ich, obwohl der meistens gemeint ist.

Mein Leben ist mehr als mein Beruf – wenigstens dann, wenn ich das Wort „Beruf“ nur mit „Karriere“, „Position“ oder „Geldverdienen“ übersetze. Für mich ist viel wichtiger, dass mein Leben sinnvoll ist. Das wird schon anders, wenn ich „Beruf“ mit dem Wort „Berufung“ in Verbindung bringe. Aber dann kann ich die Frage nach dem Erfolg im Beruf schon nicht mehr einfach damit beantworten, wie viel ich verdiene.

Auf der anderen Seite habe ich in meinem Leben ziemlich heftig die Erfahrung gemacht, dass es ohne materiellen Erfolg auch nicht geht. Immer wollte jemand Geld von mir – und manchmal ziemlich viel. Kein Geld zu haben bedeutet in unserer Gesellschaft, dass man es schwer hat, zufrieden zu leben. Und wer immer ganz unten ist, träumt vergeblich von der Freiheit, seinen Lebensentwurf zu verwirklichen. Ganz zu schweigen von der Freiheit, sich auch für andere einzusetzen. Ich habe bald bemerkt, dass das Grundrecht Freiheit auch in unserem Land teuer gekauft werden muss. Erst wer das nötige Kleingeld hat, kann sein Leben aktiv gestalten.

Eine Zeitlang fand ich das ungerecht und empörend. Ich fand, dass gute Arbeit auch in jedem Fall gutes Geld wert ist. Doch dann bekam ich manchmal Geschenke, die ich niemals hätte bezahlen können, so wertvoll waren sie mir. Das hat dann meinen missionarischen Eifer doch etwas gebremst. Ich meine immer noch, dass man mindestens verdienen sollte, was man verdient hat. Aber ich habe nichts dagegen, dass es auch einmal mehr ist. Und woher das Geld kommt, ist mir auch nicht mehr so wichtig, so lange es nicht aus schmutzigen Quellen fließt. Den falschen Ehrgeiz, alles „selbst verdient“ haben zu müssen, habe ich abgelegt. Gegen einen Lottogewinn, einen Glückstreffer im Geschäft oder eine Erbschaft ist nichts einzuwenden.

Ich hatte z.B. lange Zeit oft das Gefühl, finanziell überfordert zu sein. Als Alleinverdiener hätte ich nicht immer genug heim gebracht. Das ist eben heutzutage so bei uns. Dafür arbeitet auch meine Frau und verdient genauso viel. Da hat ein Rollenwechsel stattgefunden. Die Frauen wollten nicht mehr nur Hausfrauen sein. Jetzt arbeiten sie, aber mehr zu verteilen als früher gibt es nicht. Nun, wo die Rollen anders verteilt sind, müssen die meisten arbeiten, damit das Geld überhaupt reicht. Dafür darf ich mich von der alten Vorstellung lösen, ich sei ein Versager, wenn ich nicht allein ausreichend Geld heim bringe.

Als ich 40 wurde, verbrachte ich ein Wochenende mit Männern, die in einer ähnlichen Lage waren und gemeinsam darüber nachdenken wollten. Nicht über so etwas wie den Modebegriff „Midlife Crisis“, sondern über unsere Zufriedenheit mit dem bisher Erreichten. Und seltsam: Keiner befasste sich mit Dingen wie „Karriere“, aber alle stellten mehr oder weniger überrascht fest, dass unsere Lebenskurven überhaupt nicht mit der Berufskurve übereinstimmen. Ob der Maßstab dafür der Erfolg war oder nur die Aufmerksamkeit, die das Thema „Beruf“ in unserem bisherigen Leben genossen hat, wir waren uns darin einig: Das Wichtigste im Leben ist ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen sehr verschiedenen Dingen.

Als Privatmann, soziales Gruppenwesen, als Mensch mit Hobbies, als Zeitzeuge und ganz einfach als fühlender Körper spiele ich verscbhiedene Rollen. Nicht aus Verweigerung, sondern weil es halt nicht sein sollte, habe ich keinen Sohn gezeugt, kein Haus gebaut und keine Bäume gepflanzt. Es ergab sich anders. Aber ich habe sportlich viel erreicht und genossen, habe Bücher geschrieben, Filme gemacht, mich ehrenamtlich engagiert und andere Dinge getan, die mir wichtig waren.

Dafür habe ich mit Unsicherheit bezahlt. Doch ich habe auch erfahren, dass mich andere darum beneideten – genau so wie ich sie um ihre Familienfreuden und ihre finanzielle Sicherheit oder ihre Geborgenheit in irgend einem Verein beneidet hatte. Wir alle haben gelernt, dass wir einander weder zu beneiden noch zu bemitleiden brauchen – und schon gar nicht verachten dürfen. Jedenfalls nicht für unsere Rolle im Beruf.

Familienrollen

Wenn man 40 wird, fragt man sich im Schwabenland, ob man jetzt „gescheit“ geworden sei. Bei einem Wochenende mit Männern in der statistischen Lebensmitte hatte ich den Eindruck, in diesem Alter müsse man wenigstens stolzer Familienvater mit Kindern sein. Meine Frau und ich haben aber keine Kinder. Anscheinend bin ich in meiner Generation damit schon fast wieder eine Ausnahme. Bei den meisten Männern in der Runde drehte sich das Privatleben tatsächlich um die Kinder. Die verändern das Leben gewaltig. Aber dann werden sie flügge und sind eines Tages aus dem Haus. Alles können also nicht einmal Kinder sein. Für mich zum Beispiel ist meine Frau besonders wichtig. Sie liebt mich so, wie ich bin. Nicht als abstraktes Ideal, nicht als Märchenprinz, der ich nicht bin, nicht als Vorbild, das ich nur selten bin. Dass für sie meine ganze Person zählt und nicht nur ausgewählte Teile davon, ist wohl der wichtigste Grund für die besondere Rolle, die diese Frau in meinem Leben spielt. Dass wir keine Kinder haben konnten, hat eine Zeitlang weh getan. Aber dann haben wir begriffen, dass sich die Natur nicht einmal mit Gewalt in das Schema einer Rolle pressen lässt. Warum auch? Wir haben andere Aufgaben gefunden und angenommen.

Am Anfang unserer Ehe war es schwer, sich vorzustellen, wir würden keine Kinder haben. Der Wunsch nach Kindern ist seit dem Beginn der Menschheit im Fortpflanzungstrieb festgelegt. Und Triebe, die nicht befriedigt werden, machen uns bekanntlich ganz schön zu schaffen. Wir waren auch nie der Überzeugung, diese Welt sei so schlecht, dass es verantwortungslos sei, Kinder da hineinzusetzen. Nein, Kinder hätten auch für uns die Hoffnung bedeutet, etwas weiterzugeben, das weit mehr ist als unsere Erbmasse. Kinder sind immer auch ein Stück des sehr menschlichen Traums von einer besseren Zukunft. Für manche sind sie so eine Art Fortsetzung des eigenen Lebens nach dem Tod, eine verlängerte Spur der eigenen Existenz oder einfach die Erfüllung des göttlichen Auftrags „Wachset und mehret euch“.

Das alles hat nicht sollen sein. In den ersten Jahren haben wir versucht, wenigstens ein Kind zu adoptieren. Aber dafür hatten wir nicht genug finanzielle Sicherheit zu bieten. Es ist ganz schön absurd, was da alles verlangt wird. Als ob das Gesetz solche Garantien verlangen würde, wenn arme Paare Kinder bekommen wollen! Nein, die kriegen sie einfach, und wenn das Geld für Pampers nicht reicht, werden eben Windeln gewaschen. Kein Mensch fragt danach, ob es den Kindern, die Eltern haben, an nichts fehlt. Aber wer so ein armes Wurm aufnehmen möchte, das zur Adoption freigegeben ist, muss Garantien geben, als ob er einen Prinzen aufziehen sollte.

Also hatten wir mehr Zeit für andere Menschen. Wir werden tatsächlich gebraucht – von Alten in der Nachbarschaft, die einsam sind und deren eigene Familien keine Zeit für sie haben, vielleicht wegen der Kinder. Und von Jungen, die Rat suchen. Meine Frau und ich, wir haben viel voneinander und miteinander gelernt. Wir hatten gute und schlechte Zeiten, aber wir freuen uns immer noch darüber, zusammen alt zu werden.

Für eine Halbzeitbilanz finde ich das eigentlich ganz passabel. Wenn ich mich so umschaue im Kreis der Verwandten, Freunde und Bekannten, gibt es da viel mehr äußeren Erfolg, aber auch mehr innere Not – bis hin zur Verzweiflung. Wir sind da oft schon so etwas wie ein ruhender Pol. Hätten wir Kinder, wäre das wahrscheinlich nie möglich gewesen. So hat es auch etwas Gutes, frei zu sein von der Sorge um Kinder. Klein wären diese Sorgen jedenfalls nicht.

Zeitzeuge sein

Was von dem, was wir Zeitgeschichte nennen, hat mein Leben geprägt oder verändert? Einige Stationen:

1956 war ich gerade fünf Jahre alt. Im Radio liefen Meldungen über einen Aufstand in Ungarn. Meine Mutter weinte und sagte: „Junge, es ist wieder Krieg.“ Ich verstand das nicht, denn ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und spürte hier zum ersten Mal, dass Krieg etwas sehr Schlimmes sein musste.

1961 war ich gerade mal zehn und begriff nur, dass wieder etwas Schreckliches passiert war, als ich bei Freunden, wo es einen Schwarzweiß-Fernseher gab, die ersten Bilder vom Bau der Mauer in Berlin sah. Stacheldraht, Soldaten, flüchtende Menschen. An dieser Mauer rief im Juni 1963 der amerikanische Präsident John F. Kennedy: „Ich bin ein Berliner!“. Das fand ich toll. Ein diffuses Erlebnis von Solidarität. Schon im November des gleichen Jahres wurde dieser Mann erschossen. Führt Solidarität zu so etwas? Im Fernsehen wieder die Bilder: Erschütterung. Wie entstehen Vorbilder?

1964 begann der Vietnamkrieg der USA. 1966 ging das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende. Wir Schüler in Bonn am Rhein verehrten die Beatles, ließen uns die Haare wachsen, trugen Schlaghosen, diskutierten über Che Guevara, hörten zum ersten Mal die Wörter „progressiver Ungehorsam“ und „Ökumene“. Wir erlebten in einer Jesuitenkirche eine russisch-orthodoxe Ostermesse. Mit einem Freund, der eine Hammond-Orgel hatte, spielte ich am Schlagzeug bei einer Jugendmesse am Schlagzeug das Stück „A whiter shade of pale“, von Procul Harum zu einer neuen Kirchenmusik inspiriert. Che Guevara, die Beatles und Experimente mit der Erneuerung des Glaubens, in dem ich aufgewachsen war: Das lag alles auf einer Linie. Das war aufregend, neu und revolutionär.

Pastor Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung in den USA: Wir begriffen, dass Neger „Farbige“ genannt werden wollen und in den USA noch Menschen zweiter Klasse waren, vielleicht in manchen Regionen heute noch. 1967 starb Konrad Adenauer und wir liefen am Rheinufer 15 Kilometer neben dem Schiff her, das den Katafalk zum Friedhof in Rhöndorf brachte. Ein unklares Gefühl trieb uns, Zeugen großer Dinge zu sein. Der Sechstagekrieg war zugleich Thema in der „Tagesschau“ und im Unterricht. Deutsche Vergangenheitsbewältigung heißt bis heute: Solidarität mit Israel, wenn auch eine durchaus kritische Solidarität.

1968: In diesem Jahr wurde Martin Luther King ermordet. Solidarität war also wirklich lebensgefährlich. Die Panzer des Warschauer Paktes, die den „Prager Frühling“ blutig beendeten, trieben uns auf die Straße. Wir demonstrierten vor der russischen Botschaft in Rolandseck. Wir demonstrierten auch gegen die Notstandsgesetze. Im Auditorium Maximum der Universität hörte und sah ich Rudi Dutschke und verstand seine Hasstiraden nicht. Ich besuchte einen Abend mit NPD-Gründer Adolf von Thadden in einem verräucherten Bierlokal und ekelte mich. Ich kaufte mir eine Mao-Bibel und hörte auf, sie zu lesen, als ich von den Gräueltaten der Roten Garden bei der chinesischen „Kulturrevolution“ erfuhr.

Um die erste Mondladung 1972 im Fernsehen zu erleben, organisierte ich einen Nachtmarsch von Teilnehmern eines Zeltlagers für Jugendliche zur nächsten Kneipe. Wir hatten das Gefühl, bei etwas Großem dabei zu sein. 1973: Das Ende des Vietnamkrieges und „Der Archipel GULAG“ von Alexander Solschenizyn brachten uns das Gefühl, etwas tun zu müssen gegen den Zerfall der Welt. Ich hatte eben den Grundwehrdienst hinter mir und war ausgehungert nach Büchern. Lesen führte zum Schreiben, und das hieß damals schon Zeugnis ablegen.

Ein Dauerthema waren für mich die Dissidenten des damaligen Ostblocks. Ich schrieb darüber, um zu verstehen, auch um die Früchte meiner Lektüre zu sichern. Vor diesem Hintergrund war es kein vollständiger Zufall, dass ich „eine von drüben“ heiratete. Die Teilung meines Landes hatte ich nun auch in der Familie. Später erste Fernreisen und die Erkenntnis, dass die Welt klein geworden ist und die Probleme im tropischen Regenwald oder die Hungerbäuche äthiopischer Kinder sehr wohl auch uns betreffen. Nachrüstung, Friedensbewegung, Tschernobyl, und vor allem die deutsche Wiedervereinigung. Was die Welt der Journalisten bewegte, prägte auch meine Arbeit. Dennoch hatte ich oft das ohnmächtige Gefühl, nur benutzt zu werden.

Das änderte sich erst durch unseren Widerstand gegen das Großprojekt „Stuttgart 21“. Ich sah einen Ministerpräsidenten Stefan Mappus mit der Körpersprache eines NSDAP-Gauleiters und hörte ihn angesichts eines ebenso unnötigen wie brutalen Polizeieinsatzes gegen Demonstranten sagen: „Diese Leute tun ja so, als ginge es hier um die Demokratie!“. Genau darum ging es und geht es immer noch. Deshalb habe ich mich damals engagiert und konnte dazu beitragen, dass Stefan Mappus abgewählt wurde. Heute haben wir in Stuttgart einen grünen Ministerpräsidenten und einen grünen Oberbürgermeister.

1987 Besuch in Peking. Ein Jahr später das Massaker auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ und dann die Beschleunigung aller Dinge. Ein chinesischer Fluch lautet: „Mögest du in aufregenden Zeiten leben!“ Was er bedeutet, verstehe ich erst langsam immer besser. Als 1989 die Mauer fiel, war ich Nachrichtenredakteur. Spätestens da wurde mir klar, dass ich nicht mehr wusste, ob ich passiv oder aktiv war. Ich habe versucht, zu verstehen, was da vorging, schon beim ersten Golfkrieg von US-Präsident George Bush, erst Recht während der Amtszeit seines Sohnes George W. Bush. Am 11. September 2001, als Flugzeuge in die Türme des New Yorker World Trade Center und ins Pentagon stürzten und Tausende von unschuldigen Menschen starben, wollte ich wissen, was da eigentlich passiert war. Was macht den Hass fanatischer muslimischer Fundamentalisten so grenzenlos, so maßlos, dass sie ihre eigene Religion zur Geisel nehmen?

Ich lebe in aufregenden Zeiten. Stanislaw Lem, der große Kybernetiker und Autor erfolgreicher Science-Fiction-Romane aus Krakau, hatte genau das vorausgesagt. Schon 1993 hatte er mir erzählt, dass die Wirklichkeit all seine erfundenen Szenarios überholt hatte. Das sah überhaupt nicht gut aus, und deshalb hörte er auf, Science Fiction zu schreiben. Er befasste sich nur noch mit Technologiefolgenabschätzung.

Ich habe versucht, zu verstehen, was da vorgeht. Für einen Zeugen gehört sich das. Aber ich fürchte, kein Mensch interessiert sich dafür. Nachdenklichkeit ist nicht gut fürs Geschäft in Zeiten ökonomischer Globalisierung. Doch welche gigantischen Schäden diese Ideologie anrichtet, wissen wir seit der globalen Finanz- und Wirtschftskrise nacht dem Platzen des US-Immobilienblase 2008. Die Occupy-Bewegung, die digitale Demokratie und die arabische Rebellion gegen gewalttätige Despoten sind wahrscheinlich nicht Teil des Problems, sondern der Anfang eines langen, mühsamen Weges in eine bessere Zukunft. Doch dieser Weg darf nicht um Russland und China herumführen.

Ein Traum – und was daraus wurde

Ein Leben für die Kunst – das hatte ich mir vorgestellt, seit ich zum ersten Mal expressionistische Gedichte gelesen und in den Lebensläufen ihrer Autoren geschwelgt hatte. Es war die Romantik eines Zwanzigjährigen mit konservativer Erziehung, der in seiner Phantasie den Glanz der Bohéme nicht von ihrem Elend unterscheiden konnte. Ich hatte für eine Schülerzeitung geschrieben und war wegen eines guten Aufsatzes zum Rollenspiel-Thema „Der Unbelehrbare“ von der Schule geflogen. Den Brief des Direktors an meinen Vater habe ich immer noch. Darin heißt es, der Aufsatz sei gut, aber der Lehrer fühle sich darin übel beschimpft und drohe mit Kündigung. Er wolle diesen (zugegeben: kleingeistigen, aber fachlich guten) Lehrer nicht verlieren, also müsse ich gehen. Als ich den Lebenslauf von Hermann Hesse las, schien mir mein eigener vorgezeichnet.

Schon als Student schrieb ich für Zeitungen, von denen eine sogar manchmal eins meiner Gedichte druckte – gegen Honorar! Einmal fuhr ich Hunderte von Kilometern von Köln ins bayerische Crailsheim, weil dort ein etwas verrückter Verleger namens Karl Borromäus Glock in einem verwunschenen Fachwerk-Schlösschen lebte. Er lobte meine Gedichte und veröffentlichte einige davon in der bedeutungslosen Zeitschrift „Die Besinnung“. Als Honorar schickte er Bücher.

Damals lebte ich von ein paar hundert Mark im Monat und hatte weder materielle Bedürfnisse noch Verpflichtungen. Kirchliche Jugendarbeit führte mich zweimal im Monat für drei, vier Tage nach Berlin. Auf Spesen konnte ich da eine sehr intensive Erfahrung der geteilten Stadt machen: Stacheldraht, Flutlicht, Schäferhunde und die auch in lauen Sommernächten noch frostklirrende Wirklichkeit der deutsch-deutschen Grenze. Ich kannte den Stechschritt der SS bei den Militärparaden der Nazis nur aus dem Fernsehen, ebenso den martialischen Stechschritt der DDR-Volksarmee. Beim Wachwechsel am Ehrenmal für die gefallenen Sowjetsoldaten unter den Linden erlebte ich, wer wirklich das Erbe des Faschismus in Deutschland angetreten hatte. In der Bundeswehr gab es keinen Stechschritt.

Vor dem Hintergrund gieriger Lektüre von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“, Gottfried Benns Gedichten und Bert Brechts Theaterstücken trieb ich mich abends in den Seitenstraßen des Kurfürstendamms herum, rauchte filterlose Zigaretten und trank Bier mit flüchtigen Bekannten in miesen Kneipen oder umgebauten Fabriken. Wir gingen zu Autorenlesungen, diskutierten über Biermann, Solschenizyn und Jürgen Fuchs.

Wie im Rausch schrieb ich damals mein erstes Hörspiel. Die Redakteurin vom SFB Kinderfunk hatte eine meiner kleinen Geschichten abgelehnt und statt dessen vorgeschlagen, aus dem Stoff ein Kurzhörspiel über die erzieherische Wirkung eines ausgesetzten Katers auf die Kinder zu schreiben, die das Tier finden und versorgen. Dafür bekam ich 1500 Mark. Davon konnte ich mindestens zwei Monate leben und war stolz wie Oskar. Aber das waren vereinzelte Sternstunden. Die Schriftstellerei erwies sich als richtig hartes Brot. Also wurde ich Journalist.

Fünfzehn Jahre lang schrieb ich Rezensionen über neue Bücher und lebte in der Illusion, dabei zu sein. Meine Eitelkeit wurde durch das regelmäßige Erscheinen dieser Arbeiten immer gerade so weit befriedigt, dass ich es nicht fertig brachte, aufzuhören. Finanziell waren auch die Kritiken nur ein Zubrot, aber ich lernte viel dabei. Meinen Lebensunterhalt verdiente ich im grauen Alltag eines Redakteurs und suchte meine Chance beim Rundfunk und bei Verlagen. Sie kam nicht wirklich, jedenfalls nicht so, wie ich es mir gedacht hatte und wie ich es bei manchen Kollegen sah. Auch die ersten Essays, die erschienen, änderten nichts an meinem Leben. Wenn ich Gedichte veröffentlichen konnte, horchte weder die Kritik noch die Leserschaft auf.

Ich lernte, wie man Filme macht, und arbeitete als Sachbuchredakteur. Und ich dachte: Wenn ich nur einmal einen Abnehmer für eine Biographie finde oder nur einmal einen richtigen Dokumentarfilm fürs Fernsehen machen kann, habe ich es geschafft. Aber was habe ich geschafft? Zwei Biographien, zwei Essaysammlungen, ein Lyrikband und sechs Dokumentarfilme haben mir die Erfahrung eingebracht, dass man allein auch davon nicht annähernd leben kann. Diese Produktivität muss also immer nebenher geschehen, so lange ein gewisses – ach, was, ein höchst ungewisses – Etwas fehlt, das wir völlig unzulänglich „Ruhm“ nennen.

Also alles für die Katz? – Nein. Denn ich habe alles wenigstens einmal gemacht, was ich wirklich machen wollte. Die Krönung wäre es gewesen, dafür auch so bezahlt zu werden, dass ich ganz frei nicht nur für die Verwirklichung meiner Ideen hätte leben können, sondern auch davon – d.h. mich darauf hätte konzentrieren können, was mir wichtig war.

So muss ich meine Schriftstellerei der Ermüdung durch einen zeitraubenden, kräftezehrenden Brotberuf abtrotzen. Aber ich liege niemandem auf der Tasche – und mein Brotberuf ist keine Zeitverschwendung, sondern eine sinnvolle Aufgabe. Im übrigen bin ich durch dieses Leben, diesen Zweit- und Schattenberuf um eine wichtige Erfahrung reicher: Den Glanz der Bohéme hatte ich im Kopf, aber ihr Elend habe ich ganz nebenbei erlebt. Heute weiß ich, wovon ich rede.

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