promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Traumberuf Tänzer», страница 2

Шрифт:

»Mich hat die Radikalität gereizt« – Alexandra Marschner

Zuerst ist es der Gruppendruck im Kindergarten, der dafür sorgt, dass die vierjährige Alexandra Marschner »auch so ein Tutu« will. Nach einem Jahr Kinderballett hat sie fürs Erste genug. Das nächste Mal ist es ihre Freundin, die sie mit acht zu einem Ballettkurs beim Turnerbund mitnimmt. Hier fängt Marschner Feuer. Zwischen acht und dreizehn trainiert sie bereits zweimal die Woche. Der Tanzsaal wird ihre Welt, ihr zweites Zuhause.

»Spätestens mit zwölf habe ich aus dem Ballett-Unterricht-Besuchen etwas gemacht, was mit Meditation zu tun hat. Ich wusste damals den Namen nicht, aber dieses ganze Rituelle. Man hatte die und die Stulpen, und man musste das und das Körbchen bereithalten. Allein die Fahrt dahin. Und diese Musik. Die habe ich mir sogar zum Einschlafen angehört. Das hat mich beruhigt, das habe ich einfach gerne gehört. Es hat eine große Rolle gespielt, dass das Tanzen feste Strukturen geschaffen hat. Beim Ballett gab es auch Stress, aber guten.«

Marschner lebt ihren Bewegungsdrang aus, ist ehrgeizig, erweist sich als begabt und bringt es so weit, dass sie mit 13 Jahren mit dem Spitzentanz beginnen darf. Sie liebt die Momente, in denen sie ihren Körper vollkommen beherrscht, in denen sie an ihre Grenzen gehen und über sich hinauswachsen kann. Rückblickend und um einige Erfahrungen in anderen Bewegungskünsten reicher, ist sie sich sicher: »Es war auch die Radikalität, die ich brauchte. Also Kampfsport oder Ballett. Bei etwas anderem schlafe ich ja ein.«

Im folgenden Jahr kugelt sie sich im Training zweimal das Knie aus. Nach dem zweiten Mal geht sie zum Orthopäden, der feststellt, dass die Ränder der Gelenkpfanne zu flach sind. Ihre Mutter bekommt zu hören: Wenn das meine Tochter wäre, würde ich sie nicht mehr ins Ballett lassen. Marschners Mutter überlässt ihrem Kind die Entscheidung: »Du sollst das machen, was du möchtest.«

Alexandra Marschners Vertrauen in ihre Fähigkeiten ist erschüttert. Ihr ist klar, dass der Knieunfall jederzeit wieder passieren und es so mit dem ernsthaften Tanzen nichts werden kann. Vonseiten ihrer Ballettlehrer bekommt sie keine Hilfe angeboten. Sie will dem Schicksal ein Schnippchen schlagen und wechselt mit 14 an eine private Ballettschule, die ihr professioneller erscheint, weil sie streng dem Lehrplan der Royal Academy of Dance folgt. ›Wenn ich wechsle‹, so versucht sie sich zu beruhigen, ›passiert das mit dem Knie nicht mehr.‹

Aber die Schule wird für sie zur großen Enttäuschung: Zwar kann sie sich die Grundlagen noch einmal ganz von vorne erarbeiten, doch variieren die Übungen an der Stange bis zur nächsten Prüfung nie, und sie kommt kaum zum Tanzen. Nach einem Jahr ist ihr die Lust am Ballett vergangen. Sie hört vorerst komplett auf.

Stattdessen beginnt sie zu schwimmen und geht ins Fitnessstudio. Dort steht eines Tages plötzlich »diese traumhafte Tänzerin« vor ihr, in die sie sich »auf einen Schlag verliebt«. Und die gibt nebenan Ballettkurse. Ein Jahr nachdem sie mit dem Tanzen aufgehört hat, ist Marschner wieder dabei, besucht die Kurse der Tänzerin und nimmt zusätzlich Stunden in einer zweiten Ballettschule, sodass sie fünfmal die Woche zwischen einer und drei Stunden trainieren kann. Zusammen mit ihrer Lehrerin gründet sie außerdem eine Barocktanzgruppe, mit der sie am Wochenende viele Auftritte absolviert. »Zwischen 16 und 19 war meine Lehrerin meine Welt. Ballett war immer so persönlich, dass ich das kaum von mir oder von ihr trennen konnte.«

In dieser Zeit formt sich ihr Berufswunsch: »Der Moment, als mir sonnenklar aufging, dass das Tanzen mein Beruf sein muss, war mit 16 beim Schlafengehen, ganz am Anfang der wirklich intensiven Phase des wirklich guten Trainings. Ich lag wach und wusste plötzlich: ›Ich will das machen, immer.‹ Mir war damals schon klar, in dieser ersten Nacht, dass es zu spät war. Es war wie ein Kometeneinschlag: Jetzt! – und doch auch wieder nicht. Du musst eigentlich mit 16 schon im Corps de Ballet sein oder Tanz Vollzeit an einer staatlichen Akademie studieren, und wenn irgendwelche körperlichen Geschichten vorliegen oder du zu dick bist – vergiss es. Ich hatte trotzdem noch die geheimen Hoffnungen, und damit kann man sich wunderbar belügen. Also habe ich mich voll reingegeben, habe nur noch dafür gelebt. Und wusste gleichzeitig, dass es nicht reicht, um daraus einen Beruf zu machen.«

Drei Jahre lang tanzt sie in diesem Zwiespalt, dann, mit 19, beschließt sie, endgültig aufzuhören, weil ihr die Situation zu klaustrophobisch wird. »Ich wollte keinen halbgaren Traum mehr, ich wollte kein Gespenst sein. Ich war damals sehr unglücklich, weil ich nicht wie andere auf einen Traum zusteuern und den verwirklichen konnte.« Doch nicht nur ihr Alter und ihr körperliches Handicap lassen sie zweifeln, ob Tänzerin der richtige Beruf für sie ist. »Mein Bewegungsdrang war immer entweder sehr echt oder nicht da. Er war stark abhängig von meiner momentanen gefühlsmäßigen Verfassung. Deswegen habe ich das Tanzen auch so sehr mit mir identifiziert. Bewegung hat für mich immer etwas mit Lebendigkeit und Lebenslust zu tun. Der Drang, mich zu bewegen, überwältigt mich, es ist wie Elektrizität: Es schießt in alle Glieder, in den Kopf, die Haut brennt, die Muskeln brennen, ich muss sie bewegen, muss, muss, muss … Es macht wahnsinnig viel Spaß. Aber es war auch ein Problem. Du musst, wenn du es beruflich machen willst, ja irgendwann Gewalt darüber gewinnen, es steuern können. Und das konnte ich nie, bis heute nicht. Und ich will es auch nicht.«

Bevor Marschner ihren endgültigen Entschluss fasst, bewirbt sie sich noch an den staatlichen Tanzhochschulen, allerdings nur an solchen mit modernem bzw. zeitgenössischem Profil. Für eine Karriere als klassische Tänzerin, so sagt sie sich, sei sie nicht gut genug. Ihre Bewerbungen sind daher von Anfang an nur ein halbherziger Kompromiss. Irgendwie weiß sie das auch, denn sie geht nie zu den Aufnahmeprüfungen. »Es war immer nur Ballett für mich. Ich habe ja auch Modern Dance gemacht und historischen Tanz, aber das hat mich nicht so vom Hocker gerissen. Es war zu einfach. Ballett ist so hart. Wenn du in die Extreme gehen kannst …« Damit fallen tänzerische Alternativen weg.

Rückblickend kann sie weitere Gründe dafür benennen, warum sie nicht Tänzerin geworden ist: »Ich war zu selbstkritisch. Ich habe mir meine eigenen Fehler nicht erlaubt. Also nicht humorvoll genug. Ich wollte nicht in erster Linie tanzen, sondern lieber alles richtig machen. Und die Gewichtung muss klar sein. Man muss aufhören, alles richtig machen zu wollen. Man muss das Tanzen an sich lieben, koste es, was es wolle, und ob man sich lächerlich macht oder was auch immer – man will tanzen. Für mich bestand der sportliche Aspekt des Tanzens darin, die verschiedenen Schwierigkeiten optimal zu meistern. Wahrscheinlich war ich eher eine ziemlich gute Leichtathletin. Mich hat die Technik interessiert und die perfekte Ausführung, aber nicht unbedingt … Ich wollte nicht unbedingt auf der Bühne stehen. Ich bin keine Frontfrau, eigentlich bin ich sehr schüchtern. Und ich glaube, man muss eine echte Rampensau sein.«

Nach dem Abitur schlägt Alexandra Marschner einen Weg ein, auf dem sie sich mit einer weiteren, bislang vernachlässigten Leidenschaft befassen kann: der intellektuellen Auseinandersetzung, dem Lesen, Forschen, der Literatur. Sie studiert Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft und erhält in allen Fächern Bestnoten. Ihre Abschlussarbeit behandelt ein tanzwissenschaftliches Thema – da schließt sich der Kreis. Mittlerweile hat sie ihre eigene Kulturagentur gegründet, die Sprachunterricht in Kombination mit kulturellen Aktivitäten und Stadtführungen anbietet.

Warum hat sie sich mit 19 entschieden, ganz mit dem Tanzen aufzuhören und es nicht zumindest als Hobby weiterzumachen? »Weil es mir zu weh getan hat. Das war das Gleiche, wie sich von jemandem zu trennen. Dann kann man auch nicht befreundet sein. Es war eine Liebe. Und es hat mir wirklich, wirklich weh getan, dass ich das nicht beruflich machen konnte.«

»Eine ästhetische Lücke füllen« – Adrian Navarro

Adrian Navarro hat es geschafft, seinen Komplex zu überwinden, dass man ihm den klassischen Tänzer zu stark ansieht. »Die Lehrer in den zeitgenössischen Trainings haben mich zum Glück immer alle beruhigt. Einer hat gesagt: ›There’s something before technique.‹ Das fand ich super.« Heute ist Navarro in der freien zeitgenössischen Szene unterwegs, tanzt, singt, choreographiert, performt. »Dabei habe ich mich bis vor Kurzem schon sehr als klassischer Tänzer gesehen und mich, als ich jung war, auch nicht besonders für die anderen Formen interessiert.« Dass er sich in verschiedenen Welten bewegt, zwischen Tanzstilen, Ländern und Jobs pendelt, prägt seine gesamte bisherige Karriere.

Die beginnt sehr klassisch. Als Navarro mit fünf Jahren seine ältere Schwester auf Fotos einer Schulaufführung den Prinzen tanzen sieht, beschließt er, ebenfalls mit Ballett anzufangen: »Damit meine Schwester nie mehr Jungs-Rollen tanzen muss!« Mit neun wechselt er an eine private Schule, die ihn auf die Aufnahmeprüfung an einer renommierten staatlichen Ballettausbildungsstätte vorbereitet. Mit zehn nimmt er an der Prüfung teil und wird dort aufgenommen, bleibt aber nur ein Jahr lang. »Das war ein Sadistenclub, das Zwischenmenschliche hat mich fertig gemacht. Ich hatte aber auch eine schlechte Lehrerin, die mittlerweile nicht mehr an der Schule ist. Von der haben wir noch Sprüche abbekommen wie ›Du bist ein einziger Krampf!‹ oder ›Deine Wurstfinger sind gerade gut genug zum Kartoffelschälen‹.« Als er auch noch von seinen Mitschülern gemobbt wird, nehmen ihn die Eltern von der Schule.

Navarro will trotzdem weitertanzen und kehrt an seine vorige Ballettschule zurück. Dort gibt es Förderklassen, in denen er dreimal pro Woche Ballett trainieren kann. »Die Leiterin dort hat wirklich auf Talent geachtet, nicht nur auf Geld. Und meine Lehrerin konnte mir auch künstlerischen Input geben, weil sie selber lange auf der Bühne gestanden hatte.« Ergänzenden Unterricht stellt er sich selbst zusammen, nimmt an anderen Schulen Jazz-, Modern- und Ballettstunden und besucht Workshops. Außerdem genießt er es, dem Tanzen immer mal wieder entfliehen zu können, ist in den AGs seines Gymnasiums aktiv, nimmt Cello-Unterricht, singt und spielt Volleyball und Tennis im Verein.

Mit 17 Jahren wird er auf einem Workshop von der Leiterin einer staatlichen Tanzhochschule angesprochen und gefragt, ob er sich nicht um einen ihrer Studienplätze bewerben möchte. Da er auf jeden Fall parallel sein Abitur machen will, einigen sie sich darauf, dass er zunächst zwei Jahre lang an den nachmittäglichen Vorausbildungsklassen teilnimmt und dann im Anschluss, nach bestandener Prüfung, direkt ins zweite Studienjahr wechseln kann. Dass er an der Hochschule zwar eine solide klassische Ausbildung und Bühnenpraxis erhält, dafür aber mit modernen und vor allem zeitgenössischen Techniken, mit Körperwahrnehmungstechniken und Improvisation kaum in Kontakt kommt, stellt für ihn zu diesem Zeitpunkt noch kein Problem da.

In den zwei Jahren gegen Ende und nach seiner Ausbildung nimmt er an jeweils zehn Auditions an Stadttheatern teil – eine normale Anzahl, wie er schätzt. »In der ersten Audition-Runde hat man zwar eine Ahnung, weiß aber noch gar nicht, was stilistisch zu einem passt, man kennt ja die ganze Szene noch nicht. Da fährt man natürlich schon ein bisschen wahllos an alle möglichen Orte. Und das ist auch gut so, denn man muss erst mal eine Audition-Praxis entwickeln.«

Navarros erster Vertrag, den er im Jahr nach Studienende erhält, führt ihn als Praktikant an das Opernhaus einer größeren deutschen Stadt. Nach einem Jahr wechselt er zu einem schwedischen Ballettensemble, nach einem weiteren zurück nach Deutschland zur Kompanie eines Staatstheaters, wo er drei Jahre lang bleibt – überall als Gruppentänzer, zum Teil mit Soloverpflichtung. Zu diesem Zeitpunkt ist ihm klar, dass er entweder mehr zum Tanzen kommen oder aber an ein größeres Haus mit entsprechend breiterem Repertoire gehen will. Es wird Letzteres: ein dreijähriges Engagement als Gruppentänzer bei einer großen Ballettkompanie in Schweden.

In dem Ensemble mit seinen 73 Tänzerinnen und Tänzern bestätigt sich für Adrian Navarro eine Erfahrung, die er bereits bei seinen vorigen Jobs gemacht hat: Je klassischer die Kompanie, desto mehr muss man in erster Linie funktionieren. Der einzelne Tänzer ist ein Rad in der riesigen Maschinerie, eingebettet in faire Verträge und Gehälter, muss dafür aber eine große Anzahl an Vorstellungen ableisten und ständig auf Abruf bereit sein, bei Ausfällen kurzfristig einzuspringen; jederzeit werden Höchstleistungen erwartet. Im Gegenzug bekommt er Gelegenheit, Stücke der choreographischen Crème de la Crème zu tanzen und sie zum Teil mit den Choreographen persönlich einzustudieren – von Ashton, MacMillan und Cullberg hin zu Zeitgenossen wie Ek, Duato, Maillot, Spuck und Rushton.

Die Kompanie funktioniert als eigener Kosmos, der viele Möglichkeiten bietet, aber auch eng werden kann. »In großen klassischen Kompanien hat man jeden Tag mit den gleichen Leuten zu tun, bei jedem Training, und wenn man Pech hat, auch immer mit dem gleichen Ballettmeister – da stauen sich dann Sachen an. Es kann aber auch passieren, dass man einzelne Kollegen lange nicht sieht, weil das Training parallel in vier Sälen stattfindet und sie woanders trainieren und nicht in den gleichen Stücken besetzt sind.«

Die langen, intensiven Arbeitszeiten auch abends und am Wochenende lassen kaum Kraft und Zeit für ein Privatleben oder Aktivitäten außerhalb der Kompanie. »Man muss wirklich alles aus den Festengagements ziehen, man hat keine Energie mehr, sich noch kreativen Input von anderswo her zu holen.« Navarro nutzt die kompanieinternen Gelegenheiten zum Choreographieren, ein Learning-by-doing-Prozess. Er entwirft ein Stück für sieben Tänzer für einen Ballettabend von Nachwuchschoreographen, im Jahr darauf ein Quintett, dann ein Duett. Die Managerin der Marketingabteilung, mit der er sich gut versteht, vermittelt ihm daraufhin verschiedene Choreographie-Jobs für Modeschauen, was ihm nicht nur zusätzliches Geld, sondern auch Kontakte in die Szene außerhalb der Oper bringt.

Ein Schlüsselerlebnis als Tänzer ist die Zusammenarbeit mit dem Choreographen Mats Ek, der in Navarros letzter Spielzeit ein kurzes Solo für ihn kreiert. Er ist der einzige Gruppentänzer in der Erstbesetzung. Durch diese Arbeit merkt er, dass noch viel mehr Potenzial in ihm steckt, als er in seinem momentanen Engagement ausschöpfen kann. Bei den Proben mit Ek wird ihm aber auch wieder deutlich bewusst, wie sehr seine Energie durch Konkurrenzkämpfe und Intrigen innerhalb der Kompanie vom Tanzen selbst abgezogen wird. »Ich hatte das Gefühl, ständig mit ausgefahrenen Ellenbogen tanzen zu müssen. Als Mats Ek mit mir probte, standen mir plötzlich einige Kollegen in dem riesigen Saal ständig im Weg. Ich dachte mir: ›Hey, ihr sollt das mitlernen, aber mich nicht blockieren! Ich möchte einfach nur meine Arbeit machen, nichts anderes!‹«

Adrian Navarros Entschluss, nach drei Jahren aus Schweden wegzugehen, hat eine Reihe von Gründen. »Bei den Verhandlungen über meinen Folgevertrag wurde aus dem Festvertrag, der vorher im Gespräch war, plötzlich noch mal ein Jahresvertrag. Daraus konnte ich schließen, dass mein Chef mich rollenmäßig nicht pushen wollte. Er brauchte mich als Arbeitskraft, um einen Platz im Corps zu füllen, und dann würde ich vielleicht einmal im Jahr etwas Interessantes zu tanzen bekommen. Außerdem hatte ich schon berufsbegleitend Kulturmanagement studiert, an einer Fernuniversität in Deutschland, und mir fehlte nur noch die Diplomarbeit. Es war klar, dass es wesentlich einfacher wäre, die in Deutschland zu schreiben, wegen der Sprache und dem Thema. Und dazu kam noch, dass ich Schmerzen hatte.«

Berlin erscheint dem nun 29-jährigen Navarro als geeignetster Ort für zukünftigen kreativen Input; hier arbeitet er zunächst für einen Hungerlohn bei einer Veranstaltungsagentur und schreibt seine Diplomarbeit über Institutionen der freien Tanzszene fertig. Bald merkt er, dass es wohl am einfachsten wäre, nebenbei als Tänzer oder Tanzlehrer Geld zu verdienen. »Ich hatte seit Schweden nur noch Yoga gemacht, als eine Art von Abtrainieren, ganz bewusst kein Tanztraining. Und habe gemerkt, dass mir das Tanzen fehlt.« Also fängt er wieder an, zuerst mit viel zeitgenössischem Training und Improvisation, dann auch mit klassischem Ballett. »Es war unsäglich schwer, wieder in Form zu kommen.« Eine gute Freundin hilft ihm, in ein kollektiv organisiertes Profitraining an einem Berliner Opernhaus einzusteigen, das die Teilnehmer abwechselnd anleiten.

Noch während seiner Diplomarbeit beginnt er, selber Balletttraining zu geben, und merkt, wie viel Spaß ihm das macht. Mit dem Unterrichten verdient Navarro jetzt, gegen Ende seines zweiten Berliner Jahres, einen guten Teil seines Lebensunterhaltes. Dazu kommen Jobs als Filmkomparse, bei Agenturen und auf Messen – und eine steigende Anzahl von Engagements als Tänzer. Neben unbezahlten Projekten, bei denen er aus purem Interesse mitmacht oder um Kontakte zu knüpfen, mehren sich auch die bezahlten Produktionen. So reist er etwa immer wieder ins Ausland, um in professionellen Barockaufführungen mitzuwirken.

Adrian Navarro sieht sich als klassisch ausgebildeter Tänzer, der verschiedene Stile tanzen kann, egal ob klassisch oder zeitgenössisch. Auch, wenn er selber mittlerweile grenzüberschreitend tätig ist, hat er den Eindruck, dass die Kluft zwischen den Tanzbereichen nach wie vor besteht und sich die Vorurteile auf beiden Seiten verfestigt haben. Das zeigt sich zum Beispiel dann, wenn er aufgrund seines ›klassischen‹ Lebenslaufes gar nicht erst zu Auditions für zeitgenössische Produktionen eingeladen wird.

Zurück ans Stadttheater zu gehen ist für ihn vorläufig keine Option. Zwar könnte er dort wahrscheinlich noch vier bis fünf Jahre tanzen, doch müsste er nach seinen Verletzungen erst eine volle Rehabilitation angehen, bevor er die körperliche Belastung wieder stemmen könnte. »Am Stadttheater wird man verheizt, man muss sein Soll erfüllen. In der freien Szene kann man es selber etwas besser steuern, wie viel und auch was man tanzen möchte.« Außerdem ist er momentan froh, in anderen Strukturen arbeiten zu können als denen der großen Kompanien: »Es ist für mich angenehm zu sehen, dass ich in freien Projekten viel besser funktioniere und plötzlich viel besser tanze, weil ich einfach weiß, dass das jetzt auf sechs bis acht Wochen begrenzt ist. Man arrangiert sich miteinander, man kann meistens eine ganz gute Stimmung im Rahmen eines Projekts aufbauen und eine gemeinsame Ebene finden. Das ist dann alles sehr angenehm, aber danach reicht es auch wieder.«

Eines seiner aktuellen Projekte ist eine Band mit Tanz-Act, die er mit befreundeten Musikern und Tänzern ins Leben gerufen hat. Ihr »Intellektuellen-Pop«, der dazu arrangierte Tanz und die Inszenierung bieten bewusst eine Alternative zum klassischen Background-Showact im Hip-Hop-Style – ein eigenes Genre. Navarro tanzt und choreographiert hier nicht nur, er singt auch, macht Musik, arbeitet insgesamt performativer. Eine Herzensangelegenheit, in die viel unbezahlte Arbeit geflossen ist, bevor die Gruppe nun in alternativen Clubs, auf Feiern oder Festivals auftritt.

Für seine Zukunft träumt Navarro von einer eigenen Kompanie, mit der er eine ästhetische Lücke füllen möchte, indem er sein Wissen über den klassischen Tanz einbringt, sich aber gleichzeitig neuen Entwicklungen öffnet. Sein Studium könnte ihm dabei helfen, dass sich auch die innovativen Organisations- und Finanzierungsformen einer solchen Truppe realisieren lassen.

836,89 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
180 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783894877446
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip