Читать книгу: «Jude sein», страница 3

Шрифт:

5
BRIEF AN DAVID FLUSSER

Merano, March 14, 73

Lieber Gusta,

danke für deinen Brief vom 1. 3. Ich habe vorgezogen, angesichts der Nebulosität deiner Loewener Adresse, der weiten Reise, des nur relativen Interesses an flämischer Kunst (…) und meiner Arbeit an einem kürzlich zu erscheinenden Buch, auf eine Begegnung mit dir mit Bedauern zu verzichten … Wollen wir es also schriftlich versuchen? Einer Reise nach Israel steht nämlich meine Ambivalenz gegenüber dem Judenstaat entgegen: ich kann nicht als Tourist kommen, und fürchte, wenn ich anders komme, mich entweder für oder gegen zu engagieren. (Du weißt, daß ich, im Gegensatz zu dir, als Junge Zionist war, weißt aber vielleicht nicht, daß mein Zionismus zusammenbrach, als mich die Katastrophe von 1939 in eine existentielle Grenzsituation warf.) Wollen wir unserer beider Stellung zum Judentum als Ausgangspunkt unserer Responsenliteratur nehmen?

Jahrzehnte hindurch habe ich das Judenproblem verdrängt, und zwar sowohl aus äußeren Gründen (in Brasilien standen und stehen ganz anders geartete Probleme im Vordergrund) als auch aus inneren (die emotionelle und intellektuelle Erfahrung der Bodenlosigkeit führte mich auf Umwegen über Wittgenstein und Heidegger, und über den Orient, eher in die Nähe der katholischen Mystik). Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Die rituale Handlung (vielleicht: Mizwa?), die mir im Zentrum des Judentums zu stehen scheint, erscheint mir jetzt als »acte gratuit«, als absichtslose Geste, als Ausdruck des absurden Daseins, und darum als im kierkegaardschen Sinn die wahre Form des religiösen Lebens. Der jüdische Ritus zeigt sich mir als das Gegenteil von Magie (nämlich als antipragmatisch), und darum als eine mögliche Antwort auf die Ethik des Massenkonsums einerseits, und die Ethik der Effizienz des Apparats auf der andern. Er zeigt sich mir als spielerische Geste, falls man unter »Spiel« etwas Sakrales versteht (etwa wie Nietzsche) und den »homo ludens« als eine mögliche Zukunft des Menschen ansieht.

Diese meine neue Einstellung zum jüdischen Ritual erlaubt mir zwar, in ihm die Wurzeln einer jeden »reinen« Handlung zu sehen (im kantischen Gegensatz zu »praktisch«) und auch, mich in der Kunstkritik um eine »rituale Ästhetik« zu bemühen. (Darüber vielleicht ein andermal.) Aber sie erlaubt mir natürlich nicht, orthodoxer Jude zu werden. Erstens, weil mir dazu der Glaube fehlt (im Sinn von »fides«, aber vielleicht auch im Sinn von »gratia«), und zweitens, weil mir die Praxis der Orthodoxie fehlt und weil sie mich, offen gesagt, abstößt. Außerdem erlebe ich in dieser Sache etwas, was viele Katholiken der Kirche gegenüber erleben: enttäuschte Liebe. Wenn nämlich mein Verständnis des Judentums richtig ist, dann heißt Jude sein: für den anderen dasein. (Die Liebe zu Gott geht über den Nächsten, der Ritus ist Öffnung zum Nächsten, weil zur Transzendenz usw.) Aber die Wirklichkeit des Judentums (und nicht zum wenigsten des Judenstaats, der ja vom Judentum nur schwer zu trennen ist) erscheint mir eher als Verschlossenheit und Selbstbehauptung, historisch (und jetzt auch geographisch) völlig erklärlich und zum Teil wahrscheinlich berechtigt, aber das Problem ist ja gerade, daß historische und geographische Koordinaten, weil sie immanent, also »praktisch« sind, das Wesen des Judentums als ritualen Daseins leugnen. Mit anderen Worten: die jüdische Wirklichkeit widerspricht diametral dem Bild, das ich mir vom Judentum mache.

Selbstredend läßt sich antworten, daß hier eine dialektische Spannung besteht, daß die rituale These eine politische Antithese herausfordert und daß ein irdisches Jerusalem (etwa im Sinne Agnons) eine mögliche Synthese dieser Spannung darstellt. Man kann dann den Judenstaat (und die jüdische Orthodoxie) als Prozesse in Richtung dieser Synthese lesen. Aber solche talmudisierenden Turnübungen des Intellekts führen nicht zu einer existentiellen Entscheidung für oder wider. Das ist der Grund, warum ich mich fürchte, nach Israel zu fahren. Man kann nicht Tourist dort sein, wo das irdische Jerusalem (oder zumindest Gerusalemme liberata) stehen sollte.

Vielleicht antwortest du auf diese Fragen, (denn das sind sie) … Sei du und deine Frau von der Edith und mir auf das herzlichste begrüßt.

6
DIE ENTTÄUSCHUNG
Rehovot, 8. 5. 80

PLATON SCHÄTZT das kontemplative Leben höher als das aktive, weil er der Meinung ist, daß in der Kontemplation der Ideen die Weisheit liegt und nicht in ihrer Anwendung. Wer versucht, Ideen in der Natur anzuwenden (z. B. ein Dreieck in den Sand zu zeichnen), wird feststellen, daß die angewandten Ideen entstellt wurden (die Winkelsumme nicht mehr genau 180 Grad ausmacht). Das gezeichnete Dreieck, dieses Kunstwerk, das das Resultat menschlicher Arbeit ist, die darauf hinzielt, die Natur zu verändern, wird weder Weisheit noch Glück bringen, sondern nur falsche Meinungen, »doxai«. Das aufgezeichnete Dreieck wird zweifellos den Sand ändern, ihn »informieren«.

Diese platonische Lehre hat in der Philosophiestunde nichts Melancholisches an sich, man darf nur nicht vergessen, daß jede Theorie in der Praxis entstellt wird. Wenn wir uns diese platonische Idee in Israel ins Gedächtnis rufen, dann verzweifeln wir an der Unmöglichkeit, Ideen in der Praxis durchzuführen. Wir verzweifeln auch an der Opferwilligkeit, mit der Juden Ideen verwirklichen möchten. Das Dreieck, das Juden aus der ganzen Welt, mit großem Leiden und Heroismus, mit großer Hoffnung, in den Sand von Palästina gezeichnet haben, hat zweifellos grundsätzlich den Boden verändert. Seine Winkelsumme hat aber keine 180 Grad, und dieses wirkliche Malheur wird von nah und fern beobachtet. Was man in Israel bemerkt, wenn man die platonische Idee im Kopf hat, ist der Schiffbruch des mit großem Aufwand angewandten Idealismus und die Kleinlichkeit der theoretischen, nicht engagierten Kritik. Ich kann mir kein trostloseres Schauspiel vorstellen.

Dieses Schauspiel ist relativ neu. Die Mehrzahl der Erbauer des Staates Israel glaubten, bis zum Sechstagekrieg im Jahr 1967, wenigstens in groben Zügen das Modell einer gerechten, humanen Gesellschaft realisieren zu können. Aus der Entfernung applaudierte dazu die Mehrzahl des interessierten Publikums. Später haben verschiedene Faktoren die Szene geändert. Mit der Besetzung der eroberten Gebiete wurde den Erbauern des neuen Staates die Gebrechlichkeit des moralischen Fundaments ihres Unternehmens bewußt. Als erpresserische Waffe hat das Öl das Publikum davon zurückgehalten, weiterhin zu applaudieren. Das schlechte Gewissen, das das Publikum den Juden gegenüber hatte, hat in den Ausschreitungen des jüdischen Staates das Ventil für die gerechte Empörung gefunden. Diejenigen, die das Land aufbauen wollten, haben begonnen, zu sich selbst das Vertrauen und zugleich die moralische Unterstützung des Publikums zu verlieren. Es führte nicht zum Defätismus: Ich glaube, daß die Israelis weiter bereit sind, ihr Leben zu opfern, ganz selbstverständlich, ohne eine große Geste von Patriotismus. Meiner Meinung nach handelt es sich um kein Opfer zugunsten irgendeines Ideals, sondern um Selbstverteidigung. Ein Opfer von enttäuschten Menschen.

Die trostlose Szene des Todes von Idealen ist relativ neu. Sollte die platonische Ansicht richtig sein, dann liegt die Niederlage der zionistischen Idee in ihrer Anwendung, Palästina am Ende des letzten Jahrhunderts zu kolonisieren. Folgt man Plato, müßten bereits jene, die aus den eisigen russischen und polnischen Dörfern in die heiße Wüste eines verlorenen Winkels des ottomanischen Imperiums auswanderten, nachdem sie in den Talmudschulen oder durch die verbotene marxistische Literatur Gerechtigkeit und Nächstenliebe gelernt hatten, ihre Ideen »verraten« haben. Tatsächlich fehlt es nicht an jenen, die so denken. Die orthodoxen Ultra-Fundamentalisten, die in Mea Shearim*, wie Mujiks im 18. Jahrhundert angezogen, auf am Sabbat fahrende Autos Steine werfen, verneinen den jüdischen Staat, weil sie, ähnlich wie Plato, behaupten, daß das Judentum kontempliert werden muß und nicht angewandt werden darf. Die orthodoxen Marxisten, ebensolche Ultra-Fundamentalisten, wie es die Fanatiker in Mea Shearim sind, welche aber nicht in Jerusalem leben, sondern im Parlament und auf Universitäten der kapitalistischen und sozialistischen Staaten, behaupten gleichfalls, daß ohne vorhergehenden Klassenkampf der Sozialismus nicht zu verwirklichen ist.

Die fundamentalistischen Einwände, von rechts oder von links, gegen den Zionismus erfassen indessen nicht das platonische Problem. Das Problem ist dialektisch, schließt die Beziehung zwischen Idee und Wirklichkeit ein. Die Tragödie des Zionismus, wie sie sich heute zeigt, liegt im Keim im Widerspruch zwischen der Idee, die angewandt wurde, und der Wirklichkeit, die verändert wird. Es gab zu Anfang wenigstens zwei einander widerprechende, aber ineinandergreifende Ideen: die religiöse und die marxistische. Es gab zwei soziale Wirklichkeiten, die hätten geändert werden sollen: diejenige der in der Welt verstreuten Juden und diejenige der von den Türken unterworfenen Araber, die auf dem Land lebten. Als ob ein Zeichner zur gleichen Zeit ein Dreieck und einen Kreis in Sand und in Stein zeichnen wollte. Als ob der Zionismus ein übertriebenes Beispiel für die Theorie und gegen die Praxis wäre.

Eben weil er auf etwas Unmögliches mit der allergrößten Hingabe zielt, ist der Zionismus tragisch. Bevor ich mit meinen eigenen Augen das Experiment gesehen habe, konnte ich nie verstehen, warum sich die Menschheit vor einem so großartigen Schauspiel nicht mit Bewunderung verbeugt. Von Kosakenhorden verfolgt, von fortgeschrittener nazistischer Technologie erstickt, von islamischen Fanatikern hingemordet, versammeln sich die Reste der dekadenten, erschöpften Gemeinschaft, nicht um Zuflucht zu suchen und in Frieden zu sterben, sondern um ein Modell für eine zukünftige Gesellschaft aufzubauen. Nicht für sich selbst, sondern für die anderen werden sie zu Pionieren – vor dem feindlichen Blick der etablierten weltlichen und religiösen Mächte. Es ist tatsächlich unglaublich, daß sie es fast schaffen. Warum also hält die ganze Menschheit, die diesem spannenden Drama zusieht, nicht den Atem an? Warum erniedrigt sie sich durch kleinliche, größtenteils impertinente Kommentare? Jetzt, wo ich anwesend bin, verstehe ich ihre Einstellung. Die Tragödie ist ein widerwärtiges Schauspiel, das illustriert, daß jedes Engagement für Ideen unvernünftig und vergeblich ist. Würden wir Prometheus am Kaukasus zusehen, würden wir seine Leber sehen und sie kritisieren. Das gestohlene Feuer hätten wir, wie im Fall von Israel, längst vergessen.

* geschlossenes orthodoxes Stadtviertel von Jerusalem

7
EINE FRAGE VON MODELLEN

IM HAUS MEINES COUSINS David Flusser, Historiker des Frühchristentums an der hebräischen Universität in Jerusalem, folgte dem Shawuot* eine Diskussion über die Dynamik des Judentums. Der Last des Chamsin** folgte das bleiche, transparente Licht, in das Jerusalem getaucht war und das vom griechischen Wort »Hierophanie« (das Durchschimmern des Heiligen) erfaßt wird. Wir hatten uns im Garten versammelt, um die letzten Strahlen zu genießen. Unter uns gab es Akademiker, Theologen und Politiker. Meine Frau und ich waren die einzigen Vertreter der Diaspora. Bei dieser Gelegenheit hat sich David Flusser, auf beinahe rituelle Weise, auf die Lehren des Ioshua ben Iossef Rabenu (Jesus, Sohn des Joseph, unseren Meister) berufen.

Das existentielle Klima ist in Jerusalem (in ganz Israel) dramatisch religiös: in einem ganz spefizischen, mit dem Handeln verbundenen Sinn religiös. Ganz schematisch kann gesagt werden, daß es drei religiöse Haltungen im Juden-Christentum gibt; die der Tat, des »Werkes« (das Judentum), die der Tat und des Glaubens, »opera et fides« (der Katholizismus) und die des Glaubens, »sola fide« (der Protestantismus). Das Klima in Jerusalem, in ganz Israel, ist, so gesehen, jüdisch religiös. Es ist eine Gesellschaft, die dem Akt des »Opferns« gewidmet ist, und sogar diejenigen, die ihren religiösen Glauben (den jüdischen oder marxistischen) verloren haben, sind zu Opfern bereit: sie würden ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder zugunsten von Israel, das in letzter Analyse die Bejahung Gottes ist, aufopfern. Es gibt diejenigen, die an diese Aufgabe glauben, andere bezweifeln sie, und es gibt die, die die Hoffnung verloren haben; praktisch alle sind aber zum Opfer bereit: sie leben religiös. Wenn wir »Drama« mit »Handeln« übersetzen, dann ist das Klima dramatisch. Die Israelis sind »Aktoren« im Sinn von »dramatis personae«. Bei der Schilderung der Diskussion, die ich wiedergeben will, muß man sich dieses Klima vorstellen.

Die Diskussion drehte sich um Agonie, den offenen Todeskampf. Es gab Protagonisten, die für das sich selbst bejahende Judentum kämpften. Und es gab Antagonisten, die sich für ein weltoffenes Judentum einsetzten. Mein Standpunkt war der eines Antagonisten. Ich habe ein pulsierendes Judentum vorgeschlagen, habe unser Herz als Modell genommen: die Phasen der Systole, in denen sich das Judentum auf sich selbst zurückzieht, und die Phasen der Diastole, in denen sich das Judentum über die Menschheit ergießt. Als Beispiel für die Systole habe ich den Auszug aus Ägypten, die Makabäer und die Zionisten gewählt. Ich habe zugegeben, daß die Diastole nur möglich ist als Folge einer vorangehenden Systole, die ihrerseits auf eine Diastole hinzielt. Ich habe auf die bekannte hegelsche These vom unglücklichen Bewußtsein verwiesen: »Wenn wir die Welt gewinnen, verlieren wir uns, und wenn wir uns finden, verlieren wir die Welt.« Die anwesenden Protagonisten haben meine Position vehement bekämpft, die im israelischen Kontext tatsächlich den Beigeschmack von Verrat hat. David Flusser hat bei dieser Gelegenheit, auf seine Weise, an die Figur von Christus erinnert.

Der verlorene Bericht

Wer die von David Flusser geschriebene Biographie von Jesus gelesen hat, wird die Bedeutung des vorangegangenen Satzes verstehen: Jesus als zentrale Figur in der Geschichte des Judentums und »ipso facto« in der Geschichte der ganzen Menschheit, da die jüdische Tradition der ganzen Menschheit das historische Bewußtsein vermacht hat. Jesus ist nach Moses die zweite Revolution im geschichtlichen Bewußtsein, weil er die Bedeutung der menschlichen Existenz in jüdischen und zugleich universellen Begriffen ausdrückt. Gewiß kann Jesus nur von demjenigen verstanden werden und nur der kann ihm folgen, der die konkrete historische Situation richtig erfaßt hat: z.B. den talmudischen Kontext, innerhalb dessen er handelt, und den Kontext, in welchem der jüdische Krieg gegen die Römer vorbereitet wird. Trotzdem geht seine Botschaft über die Geschichte hinaus: er weist auf die existentielle Bedeutung hin, die die Umstände übersteigt.

Wollen wir ihm folgen und ihn nachahmen, ist es demnach notwendig, reicht aber noch nicht aus, über die christliche Tradition auf die historische Figur von Jesus zurückzugehen. Schleier um Schleier verdeckt die christliche Tradition eher die Figur von Jesus, als daß sie sie enthüllt: Die mittelalterliche Philosophie verdeckt die Kirchenväter, diese verdecken den Hl. Paulus, letzterer verdeckt die verschiedenen Evangelien, diese verdecken das »originale« Evangelium und dieses wiederum verdeckt den Meister. Die Schuld an den einander überlagernden Verdeckungen trägt zum Teil die Vergessenheit, wie sie einer lang zurückliegenden Vergangenheit eigentümlich ist, und zum anderen Teil die bewußte Unterdrückung der jüdischen Dimension von Jesus durch die christlichen Autoren, die daran interessiert sind, sich vom Judentum, das die Römische Kirche verneint, zu distanzieren. Diese antisemitische, infolgedessen selbstmörderische Tendenz des christlichen Denkens gibt es sogar in den Evangelien selbst, die ihr Augenmerk eher auf die Griechen und Römer richten als auf die Juden. Deshalb ist auch der Protestantismus unbefriedigend, der mit der Rückkehr zu den Quellen nach der Figur von Jesus sucht, aber über die Evangelien nicht hinausgeht. Daher die Nachforschungen von David Flusser, die darauf abzielen, das Evangelium des Hl. Markus kritisch zu lesen, um den originalen, verlorenen Bericht wiederherzustellen.

Derjenige, der Jesus nachfolgen will (imitatio Christi), muß selbstverständlich wissen, wer Jesus war. Der römische Zenturion, der beim Anblick von Jesus, ohne von dessen Lehre etwas zu kennen, ausrief, »dieser Mensch ist Gott«, kann nicht als Nachfolger Christi angesehen werden. Auch historische Kenntnis, in dem Maße, wie sie verfügbar ist, reicht nicht aus. Es ist nötig, die ganze Bürde des Judentums, die auf Jesus lastet und die er auf eine neue Art formuliert, zu begreifen: um Jesus folgen zu können, muß man Jude sein. Das ist für die Nicht-Juden das Paradox und der Skandal des Christentums: Wer Christ sein will, muß zuerst Jude werden. Obwohl diese Tatsache von der christlichen Tradition verhüllt ist, schimmert sie doch durch.

Jesus ist ein systolischer und zugleich diastolischer Jude (um es mit den von mir vorgeschlagenen Worten zu sagen). Systolisch, weil er die ganze jüdische Botschaft auf sich nimmt und weil er »nur für die Juden gekommen ist«. Und zugleich diastolisch, weil er sich in seiner Botschaft an die ganze Menschheit wendet und auf sie Einfluß nimmt. In der Tat ist Jesus, in seinen Worten wie in seinen Taten, ein vollständiges Modell des Judentums, für die Juden und ebenso für die ganze übrige Menschheit. Wer ihn im Leben nachahmen will, muß danach trachten, radikal und vollständig jüdisch zu leben. Man kann behaupten, daß Modelle einer anderen ontologischen Ebene als der konkreten menschlichen Wirklichkeit angehören. Das Modell der Nachfolge von Jesus hingegen transzendiert die konkrete menschliche Ebene.

Unerträgliche Modelle

Obwohl dies meine eigene Interpretation der Figur von Jesus ist, und nicht die von David Flusser, glaube ich, daß sie organisch seiner Berufung auf Jesus während der Diskussion, die ich beschrieben habe, folgt. Die Kenntnis dieses so reichen, schwierigen und heute so wichtigen epistemologischen und politischen Modells, die Berufung auf Ioshua ben Iossef Rabenu, konnte das Gespräch, das folgte, nicht unberührt lassen. Es wurde schon nahegelegt, daß »Jude sein« im Grunde bedeutet, Modelle vorzuschlagen: die jüdische Familie als Modell für Familie, der jüdische Staat als Modell für Staat, der Kibbuz als Modell für Gemeinschaft, um »systolische, der Marxismus als Modell für Revolution, Schönbergs System als Modell musikalischer Komposition, Husserls Phänomenologie als Modell wissenschaftlicher Forschung, um dyastolische Belege für die These anzuführen. Ich habe vorgeschlagen, als Ursache für den Antisemitismus anzusehen, daß die Modelle, seien sie gut oder schlecht, umfassend oder beschränkt, konsistent oder inkonsistent, grundsätzlich unerträglich sind, weil sie sich der konkreten Wirklichkeit imperativisch aufdrängen. Für diejenigen, die mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen stehen, seien die Juden, die nach Modellen (Mizwot*) leben, unerträglich.

Das Gespräch führte zum Zionismus und zum jüdischen Staat. So gesehen ist der Zionismus ambivalent: einerseits versucht er die Juden von dem Modell, eine Mission zu haben, zu befreien, indem er sie zu einem Volk macht wie jedes andere auch, und andererseits schlägt er das Modell des vorbildlichen jüdischen Lebens vor. Sogar die glühenden Verteidiger des Überlebens des Staates Israel »unter allen Umständen« haben zugegeben, daß irgendein levantinischer Staat, wie Syrien zum Beispiel, kein der Nachahmung würdiges Ziel ist. Meiner Ansicht nach ist das die Erklärung der Tatsache, daß das israelische Drama eine Tragödie im wahren Sinn des Wortes ist: Sollte ihm Erfolg beschieden sein, ist es erst recht zur Niederlage verurteilt. Israel ist ein heroischer Akt gegen das »Schicksal«, denn jeder jüdische Staat, in einen historischen und geographischen Kontext integriert, muß notwendigerweise ein Staat unter allen anderen werden und wird ipso facto kein Modellstaat sein.

Die Anwesenden waren mit mir nicht einverstanden, doch schienen mir ihre Argumente nicht treffend. Aus Angst, sie zu verfälschen, werde ich sie nicht wiedergeben. Die Position meines Cousins, David Flusser, war nuancierter als meine eigene und die der anderen Teilnehmer. Ihm liegt daran, Jesus zu folgen und zu versuchen, ein erfülltes jüdisches Leben hic et nunc zu führen, ein Leben, das mit seinen Riten und seinem dramatischen Klima gleichzeitig im Judentum und im aktuellen Strom der Philosophie, der Wissenschaft und Kunst integriert ist. Sollte es der jüdischen Gesellschaft gelingen, ein solches, fast unmögliches Leben zu erreichen, wäre das Problem der Zukunft des Staates in der Praxis gelöst. Die modellhafte Praxis (die »Frucht« von Jesus) ist allen Theorien, die unsere griechische Erbschaft sind, überlegen. Die Zukunft des jüdischen Staates mit allen seinen unlösbaren Problemen wie dem Zusammenleben mit den Arabern, einer Wirtschaft, die immer mit Kriegen rechnen muß und der Lage im Kreuzpunkt zwischen den Großmächten wird in dem Maße einer Lösung nähergeführt, wie es den Juden in Israel und anderswo gelingt, in der Praxis jüdisch zu leben.

Der Standpunkt von David Flusser (sollte es mir gelungen sein, ihn treu wiederzugeben) ist streng religiös. Es ist der Standpunkt des Juden-Christentums. Er selbst definiert ihn, in seiner gewohnten Ironie, als »vor-emanzipatorischen Zionismus«. Wie auch immer: Israel im jetzigen Kontext besucht und David Flusser als Führer und Gesprächspartner gehabt zu haben, war eine Art Gnade. Man wird aufgefordert, sein eigenes Leben neu zu bedenken und neu zu werten: das Judentum unter neuen Koordinaten zu suchen.

* Fest der Erstlingsfrüchte, 50 Tage nach Pessach

** ein Wüstenwind

* Plural von Mizwa (hebr. »Gebot«): ursprüngliche Bezeichnung für die Gesamtheit der religiösen Ge- und Verbote des Judentums.

Бесплатный фрагмент закончился.

956,63 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
201 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783863935597
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают