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Читать книгу: «Mörderisches Bayreuth», страница 2

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Wie alles begann: Die Kolbs
Juni, ein Jahr zuvor

Dort, wo sich die Tristanstraße den „Grünen Hügel“ hochzog, etwa auf halber Höhe, stand rechter Hand das frisch renovierte Hotel „Richard Wagner“. Ein Bau aus den Zeiten der Postmoderne, Anfang der 1960er Jahre: ein dreistöckiges Gebäude in L-Form, dem man heute den verbauten Beton nicht mehr ansah. Dafür sorgten die glatten Außenfassaden in harmonisch abgestimmten Farbtönen Marke „frischer Frühling“ sowie die beiden tragenden Säulen im Bereich der überdachten Auffahrt – edel und luxuriös sollte der Eindruck des Hauses sein. Die ganze Eingangsfront war durchgängig verglast und in der großzügigen Lobby protzten dicke Ledersessel um die Wette. Oben auf der Terrasse des Flachdachs thronte eine mächtige halbrunde Glaskuppel: der neue Frühstückssaal, wo die Übernachtungsgäste ihren Morgenkaffee trinken und einen wunderbaren Blick auf das Richard Wagner Festspielhaus genießen konnten.

Stolze Herren und Eigentümer der Anlage waren die drei Brüder Manfred, Günther und Karl Kolb. Ihre verstorbene Mutter hatte ihnen und ihrer Schwester Laila vor über zwei Jahren das damals mehr als angestaubte Anwesen vererbt. Kurzfristig dachten die vier über einen Verkauf nach, doch dann beschlossen die Brüder, den Sprung zu wagen und das elterliche Erbe in neuem Stil und mit neuem Konzept fortzuführen. Die hohen Schulden, die sie dabei auf sich luden, brachten Laila, die jüngste der Geschwister, dazu, sich vollends aus dem Projekt zu verabschieden. Außerdem passte ein berufliches Engagement in der Hotellerie gar nicht zu ihrem Studiengang.

Manfred, der älteste, wurde General Manager und Kundenakquisiteur. Unterstützt von Karl, der sich zukünftig ums Personal und den reibungslosen Ablauf des Tagesgeschäfts kümmern sollte, ging er an die Planung und Umsetzung des Umbaus: Vor einem Jahr, rechtzeitig zu Beginn der Festspielsaison, konnten die umfangreichen Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten abgeschlossen werden; auch das rund 4.000 Quadratmeter große Außengelände des Viersternehotels war auf Vordermann gebracht und völlig neu gestaltet worden. Nun offerierte das Haus 126 unterschiedlich große Zimmer und drei Suiten – geradezu klassisch benannt: Brünhilde-, Kriemhild- und Siegfried-Suite –, alle ausgestattet mit modernem Bad/WC, selbstverständlich inklusive freiem WLAN, mit Minibar und in der Wand integriertem TV. Auch die Hotelküche und das Restaurant glänzten in neuem Outfit. Auf das Design des Gastraums war Manfred besonders stolz. Seine Gäste speisten in der modernen Imitation einer schmucken fränkischen Landscheune mit viel Holz, offenen Balken und Buntsandsteinwänden.

Günther, Karls Zwilling und gelernter Koch, war nun Chef in seinem eigenen Reich und für die Speisekarte verantwortlich. Äußerlich glich er seinem Zwillingsbruder fast wie ein Ei dem anderen, nur ein Muttermal an seinem Hals gab ihn zu erkennen. Während Karl eher von zurückhaltender Natur war, mochte es Günther extrovertierter und fand sich auch in unvorhersehbaren Situationen schneller zurecht. Seine tiefe Liebe zur fränkischen Heimat zeigte sich in den hauptsächlich regionalen Gerichten, die er aus seinen Töpfen und Pfannen zauberte – vom Schäufele bis zur Nürnberger Rostbratwurst, vom zarten Lammfilet von der Frankenhöhe bis zum Aischgründer Spiegelkarpfen oder den Regenbogenforellen aus eigenen Gewässern der Fränkischen Schweiz. Je nach Saison standen Spargelgerichte, Wildbret oder ausgewählte Gemüse- und Salatprodukte aus dem Nürnberger Knoblauchsland zur Auswahl. Die Weinkarte offerierte, unter der eifrigen Mithilfe von Manfred, ein breites Spektrum an Weiß-und Rotweinen aus den Weinhängen um Ipsheim, Würzburg und Klingenberg. Die Biere kamen ausschließlich aus den kleinen Privatbrauereien Oberfrankens.

Nach der Renovierung versprach selbst der Keller des Hotels neue Glanzpunkte: Alle drei Brüder hatten hier ihre Ideen eingebracht und nun konnten sich die Gäste auf zwei Bowlingbahnen austoben oder in der Zirbensauna bei herrlichen Aufgüssen schwitzen. Auf dem Außengelände ließen die neuen Hoteleigentümer zuerst einen kleinen, schattigen Biergarten anlegen. Allein die fünf Meter hohen Kastanienbäume, die dafür eingesetzt wurden, kosteten ein Vermögen. Blumengesäumte Kieswege führten zu dem lauschigen Platz, vorbei an einem mit Kois, den teuren japanischen Karpfen, besetzten Gartenteich. Keine 50 Meter davon entfernt lockte in den heißen Sommermonaten ein neues Schwimmbecken, 25 auf 20 Meter groß und beheizbar, umgeben von einer gepflegten Wiese mit Duschen und Sonnenliegen. Überall im Garten luden elegante Ruhebänke zum Verweilen ein, kurzum: eine einzige Wohlfühloase, umstanden von einer halbhohen, immergrünen Kirschlorbeerhecke. Und weil es an diesem Punkt auch nicht mehr auf den letzten Cent ankam, hatten Manfred, Karl und Günther hinter der Hecke gleich noch zwei Tennisplätze anlegen und den hoteleigenen Parkplatz erweitern lassen.

Als ihren Finanzdirektor hatten die drei Brüder Dieter Kowalski eingestellt. Ihr Verhältnis zu Dieter war ein besonderes – er war nicht nur der langjährige Freund und Vertraute von allen dreien, sondern auch ihr Halbbruder. Ein fruchtbarer Fehltritt ihres längst verstorbenen Vaters. Jetzt sollte er sich darum kümmern, dass im neu eröffneten „Richard Wagner“ stets genügend Cash Flow vorhanden war. Er erstellte die Bilanz, übernahm Gewinn- und Verlustrechnung, überwachte und bediente sämtliche Finanzierungsangelegenheiten. Auch die Steuer gehörte zu Dieters Aufgabenbereich. Bisher hatte er Manfred, Karl und Günther nicht im Stich gelassen, sie gut durch die schwierige Phase des Umbaus gelotst und danach die Weichen für eine wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft gestellt. Bei einer Sache konnte er allerdings nicht helfen.

Was den drei Kolb-Brüdern schwer im Magen lag, war die Abfindung von 250.000 Euro, auf die sie sich mit ihrer Schwester Laila geeinigt hatten. Diese Summe sollte ihr Erbanteil am Hotel sein, den sie ihr zur Erreichung ihres 28. Lebensjahres würden ausbezahlen müssen. So lautete die Vereinbarung. Noch war es nicht so weit, doch Kowalski erinnerte die drei ständig daran, dass der Tag der Fälligkeit unaufhaltsam näher rückte. Nächstes Jahr im Mai mussten sie zahlungsfähig sein. Wie sie das bewerkstelligen sollten, wussten die drei heute noch nicht. Das Hotel lief zwar gut – seit der Wiedereröffnung waren sie fast durchgehend ausgebucht –, doch die Kosten des Umbaus hatten sich längst nicht amortisiert. Die Schuldenlast der Kredite drückte.

Sie würden Laila wohl bitten müssen, nicht auf eine termingerechte Auszahlung ihres Erbanteils zu bestehen. Doch wie lange Laila noch darauf warten würde, das konnten weder Manfred noch Günther oder Karl abschätzen. Auch der Finanzdirektor traute sich nicht, die Reaktion seiner Halbschwester vorauszusagen, zumal er ihr aktuell keinen alternativen Auszahlungstermin nach ihrem 28. Geburtstag in Aussicht stellen konnte. Zu lebendig waren die Zeiten. Erst kürzlich hatte im Norden der Stadt ein neues Sporthotel eröffnet und versprach harten Wettbewerb. Die Konkurrenz schlief nicht. Jeder wollte am süßen Kuchen der Bayreuther Festspiele partizipieren, wollte seinen Teil an den gutbetuchten Promis und Wagnerfans, die in die Stadt kamen und mit ihrem Geld nur so um sich schmissen.

*

Laila studierte an der Universität Bayreuth Geoökologie und Umweltnaturwissenschaften, stand kurz vor dem Ende des achten Semesters und damit auch ihres Studienganges. Mit 27 Jahren war sie nicht gerade eine der jüngsten Studentinnen. Das störte Laila aber nicht, betrachtete sie sich selbst doch als „Spätzünder“: Mit dem Abi frisch in der Tasche hatte sie keine große Lust auf ein Studium verspürt. Wie viele andere in ihrem Alter wollte sie damals schnell Geld verdienen und hatte bei der örtlichen Sparkasse eine zweieinhalbjährige Ausbildung zur Bankkauffrau gestartet. Als sie damit fertig war, wusste sie, was es bedeutete, den ganzen Tag am Schalter zu stehen und unfreundliche Kunden zu bedienen. Das war nicht ihr Ding. Zwischenzeitlich hatte sie außerdem eine neue Leidenschaft entdeckt – die Natur. Sie war dem Bündnis 90 / Die Grünen beigetreten und hatte sich zu einer energischen Verfechterin des Umweltschutzes entwickelt. Auf kommunalpolitischer Ebene setzte sie sich für die Einhaltung der Klimaziele ein, sie organisierte gewaltfreie Demonstrationen gegen die Jagd auf Wale, lud gemeinsam mit Parteifreunden zu Diskussionsabenden ein, bei denen es um die Klimaerwärmung und eine saubere Umwelt ging, und verfasste Flyer, wenn mal wieder die eine oder andere Kommunalwahl vor der Tür stand. Ein entsprechendes Studium schien mit einem Mal der perfekte Weg für sie. Laila sprühte vor Ehrgeiz.

Nun, kurz vor dem Abschluss, überlegte sie, ob sie noch zwei Jahre für den Master dranhängen sollte, vielleicht in Biodiversität und Ökologie? Oder Global Change Ecology? Ja, sie spielte mit dem Gedanken, hatte sich aber noch nicht endgültig entschieden. Zuerst wollte sie ihre Bachelorarbeit mit bestmöglichem Ergebnis hinkriegen. Ihre Ansprüche waren hoch, wofür aber mehr ihre Leidenschaft als der Drang nach einer Karriere verantwortlich war. Finanziell ging es ihr jetzt schon gut.

Ihre verstorbene Mutter hatte ihr und ihren Brüdern neben der Hotelanlage auch ein kleines Erbe an Barmitteln hinterlassen. Aus dem Verkauf des alten Wohnhauses, auf den sie sich mit ihren Brüdern geeinigt hatte, war dazu eine ordentliche Summe für sie abgefallen. Ein Vermögen hatten sie dafür nicht bekommen, das Haus war wirklich uralt, reparaturbedürftig und im Grunde genommen abbruchreif gewesen. Den eigentlichen Wert hatten die rund 800 Quadratmeter Grund am Rand der Stadt ausgemacht – ihre Brüder verwendeten die kompletten Einnahmen für die Renovierung des Hotels. Obendrein war da auch noch dieses nicht unbeträchtliche Aktienpaket, das ihre Mutter vor langen Jahren angelegt hatte.

Von ihrem Erbanteil konnte Laila easy ihr Studium und ihren derzeitigen Lebensunterhalt finanzieren. Anders als ihre Brüder ließ sie den ihr zustehenden Anteil der Aktien unangetastet in ihrem Bankdepot. Für eine profitable Anlage musste man Zeit und Geduld mitbringen, hatte sie einmal gelesen. Und was brauchte sie schon in der kleinen Studenten-WG am Eichendorffring? 280 Euro Miete zahlte sie monatlich für ein 20-Quadratmeter-Zimmer. Die Uni lag so nah, da kam sie mit dem Fahrrad hin. Bei schlechtem Wetter packte sie den Regenschirm aus und lief. Essen konnte sie kostenlos im Hotelrestaurant ihrer Brüder und einen sicheren Nebenjob hatte sie dort auch. Wann immer sie eine größere Anschaffung oder eine Reise plante, ließ Manfred sie als Zimmermädchen, Bedienung oder Aushilfe in der Küche einspringen und bezahlte einen brüderlichfürstlichen Stundenlohn. Das Geld selbst zu verdienen, anstatt ihr Bankkonto dafür anzuzapfen, gab Laila ein gutes Gefühl. Und es tat von Zeit zu Zeit auch gut, das Hotel der Eltern wiederzusehen, selbst wenn sie es sich nie hatte vorstellen können, in den Betrieb einzusteigen – eine Entscheidung, die sich mit jedem vergangenen Jahr ihres Studiums mehr bestätigte.

Sie ging ihren eigenen Weg. Sich finanziell derzeit wirklich keine Sorgen machen zu müssen, gab ihr zusätzlichen Rückenwind. Auch ein Auto besaß Laila nicht. Wenn sie unbedingt mobil sein musste, nahm sie die Bahn oder den alten Nissan Qashqai, den ihr der Kommilitone und Parteifreund Lorenz Kutscher meist problemlos überließ, sofern er das Fahrzeug nicht selbst brauchte. Nächstes Jahr, wenn sie 28 wurde, warteten 250.000 Euro auf sie. Eine Menge Geld, das sie auch schon früher hätte beanspruchen können, aber dann wäre es Manfred und den Zwillingen wohl unmöglich gewesen, die Modernisierung des Hotels anzugehen.

Laila war absolut dafür, dass ihre Brüder das Erbe erfolgreich fortführten. Deshalb stundete sie ihnen die Auszahlung der Viertelmillion um knapp drei Jahre. Wenn sie sich das heute so überlegte … wer verfügte schon mit 28 über so ein großzügiges finanzielles Polster? Aus dieser Sicht sprach auch nichts dagegen, mit dem Master weiterzumachen. Absolut gar nichts!

Laila hatte sich zum Ziel gesetzt, ihren persönlichen Beitrag für eine saubere Umwelt zu leisten. Ein anspruchsvoller Job in der Abfallwirtschaft, der Recycling- und Entsorgungsindustrie oder auch etwas Naturnahes, das könnte sie sich gut vorstellen. Laila konnte sehr wütend werden, wenn sie über den weltweiten Plastikmüll nachdachte, der die Weltmeere verseuchte und für den Tod so vieler kleiner und großer Meereslebewesen verantwortlich war. Auch der Wald litt. Das merkte sie, wenn sie im nahen Fichtelgebirge unterwegs war; immer mehr Fichten waren geschädigt, starben einfach ab. Laila liebte eine intakte Natur, kämpfte dafür, dass mehr Laubbäume wie Buchen und Eichen in den einheimischen Gefilden ihren erneuten Platz fanden. Sie waren einfach strapazierfähiger als Fichten, die in zu trockenen Sommern hohen Schaden nahmen. Und es wurde immer wärmer. Wer das nicht begriffen hatte, dem war nicht zu helfen. Die verlogene und betrügerische Autoindustrie hätte sie dazu so gerne an den Pranger gestellt. Sie verstand die machthabenden Politiker nicht. Dass die nicht härter gegen die ganzen Lobbyisten und Vorstände der betroffenen DAXUnternehmen vorgingen! Eine einzige Mauschelei. Beschämend. Wenn sie Bundeskanzlerin wäre … Verkehrsministerin täte es für den Anfang auch …

Aber erst kam die Bachelorarbeit. Hervorragend müsste sie werden. Wie immer hatte Laila alles perfekt geplant und rechtzeitig vorbereitet. Als erstes hatte sie sich die Zusage ihrer Lieblingsprofessorin eingeholt, ihre Arbeit zu betreuen, dann hatten sie zusammen das Thema besprochen und festgelegt: „Der Einfluss der Klimaerwärmung auf den deutschen Wald“. Als Laila das Inhaltsverzeichnis ihrer Abschlussarbeit zu Papier gebracht hatte, stimmte sie sich erneut mit ihrer Betreuerin ab. Die gab ihr noch den ein oder anderen wertvollen Hinweis, mit welcher Literatur sie sich auf jeden Fall befassen sollte. Mit „Mischwälder in Deutschland“ war sie längst durch. Auch „The fossil history of Fagus“ hatte sie wie einen Thriller von Hitchcock verschlungen. 30 Seiten ihres Manuskripts standen bereits und sie hatte noch zwei Monate Zeit, alles fertigzustellen und abzugeben. Mit ihren bisherigen Studienleistungen war sie recht zufrieden. Im Moment lag sie bei einer Durchschnittsnote von 1,3 und Laila hatte nicht vor, diesen Wert durch das Ergebnis ihrer Bachelorarbeit zu verschlechtern.

Wer Laila nicht kannte, hätte sie nun vielleicht für eine Streberin halten können, die nur ihr Studium im Kopf hatte. Dabei war sie nur sehr gut darin, Prioritäten zu setzen. Nie hatte man sie in den letzten Jahren mit jungen Männern angetroffen, obwohl die meisten von ihnen sich öfter als einmal nach ihr umdrehten, wenn sie in Bayreuth unterwegs war. Sie war eine außerordentlich hübsche junge Frau mit einer langen, glatten blonden Mähne, die ihr bis weit in den Rücken fiel. Ihre intelligenten grünen Augen versprühten Lebenslust und wenn sie lachte, bildeten sich links und rechts auf ihren Wangen kleine Grübchen, die sie auf Anhieb sympathisch wirken ließen. Mit schlanken ein Meter 75 besaß Laila eine Topfigur, an der kein einziges Gramm Fett störte.

Im Grunde waren ihre drei Brüder der Auslöser, weshalb ihr so selten der Sinn nach männlicher Bekanntschaft stand – beziehungsweise die Art, wie sie mit ihr in der Kindheit umgesprungen waren. Nicht, dass Manfred, Günther oder Karl sie je misshandelt hätten, niemals! Es war schlicht das überhebliche, chauvinistische Gehabe der älteren Brüder, das sich bei Laila übel eingeprägt hatte. Immer war sie die Kleine. Nie nahmen sie sie mit auf ihre abenteuerlichen Eskapaden. Sie störte nur. Sobald sie alt genug war, um im Haushalt mitzuhelfen, blieb alle Drecksarbeit an ihr hängen. Abspülen, Putzen, Einkaufen gehen und so weiter und so fort. Die Herren drückten sich, wo es nur ging. Nie hatten sie ein Lob für sie übrig, nie ein gutes Wort der Anerkennung. Wenn sie für jede herablassende Bemerkung, jede gemeine Stichelei und jeden schlechten Witz auf ihre Kosten einen Cent bekommen hätte, müssten Manfred und die Zwillinge ihr nächstes Jahr keine 250.000 Euro mehr zahlen, das wäre längst erledigt.

Auf solche Typen konnte sie verzichten. Leider liefen von dieser Sorte überall genug herum. Außerdem – sie hatte neben dem Studium und ihrer politischen Arbeit gar keine Zeit für das andere Geschlecht. Und dann war da ja noch ihre Aushilfsstelle im Hotel. Zum Glück hatte sich der Ton ihrer Brüder ihr gegenüber in den letzten Jahren deutlich verändert. Mochte sein, dass das früher wenig geschwisterliche Verhältnis einfach an der traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter gelegen hatte? In der Welt herumstreifende Jungs gegen die braven Mädchen zuhause? Seit sie zur Frau gereift war, für sich selbst einstand und ihr Schicksal in neue Bahnen lenkte, war es deutlich herzlicher geworden. Manfred war gerade mal sieben Jahre älter als sie, die Zwillingsbrüder Günther und Karl fünf. Kein allzu großer Unterschied. Mittlerweile hatten sie alle eine Art Waffenstillstand geschlossen und Laila kam mit ihnen gut zurecht, vor allem mit Karl, dem ruhigsten der drei Rabauken.

Springer und Sturm
Vorletzte Juliwoche

Das Paar stammte aus der Gegend vom Niederrhein, er aus Xanten, sie aus Wesel. Es war das erste Mal, dass sie nach Franken reisten, der Bayreuther Festspiele wegen. Sie wussten, dass es so manchen Promi in der letzten Juliwoche auf den „Grünen Hügel“ trieb, so auch dieses Jahr wieder. Kanzlerin Angela Merkel hatte sich genauso angesagt wie die Showgröße Thomas Gottschalk und Fürstin Gloria von Thurn und Taxis. Knapp 75.000 Einwohner zählte die Stadt, sagte ihnen das Internet. Wie es mit den Hotelkapazitäten stand, wussten sie nicht genau, also hatten sie bereits im Januar im Hotel „Richard Wagner“ gebucht, die Siegfried-Suite sollte es sein. Die Homepage hatte einen guten Eindruck gemacht und beide waren einen gehobenen Hotelstandard gewohnt. Geld spielte keine besonders große Rolle, sie mussten nicht auf den letzten Pfennig achten.

Die Festspiele würden am 25. Juli mit „Tristan und Isolde“ beginnen. Das Stück war nichts für Heiko Springer und seine Begleiterin. Nicht, dass das Liebesdrama um den Königssohn und seine große Liebe Isolde ihn und Annalena Sturm nicht interessiert hätte, aber sie hatten sich dieses erste Mal in Bayreuth Größeres vorgenommen: die komplette vierteilige Inszenierung des „Ring des Nibelungen“.

Vor allem Heiko liebte das mittelalterliche Heldenepos, das Wagner als Vorlage für seinen Opernzyklus gedient hatte. Auf dem Schwarzmarkt hatte er Unsummen für die Eintrittskarten ausgegeben. Sie freuten sich.

Am Montag, den 27. Juli sollte der Vierteiler mit „Rheingold“ starten. Zwei Tage zuvor kamen Heiko und Annalena in Bayreuth an. Sie wollten die Gelegenheit nicht versäumen, sich neben dem Festspielhaus auch die anderen Sehenswürdigkeiten der oberfränkischen Metropole anzusehen. Ganz oben auf ihrer Liste stand die Parkanlage der Bayreuther Eremitage mit ihren vielen Wasserspielen, der schwungvollen Orangerie und dem Sonnentempel, auf dessen Kuppel Apoll, Gott des Lichts und der Musik, seine Rösser zum schnellen Lauf anspornte. Leider war das Markgräfliche Opernhaus – weitaus älter als das Festspielhaus und 2012 als UNESCO-Weltkulturerbe ausgezeichnet – nicht zugänglich, die Renovierungsarbeiten sollten sich noch über die nächsten drei Jahre hinziehen, hieß es. Wie die Eremitage war der barocke Bau ein Vermächtnis der Markgräfin Wilhelmine, Gattin des einstigen Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth und Lieblingsschwester von Friedrich dem Großen; jene Frau, die so viel für die Stadt getan hatte. Das Neue Schloss im Stadtzentrum mit dem Hofgarten wollten Heiko und Annalena sich aber auf jeden Fall ansehen. Das hatten sie sich fest vorgenommen.

Die beiden 30-Jährigen waren auf den ersten Blick ein etwas seltsames, auf jeden Fall aber auffallendes Paar. Er schlank und einen Meter 89 groß, mit breiten Schultern, muskulösen Armen und schmalen Hüften, einem kantigen Gesicht und blonden Locken, die ihm bis in den Nacken fielen. Seinen aufmerksamen himmelblauen Augen entging nichts und die dunklen, langgebogenen Brauen gaben seinen Zügen eine gewisse Eleganz.

Nicht so seine Begleiterin. Sah man sie durch die Straßen Bayreuths flanieren, kam einem nicht unbedingt das Wort „Eleganz“ in den Sinn. Nicht, dass sie grobschlächtig oder gar korpulent gewesen wäre, auch sie hatte kein Gramm Fett zu viel am Körper. Dennoch stolperte so manch männlicher Blick über ihre breiten Schultern und die stahlharten Muskeln ihrer Oberarme und Waden, die ihr Sommerkleid frei ließ. Annalena war durchtrainiert. Kein Wunder, sie hatte sich seit frühen Teenagertagen der Leichtathletik verschrieben. Diskuswerferin. Beinahe hätte ihr Talent für die Aufnahme in den Kader des Nationalteams ausgereicht, doch mittlerweile war sie froh, einem Beruf mit gesichertem Verdienst nachzugehen und dem Sport nur in der Freizeit treu geblieben zu sein. Trotzdem fehlte ihrem Äußeren einfach die weibliche Leichtigkeit. Dazu kam ihr Blick: selten heiter, meistens hart und unnahbar, ein bisschen streng, man könnte auch sagen misstrauisch. Überhaupt wirkten ihre Gesichtszüge eher männlich. Annalenas herausragendstes weibliches Merkmal war ohne Frage ihr Busen. Sie trug ihn mit Stolz. Als Sportlerin war eine aufrechte Körperhaltung für sie selbstverständlich, sie lief fast schon mit einem Hohlkreuz herum und reckte ihre beiden Attribute unübersehbar von sich. Zu allem Überfluss trug sie meistens auch noch einen Push-up-BH, der ihre einzigen Rundungen aus jedem noch so züchtigen Ausschnitt quellen ließ.

Wie Heiko und Annalena genau zueinander standen, wussten nicht einmal ihre wenigen gemeinsamen Freunde und Bekannten. Waren die zwei ein festes Liebespaar oder schliefen sie nur miteinander, wenn es ihnen gerade gut in den Terminplan passte? Eine Art Zweckgemeinschaft, in der sich beide nicht unsympathisch fanden und sowohl Nähe als auch Flexibilität genossen? Niemand wurde aus ihnen so richtig schlau. Sei’s drum, es war ihr Leben. Solange sie miteinander auskamen und es ihnen gefiel … zumindest waren beide begeisterte Sportler und glühende Opernfans.

*

Als sich Heiko bei ihrer Ankunft in Bayreuth in das Anmeldeformular des Hotels „Richard Wagner“ eintrug, zögerte er für einen kurzen Moment.

Das Formular fragte ihn nach seiner Berufsbezeichnung … hmm, Börsenhändler, Finanzberater, Investor? Wenn sich seine steile Karriere weiter so hervorragend entwickelte, vielleicht bald schon Privatier?

„Ist doch egal, was ich reinschreibe“, sagte er sich und kritzelte schnell den „Finanzberater“ ins entsprechende Kästchen.

Da sollte er sich gewaltig täuschen. Die drei Kolb-Brüder interessierte es außerordentlich, wie ein Investor, Börsenhändler und Finanzberater sein Einkommen bestritt, und vor allem, wie er das seiner Kunden vermehrte.

1 009,31 ₽
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Возрастное ограничение:
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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390 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783862223695
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