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3. Zeit und Raum oder wie wir eine Realität definieren, die nur relativ ist

Die größte Erfahrung, die wir machen können, ist die des Unfassbaren.

Albert Einstein

Unser Wissen hat Grenzen. Über das, was sich hinter diesen Grenzen verbirgt und was wir nicht verstehen, können wir nur Vermutungen anstellen und aus unserer geistigen und emotionalen Disposition heraus auf das Unbekannte projizieren. Es entstehen Bilder und Vorstellungen, die uns das Unbegreifliche begreifbar machen sollen, und wir ordnen diesen Bildern einen Wahrheitswert zu, der zur Kategorie „Glaube“ gehört.

Leben ohne Glauben?

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass ein Mensch ganz ohne Glauben zu leben vermag und bei seinen Entscheidungen nur jene Fakten zulässt, die als Wissen gesichert sind. Er wäre damit einem Roboter vergleichbar, dessen Wissen auf Programmen beruht, die ihn steuern, auf Datenbanken oder auf interaktiven Verbindungen zur Außenwelt. Sie alle ermöglichen es dem Roboter, sich zuverlässig, schnell und umfassend in der auf ihn reduzierten Welt zu bewegen und Leistungen zu erbringen, die oft weit über menschliche Fähigkeiten hinausgehen. Fehler sind so gut wie ausgeschlossen.

Was aber geschieht, wenn er aus seinem vertrauten Arbeitsfeld herausfällt oder dieses sich durch nicht vorhersehbare Ereignisse verändert? Wenn zum Beispiel bei einem Roboter, der ein Auto steuert, der Wagen plötzlich in einen Wirbelsturm gerät und von der Straße gefegt wird? Der Androide steht dann vor einer Situation, die in seiner Wissensbank nicht vorgesehen ist, und wird daher vermutlich völlig sinnlose Aktionen durchführen, die alles bloß noch schlimmer machen.

Zwar besitzen Roboter in ihren komplexeren Ausführungen ein Gehirn, das dem des Menschen nachgebildet ist und über neuronale Netze verfügt, die aber genauso deterministisch funktionieren wie eine Maschine und daher den Roboter nicht „retten“, wenn er in massive Schwierigkeiten gerät.

Anders beim Menschen.

Wenn dieser in eine Situation gerät, die er mit seinen Erfahrungen und seinem Wissen nicht mehr meistern kann, wird er versuchen, das Neue und Unbekannte zu verstehen, und so eine Basis für angemessene Reaktionen schaffen. Dazu muss er zwangsläufig dem ihm nicht Bekannten Eigenschaften zuordnen, aus denen sich eine Strategie zur Bewältigung der neuen Situation herleiten lässt. Diese Eigenschaften kann er dann zu Theorien ausbauen, die er als real und absolut betrachtet und an denen er sich orientieren kann.

Und diese neuen Eigenschaften und Theorien sind Glaubensinhalte.

Ohne diese wäre der Mensch nämlich in unbekannten Situationen genauso verloren wie der Roboter im Straßengraben. Glaubensinhalte sind notwendig und essentiell zum Bewältigen des Neuen und damit zum Überleben. In diesem Sinne kann Glaube in schwierigen Situationen Hoffnung, Trost und Zuversicht vermitteln und damit die Basis zur Überwindung von Problemen sein. Bereits Voltaire, der große französische Philosoph des 18. Jahrhunderts, hat gesagt: „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.“

Weil das Nichtwissen in seiner Gesamtheit größer ist als das Wissen, stehen wir oft vor unlösbaren Problemen, wenn wir allein das Wissen zur Problemlösung zulassen. Und so gelangen wir – ob wir es wollen oder nicht – zu Glaubensinhalten.

Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass es für ein sinnvolles Leben unmöglich ist, an nichts zu glauben.

Wer an nichts glaubt, kann sich nämlich in einer ausweglosen Situation nicht befreien. Was einem tief im Menschen verankerten Bestreben zuwiderliefe, für die Beherrschung einer Notlage Strategien zu finden, selbst wenn das Wissen versagt – und deshalb greift er bereitwillig auch auf unbewiesene Glaubensinhalte zu. Glaube und Wissen sind also gleichermaßen wichtig und notwendig für ein gelingendes Leben, wobei der Glaube uns zudem den Sprung in eine neue Sichtweise ermöglicht, die uns erweiterte Perspektiven bietet und uns aus Erstarrung und Isolation befreien kann.

Im Gefängnis unserer Erkenntnis

Nehmen wir an, jemand müsste seit seiner Geburt völlig isoliert in einem fensterlosen Raum leben, dürfte sein Gefängnis nie verlassen und sein einziger Kontakt zur Außenwelt wäre eine Person, die ihm täglich Essen, Kleidung und andere notwendige Dinge bringt. Was passiert, wenn ebendiese Person eines Tages erzählt, sie habe mehrere Stunden im Wald verbracht?

Wald, was ist ein Wald? Der Eingesperrte hat keine Ahnung, fragt danach und erhält zur Antwort: „eine Ansammlung von vielen Bäumen“. Aber was ist ein Baum? Er beginnt nachzudenken, muss sich in seinem Gehirn ein Modell zusammenzimmern, das den Informationen von „Wald“ entspricht, die seine Kontaktperson ihm geliefert hat. Wald besteht aus Bäumen. Ein Baum hat Zweige und Blätter. All diesen Dingen muss der isoliert Lebende ein Bild aus der eigenen Erlebniswelt zuordnen. Bloß wie sieht diese Erlebniswelt aus? Vier Wände, einige Möbel, Tapetenmuster, Teller, Besteck, Kleidung und Dinge, die man essen oder mit denen man sich waschen kann und so weiter. Mehr kennt er nicht, mehr hat er nie zu Gesicht bekommen. Folglich ist „Wald“ für ihn eine Ansammlung von Dingen, die sich zum Beispiel im Tapetenmuster, in Gemüse oder Salaten, die man ihm vorsetzt, widerspiegeln. Er versucht, den Schilderungen, wie ein Wald aussieht, möglichst nahe zu kommen, doch seine imaginierten Bilder sind weit von der Realität entfernt und sehr rudimentär.

Wenngleich zwischen ihnen ein logischer Zusammenhang besteht, der sich aus den Schilderungen der Kontaktperson sowie aus eigener Denkarbeit herleitet, ist es unmöglich, mit dieser begrenzten „Weltanschauung“ die Welt draußen hinreichend zu erklären. Genauso unmöglich, wie einem Blinden die Farbe Grün begreifbar machen zu wollen.

Leben wir eventuell auch in einem solchen fensterlosen Raum?

Die Wände dieses Zimmers sind Raum und Zeit – Raumzeit nennen die Physiker dieses Gebilde, aus dem wir nicht herauskönnen, wovon bereits die Rede war. Hier geht es nun um einen anderen Aspekt: Wenn unsere Bilder raumzeitlich sind, dann sind es die Elemente unserer Weltanschauung, unserer Sicht auf die Welt ebenfalls – wir vermögen uns einfach keine Gegebenheiten vorzustellen, die außerhalb von Raum und Zeit liegen. Unsere Zimmersicht und Zimmerlogik kann höchstens sehr unvollständige Bilder liefern.

Oder um es beispielhaft zu formulieren: Aus einfachen Holzklötzchen eines Kinderbaukastens kann man kein Auto mit Verbrennungsmotor bauen, weil die Grundelemente – die Klötzchen – einfach zu rudimentär sind. Und es steht zu vermuten, dass es sich mit den raumzeitabhängigen Bildern in unserem Gehirn ebenso verhält. Zumindest weisen Berichte über Nahtoderfahrungen darauf hin und scheinen zu bestätigen, dass wir in einer reduzierten Welt leben.

Nahtoderlebnisse – durch einen Tunnel zum Licht

Es handelt sich hier um Aussagen von Menschen, die bereits klinisch tot waren und erfolgreich reanimiert werden konnten. Sie erlebten angeblich Vorgänge, von denen sie sagten, dass sich diese nicht genau beschreiben ließen, weil unsere Sprache nicht ausreiche, um das Erlebte verständlich darzustellen. Es sei, als würde ein Maler eine Farbe sehen, die es in unserer Welt nicht gibt und die er dennoch beschreiben soll. Viele Patienten betonten dieses Unvermögen. Nicht wenige schwiegen sogar lange über ihre Erfahrungen, weil sie befürchteten, nicht ernst genommen zu werden.

Die Erlebnisse variieren zwar, sind aber in ihren wesentlichen Merkmalen ziemlich konstant. Die Betroffenen berichteten ziemlich übereinstimmend, dass sie ihren Körper verlassen und über allem schwebend die Bemühungen der Ärzte beobachtet hätten. Von einer Art Tunnel war die Rede, durch den sie hindurchgingen, in dem sie ihr Leben an sich vorbeiziehen sahen und an dessen Ende sie von einem Licht angezogen wurden, das sie als befreiend bezeichneten. Viele trafen auf verstorbene Angehörige und Freunde.

Nahtoderfahrungen sind übrigens historisch dokumentiert. So berichtete Sokrates über einen griechischen Soldaten, der angeblich in einer Schlacht getötet worden war. Als der Leichnam bestattet werden sollte, stellte sich heraus, dass er noch lebte. Er sei an einen herrlichen Ort gereist, wo Richter über Gerechte und Ungerechte urteilen würden. Diese hätten ihn aufgefordert, ins Leben zurückzukehren, um von seinen Erlebnissen zu berichten, soll der junge Mann gesagt haben. Die Geschichte wurde nicht von Sokrates selbst, sondern von seinem Schüler Platon überliefert.

Der niederländische Kardiologe Pim van Lommel befragte mit einem Team 344 Patienten, die einen Herzstillstand erlitten hatten und reanimiert worden waren – 18 Prozent von ihnen hatten ein Nahtoderlebnis. Allerdings gibt es van Lommel zufolge keine wissenschaftliche Erklärung für dieses Phänomen. Einige Neurologen nehmen gehirnphysiologische Ursachen an, ohne sie jedoch naturwissenschaftlich beweisen zu können. Auch Sauerstoffmangel wird zur Diskussion gestellt. Wieder andere halten es für möglich, dass diese Erlebnisse nicht durch biologische Vorgänge hervorgerufen werden, sondern dass eine echte außerkörperliche Erfahrung vorliegt. Vielleicht, so argumentieren Verfechter dieser These, konnten die Patienten ja die Aktivitäten der Ärzte während ihres Herzstillstands beobachten und deshalb alle Einzelheiten zur Verblüffung der Mediziner so genau schildern. Was sich in gewisser Weise mit den Berichten betroffener Reanimierter deckt.

Die Meinungen der Fachleute sind geteilt, Spekulationen jeder Art blühen und gedeihen. Unstrittig scheint jedoch zu sein, dass die wiederbelebten Personen das, was sie gesehen haben, nicht in raumzeitliche Bilder übertragen können. Ein Zweiundzwanzigjähriger drückte es folgendermaßen aus: „Einerseits erlebte ich Bild nach Bild, dennoch waren sie alle gleichzeitig da. Es gab weder Raum noch Zeit.“

Fazit: Unser raumzeitliches Denken gestattet es uns offenbar nicht, existierende Phänomene oder Gegebenheiten außerhalb von Raum und Zeit so zu erkennen, dass wir deren Wesen voll erfassen.

Teilwahrheiten, Vorurteile, Verallgemeinerungen

Bilder bestimmen unser Denken. Sie sind Grundelemente, aus denen wir wiederum höherwertige Bilder und Vorstellungen „basteln“, wobei sich die sogenannten letzten Wahrheiten nicht in Bilder fassen lassen, da sie transzendent sind und sich uns auf diese Weise entziehen.

So wissen wir zum Beispiel nicht, warum das Universum entstand, wie sich Leben entwickeln konnte, was dunkle Materie und dunkle Energie im Weltraum sind, was die Ursache vieler Krankheiten ist und so weiter und so fort. Die Erkenntnis, dass unser Wissen Grenzen hat, ist wie ein Stachel im Fleisch der Wissenschaft, zugleich aber ein starker Motor, sich den Dingen auch anders zu nähern. Schließlich ist dem Menschen der Drang zu eigen, sich eine möglichst umfassende Übersicht über die Dinge des Lebens zu verschaffen. Und so stellt er zu den Phänomenen, die er sich nicht erklären kann, Theorien und Hypothesen auf.

In Bezug auf die existenziellen Fragen des Lebens sind das religiöse Vorstellungen – übergeordnete Konstrukte, wie wir sie in allen Kulturen, von den primitiven Lebensgemeinschaften in Urwäldern und Savannen bis hin zu den hochentwickelten Gesellschaften, finden. Anders ausgedrückt: Stoßen wir mit unserer Weltsicht an Grenzen und lässt sich die Frage nach Echtheit und Wahrheit mit den vertrauten wissenschaftlichen „Werkzeugen“ nicht mehr klären, dann erschaffen wir uns eine Vorstellung, wie es sein könnte oder sein sollte. Eine Realität, die eine Art relativer Wahrheit ist. Bildlich: Wir stempeln eine Sache ab, und die Aufschriften auf den Stempeln geben an, wie wir uns das Unbekannte denken. Und so wie amtliche Stempel ein Gütesiegel darstellen, bezeugt die Aufschrift unseres Stempels die Gültigkeit einer auf uns bezogenen, relativen Wahrheit.

Diese „Grenzstempel“, wie man sie nennen könnte, markieren unsere Realität, in der wir uns bewegen, und reklamieren eine Wahrheit, die wir nur selten in Zweifel ziehen. Mit ihnen verbindet sich ein Teil unserer Identität, sie ergänzen das Bild, das wir uns von der Welt wünschen oder das zu unserer ganzheitlichen Vorstellung der Welt passt. Zu unserer wohlgemerkt: der eines Individuums, einer Partei, einer Religionsgemeinschaft oder eines Staates. Andere haben andere Vorstellungen und setzen andere „Grenzstempel“, was dann leicht zur Ursache für Streit und im großen Rahmen sogar für Kriege werden kann.

Eine besondere Rolle bei dieser Art der gegenseitigen Ab- und Ausgrenzung spielen Vorurteile, weil sie Kenntnisse, die eigentlich allein für einen begrenzten Bereich gelten, verabsolutieren. Partielle Wahrnehmungen werden jetzt ganzheitlich erfahren. Wozu das im schlimmsten Fall führen kann, belegt ein Beispiel aus der Geschichte.

Als 1945 die Rote Armee deutsches Territorium erreichte, kam es zu zahlreichen brutalen Übergriffen der russischen Soldaten: Vergewaltigungen, willkürliche Verhaftungen und Schikanen waren an der Tagesordnung. Keine Frage, dass es sich vor allem um Reaktionen auf den von Hitler als „Vernichtungskrieg“ deklarierten Feldzug gegen die Sowjetunion handelte, die am Ende immerhin mehr als zwanzig Millionen Opfer zu beklagen hatte, die meisten davon Zivilisten. Verständlich, dass sich solch ungeheure Verbrechen ins Bewusstsein der russischen Soldaten eingebrannt hatten.

Da blieb kein Raum für eine relativierende Geschichtsbetrachtung. In den Augen der Rotarmisten waren alle Deutschen ausnahmslos verantwortlich und sollten bestraft werden. Dass nicht alle Anhänger Hitlers waren und es auch Nazigegner gab, das vermochten sie nicht zu differenzieren. Ihre persönliche Wahrnehmung der Naziverbrechen wurde total und ganzheitlich – sie wurde zum Vorurteil.

4. Wie Weltanschauungen entstehen oder warum man sich für eine bestimmte Sicht der Dinge entscheidet

Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.

Alexander von Humboldt

Obwohl wir die übergeordnete Wirklichkeit weder erkennen noch verstehen können, machen wir uns ein Bild davon. Religionen, Atheismus, Ideologien und Esoterik, sie alle basieren auf Glauben, und fast alle Menschen sind in dieses Spektrum eingebunden. Wie aber kommt diese Sicht zustande? Dieser Frage wollen wir im Folgenden auf den Grund gehen.

Fast jeder von uns verfügt über Vorstellungen und Bilder, die das Unbekannte der übergeordneten Wirklichkeit beschreiben sollen. Und diese machen in ihrer Gesamtheit das aus, was man als Weltanschauung bezeichnet. Sie ist gewissermaßen eine Sammlung abgespeicherter Informationen, die als Kompass für unsere Lebensführung dienen. Und der Glaube, der über das Wissen hinausgeht, ist ein wesentlicher Teil davon.

Unsere Weltsicht oder Weltanschauung wird durch drei Faktoren geformt und gebildet:

– durch die in der Kindheit und Jugendzeit vermittelte Sicht der Welt,

– durch Zeitgeist und Umwelt,

– durch eigene Gedanken und die daraus resultierenden persönlichen Entscheidungen.

Grundsteinlegung in der Kindheit

Bereits die ersten Erfahrungen, die gesteuert und initiiert werden von Eltern, Geschwistern, Großeltern, bilden die Basis für die Persönlichkeitsstruktur. Das Kind übernimmt für seine Weltschau üblicherweise die Sicht seiner engsten Bezugspersonen sowie deren Wertesystem und Religion. Alles wird unbewusst akzeptiert und als eigene Norm in den kindlichen Charakter eingepflanzt. Gleiches gilt übrigens später für Lehrer und Pädagogen im weitesten Sinne – auch sie übertragen ihre eigene Ansicht und Weltschau auf die Kinder.

Mit anderen Worten: Kinder sehen die Welt zunächst einmal mit den Augen anderer.

Zwangsläufig, denn ein Heranwachsender vermag dem, was Autoritätspersonen an ihn herantragen, nichts entgegenzusetzen – schließlich besitzt er noch keine Gegenbilder. Was nicht selten von gewissenlosen „Verführern“ in allen möglichen Bereichen ausgenutzt wird. Das reicht von der Drogenszene über Jugendgangs bis hin zu religiöser, weltanschaulicher und politischer Manipulation. Ob gut oder schlecht, die Erfahrungen der Kindheit bilden die Basis, auf der sich „Weltsicht“ entwickelt. Aus Gerichtsakten wissen wir, dass Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, leichter kriminell werden als solche, die behütet aufgewachsen sind. Und selbst bei Tieren scheinen die Anfangsbedingungen ihre Spuren zu hinterlassen. Mäuse, die man nach der Geburt täglich drei Stunden von der säugenden Mutter getrennt hatte, entwickelten sich deutlich vorsichtiger und ängstlicher als ihre normal aufgezogenen Artgenossen.

Die Verankerung des Weltbilds

Die Sicht auf die Welt, die sich in Kindheit und Jugend festgesetzt hat, wird mit der Zeit tiefenpsychologisch als Lebensmuster verankert. Dieses wiederum wirkt wie ein Fundament, auf dem durch stetige Veränderungen das Gebäude der Weltanschauung errichtet wird. Psychotherapeuten bezeichnen es auch als Lebensskript, das ebenso negativ wie positiv besetzt sein kann. Allerdings spielt neben Erfahrungen aus der Kindheit auch die psychische Disposition eine Rolle. Der eine mag durch schlechte Erfahrungen abrutschen, der andere durch bestärkende Erlebnisse ein hohes Maß an innerer Sicherheit und Selbstbewusstsein erreichen. Beides ist möglich.

Positiv ist jedenfalls, wenn ein Kleinkind eine feste Bezugsperson hat. Indem es unbewusst deren Sicht übernimmt – meist handelt es sich um die Mutter –, gewinnt es eine Sicherheit, die ihm später hilft, sein Leben zu bewältigen. Fehlt eine solch feste Bindung und das Kleinkind hat mit wechselnden Personen zu tun, die ihm verschiedene Lebenssichten anbieten, kann das schnell zu einer fundamentalen Unsicherheit führen.

Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine Längsschnittstudie des „National Institute of Child Health and Human Development“ (NICHD), bei der 1100 amerikanische Familien aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten untersucht wurden. Das Ergebnis: Kinder zeigten sowohl im Kindergarten als auch im Grundschulalter umso größere soziale Schwierigkeiten, je länger sie im Alter von null bis drei Jahren fremdbetreut wurden. Desgleichen fielen sie in ihren schulischen Leistungen gegenüber Kindern mit festen Bezugspersonen zurück. Besonders im Alter von zehn Jahren hatten Kinder mit wechselnder Fremdbetreuung erhebliche Probleme.

In diesem Sinne muss das Lebensskript wie ein Kleid verstanden werden, das man sein Leben lang trägt. Es wird verändert, passt sich neuen Gegebenheiten an, wird vom Zeitgeist beeinflusst und kann nach Jahren oder Jahrzehnten sogar völlig neue Formen annehmen. Aber es ist die Grundausstattung, mit der ein Mensch seinen Lebensweg beginnt.

Wie sehr dieses Lebensskript formt, zeigt sich auch darin, dass die meisten Menschen, die religiös erzogen wurden, ihre Religion nicht wechseln. Es sind Grundpositionen, die sich so eingeprägt haben, dass sie nur schwer zu verändern sind. Ähnliches gilt für eine atheistische Erziehung. In den neuen Bundesländern, der ehemaligen DDR also, sieht man das schon daran, dass die Kirchenzugehörigkeit um etwa 50 Prozent unter dem Westdurchschnitt liegt.

Unser Lebensskript wird zwar von außen gebildet und lange Zeit von außen beeinflusst, aber diese frühkindliche Prägung stellt weder ein unabwendbares Schicksal noch eine Erfolgsgarantie dar, denn in der Pubertät kommt die Stunde der Wahrheit. Jetzt entscheidet der junge Mensch selbst, ob er sich weiterhin an den durch die Erziehung eingepflanzten Bildern und Ansichten orientieren will oder sich anderen Idealen zuwendet.

Einflüsse von Zeitgeist und sozialem Umfeld

Mit der Ausprägung der Weltanschauung verhält es sich ähnlich wie mit dem körperlichen Wachstum. Ist Letzteres abgeschlossen, gibt es nur noch marginale Veränderungen. Ebenso in der Weltsicht: Ist die Erziehungsphase beendet und hinsichtlich der Weltanschauung eine Grundstruktur erreicht, ist mit grundstürzenden Verwerfungen meist nicht mehr zu rechnen. Es sei denn, es handelt sich um außergewöhnliche Vorgänge wie etwa manipulative Verführungen durch radikale Sekten oder politische Demagogen – besonders wenn der Zeitgeist oder das jeweilige Umfeld solche Tendenzen begünstigen.

Beide darf man nicht unterschätzen, denn beide nehmen großen Einfluss auf die charakterliche Entwicklung im Erwachsenenalter. Oft leider in unheilvoller Weise. „Was viele für richtig halten, kann nicht falsch sein.“ Ein gefährlicher Satz, der schon viele blind gemacht und manch einen verführt hat. Aber es ist einfacher, sich dem durch Medien und Internet geprägten Mainstream anzuschließen, als gegen den Strom zu schwimmen, denn das kostet Kraft und Mut und bringt viele Nachteile. Also arrangieren sich nicht wenige mit dem, was „modern“ oder gerade „in“ ist.

Andere entscheiden sich überhaupt nicht und gehen ganz einfach den Weg des geringsten Widerstands. Für sie gilt das Prinzip der Bequemlichkeit, des größten Nutzens oder des maximalen Genusses. Was wiederum zumeist dem Zeitgeist entspricht, der oft auf seichten, genussorientierten Oberflächlichkeiten basiert und nicht selten in die Banalität führt.

Und so torkeln viele im Schlepptau der gerade herrschenden Meinung durchs Leben. Ohne Halt, ohne Orientierung und ohne Wertmaßstäbe, die helfen könnten, damit verbundene Missstände und Gefahren zu erkennen.

Wie sehr persönliches Umfeld und Zeitgeist den Charakter und damit die Weltsicht beeinflussen können, zeigt eine Untersuchung der Universitäten Mainz und Herdecke. Auf der Grundlage von Abhörprotokollen aus britischen und amerikanischen Gefangenenlagern untersuchten der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer und der Historiker Sönke Neitzel Verhalten und Denken von Wehrmachtssoldaten, die an Judenerschießungen teilgenommen hatten. Heraus kamen eine erschütternde Innenansicht des Krieges und ein verstörender Einblick in die Macht des damals herrschenden Zeitgeistes, konkret der nationalsozialistischen Ideologie. So erklärte einer der abgehörten Soldaten: „Am ersten Tag ist es mir furchtbar vorgekommen. Danach habe ich gesagt: Scheiße, Befehl ist Befehl. Am zweiten und dritten Tag habe ich gesagt: Das ist ja scheißegal, am vierten Tag, da habe ich meine Freude daran gehabt.“

Dieser Soldat war nur einer von vielen, die so dachten. Dabei waren sie vor 1933 zumeist ganz normale Polizisten gewesen oder hatten in einem zivilen Beruf gearbeitet. Viele Polizeibeamte wurden vor Beginn des Russlandfeldzugs zu den sogenannten Einsatzgruppen abkommandiert, andere, meist SS-Mitglieder, meldeten sich freiwillig. Ihre Aufgabe war es, im Gefolge der Wehrmacht die eroberten Gebiete zu „säubern“. Vor allem von Juden. Da dies in Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Ideologie, dem damaligen Mainstream, geschah, wurden die Massenerschießungen als „normal“ eingestuft. Die Einstellung des Umfelds wurde zum eigenen Maßstab.

Wobei diese unheilvolle Instrumentalisierung, bei der das individuelle Denken gleichgeschaltet wird, keine Erfindung der Moderne ist. So etwas gab es zu allen Zeiten, im alten Rom ebenso wie im europäischen Mittelalter. In der Zeit der Hexenprozesse, zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert starben allein in Deutschland etwa zweieinhalbtausend Menschen, vornehmlich Frauen, auf dem Scheiterhaufen.

Es waren regionale Missernten, Krankheiten und persönliche Unglücksfälle, für die man nach Ursachen und Schuldigen suchte. Die mittelalterlichen Menschen wussten nichts von Meteorologie, von Viren, Bakterien und von Ansteckung. Trotzdem oder gerade deshalb brauchten sie eine Erklärung. Und die fanden sie in den Vorstellungen ihrer Zeit, die an böse Kräfte, den leibhaftigen Teufel und eben an Hexen glaubte, die mit den Mächten der Finsternis im Bunde waren. Sie waren der Sündenbock, an dem man sich schadlos hielt. Die Folge waren Hexenprozesse, Folter und öffentliche Verbrennungen. Überall loderten die Scheiterhaufen.

Ein schreckliches Beispiel und doch typisch für menschliches Verhalten: Wenn Dinge, weil sie nicht verstanden werden, existenzielle Ängste erzeugen, sucht man in der Gedankenwelt seiner Zeit nach Erklärungen, um als bedrohlich empfundenen Ereignissen ihre Unheimlichkeit zu nehmen. Nach dem Wahrheitsgehalt wird nicht gefragt – es sind sozusagen Erklärungen ohne Gewähr, die als absolut wahr betrachtet werden.

Einen Glaubenssprung nennt man das.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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142 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783532600122
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