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Markus Kneer | Schwerte

geb. 1972, Dr. theol., Priester, Lehrbeauftragter für Islamwissenschaft an der PTH Münster

markuskneer@gmx.de

Emmanuel Mounier und die Spiritualität der Begegnung

Emmanuel Mounier (1905–1950) ist als einer der Vordenker des christlich inspirierten Personalismus in Frankreich bekannt geworden und hat die bis heute existierende Revue Esprit mitbegründet, deren Chefredakteur er bis zu seinem Tod war. Sein Denken ist immer noch in romanisch-sprachigen Ländern – anders als in Deutschland und Österreich – präsent. Sein letztes und bekanntestes Werk, Le personnalisme, erlebte 19 Auflagen (eine Übersetzung ins Deutsche steht immer noch aus).

Dieser Beitrag ist jedoch nicht dem theoretischen Werk Mouniers gewidmet, sondern seiner Praxis. Unter Praxis wird hier die Art und Weise verstanden, mit der Mounier Menschen in den Gesprächen, die er mit ihnen führte, oder in den Kontexten, die sie zusammenführten, begegnete. Dass wir dies nachvollziehen können, ist der Veröffentlichung der jeweils mit Entretiens überschriebenen 14 Hefte zu verdanken, in denen Mounier Notizen über ebenjene Begegnungen festhielt.1 Um zu erfassen, worin die Besonderheit dieser Entretiens liegt, die uns berechtigen, hier von einer „Spiritualität der Begegnung“ zu sprechen, soll hier zunächst die Person desjenigen vorgestellt werden, der die Entretiens verfasst hat. In einem zweiten Schritt werden Mouniers Reflexionen über seine Praxis dargelegt, um dann zuletzt exemplarisch drei der von ihm dokumentierten Begegnungen in den Blick zu nehmen.

Emmanuel Mounier – eine biographische Skizze

Emmanuel Mounier wird am 01.04.1905 als Kind eines Apothekenangestellten und dessen Frau in Grenoble geboren.2 Die Familienverhältnisse sind bescheiden, aber harmonisch. Seine ältere Schwester Madeleine wird ihm Zeit seines Lebens immer eine Vertraute bleiben. Die Mouniers sind praktizierende Katholiken. Nach dem Baccalauréat beginnt er 1921 auf Wunsch seiner Eltern zunächst ein Medizinstudium, wechselt aber nach einem Jahr zur Philosophie. Schnell wird der Pascal- und Bergson-Spezialist Jacques Chevalier (1882–1962) auf ihn aufmerksam und nimmt ihn in eine philosophische Arbeitsgruppe auf, der u.a. der Philosoph Jean Guitton angehört. Die Protokolle, die er von den Sitzungen der Gruppe anfertigt, bilden dann auch das erste Heft (Cahier) der Entretiens. Parallel dazu besucht er am Grenobler Priesterseminar Christologie-Vorlesungen des Abbé Émile Guerry, die ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Modernismus und der historisch-kritischen Exegese stehen. Durch Abbé Guerry, der sich stark für die Katholische Aktion einsetzt, animiert, engagiert sich Mounier in dessen Gemeinde auch karitativ. Nach erfolgreichem Studienabschluss in Grenoble (mit einer Arbeit über Descartes) geht Mounier 1927 nach Paris, um sich auf die Agrégation, die nationale Prüfung zur Anstellung als Gymnasiallehrer, vorzubereiten. Die Anonymität der Stadt macht ihm zu schaffen. Im Januar 1928 stirbt sein bester Freund Georges Barthélémy nach kurzer, schwerer Krankheit. Seine theologischen Studien verfolgt er in einer Art Privatunterricht bei dem von einem Lehrverbot wegen Modernismus betroffenen Lazaristenpater Guillaume Pouget (1847–1933). Er wird in der Folgezeit Lehrer an verschiedenen Gymnasien und arbeitet zugleich an einer Dissertation über den spanischen Mystiker Johannes ab Angelis. In den Weihnachtsferien entdeckt er die Schriften des Dichters Charles Péguy für sich. Später wird er mit einem Freund und dem Sohn Péguys sein erstes Buch über das Denken Péguys verfassen. Mounier frequentiert Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre auch den Kreis, der sich um den zur katholischen Kirche konvertierten Philosophen Jacques Maritain (1882–1973) gebildet hat. Zugleich besucht er die katholischorthodoxen Treffen, die von Maritain und Nicolas Berdiaeff (1874–1948), dem aus der Sowjetunion emigrierten Existenzphilosophen, in Meudon und Clamart abgehalten werden (auch für diese Treffen legt er Cahiers an).

Esprit

Mit anderen jüngeren Leuten reift schließlich der Gedanke, eine eigene Bewegung mit einem dazugehörigen Organ zu begründen. Daraus entsteht die Revue Esprit, deren erste Nummer im Oktober 1932 erscheint. In ganz Frankreich entstehen Esprit-Gruppen, in denen die Losung der Bewegung, „Refaire la Renaissance“, und weitere Impulse diskutiert werden. Mounier ist Chefredakteur, arbeitet aber gleichzeitig als Lehrer an der französischen Schule in Brüssel. Dort lernt er seine spätere Frau, die Belgierin Elsa „Paulette“ Leclercq (1905–1991), kennen. Sie werden 1935 heiraten.

Der Neubeginn, den Esprit anstoßen will, ist durch die Krise von 1929 ausgelöst. Jedoch führen die Personalisten die Krise nicht allein auf wirtschaftliche und soziale Gründe zurück, sondern in erster Linie auf ein reduktionistisches Menschenbild, welches das isolierte „Individuum“ in den Mittelpunkt stellt, das der Welt und den anderen Menschen aus Distanz begegnet. Dagegen entdecken sie in der „Person“ einen Gegenbegriff, der gar nicht ohne andere Personen zu denken ist.

Entdeckung der Person

Die Personalität des Menschen zeigt sich in grundlegenden Erfahrungen. Diese führen zu der Einsicht, dass Personen immer schon in der Welt engagiert und mit anderen Personen verbunden sind. Eine dieser Erfahrungen ist die Kommunikation, die jedem Für-sich-sein vorausgeht.3 Daher kommt neben dem grundsätzlichen Nachdenken über den Menschen als Person auch der Einsatz in konkreten Kontexten zur Sprache: Esprit nimmt Stellung zu den zeitgenössischen politischen Fragen (z.B. Spanischer Bürgerkrieg, Appeasement-Politik, Nationalsozialismus). Vor kirchlichen Autoritäten muss sich die Revue hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit mit Nichtkatholiken rechtfertigen. In der Familie stehen Emmanuel und Paulette vor der Herausforderung, dass eine ihrer Töchter, Françoise, an einer Gehirnkrankheit leidet. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Mounier eingezogen und gerät in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung versucht er, Esprit weiterzuführen und das totalitär ausgerichtete Vichy-Regime subversiv zu kritisieren. Das Vorhaben fliegt auf und er wird inhaftiert (in Lyon, Clermont-Ferrand, Grenoble, wo er Gefängnistagebücher führt, die Teil der Entretiens sind), tritt in Hungerstreik, wird schließlich entlassen und zieht sich mit seiner Familie in den kleinen Ort Dieulefit südwestlich von Grenoble zurück. Nach der Befreiung Frankreichs ist Esprit die erste intellektuelle Revue, die wieder erscheint. Familie Mounier und weitere befreundete Familien ziehen auf das Anwesen „Les Murs Blancs“ in Chatenay-Malabry in der Nähe von Paris, um dort in einer Art personalistischer Kommune zu leben. In der Nachkriegszeit bereist Mounier eine ganze Reihe europäischer Länder (u.a. Deutschland) sowie das unter französischer Kolonialherrschaft stehende Westafrika. Es entstehen neben den vielen Beiträgen für Esprit einige Monographien wie Traité du caractère, Introduction aux existentialismes, L’affrontement chrétien, Le personnalisme und schließlich Feu la chrétienté. Am 22.03.1950 stirbt Emmanuel Mounier an Herzstillstand.

Warum schreibt Mounier die Entretiens?

Wer die 14 Cahiers und drei Journaux d’un détenu zur Hand nimmt, findet unterschiedliche Textgattungen, wie die ersten Protokolle der Grenobler Arbeitsgruppe, Gefängnistagebücher oder Reflexionen, warum Mounier diese Notizen festhält – so z.B. am 20.06.1935, also in dem Jahr, in dem er Paulette heiratet, was für ihn auch eine Zäsur in Hinsicht auf die Entretiens bedeutet: „Immer weniger Zeit, sofort Notizen zu machen. Doch sind sie nützlich. Vor einigen Jahren waren sie es aufgrund des lyrischen Bedürfnisses, des Bedürfnisses, mit mir einen Dialog zu führen, mein inneres und privates Leben eingeschlossen, welches ohne Spiegel umhergeirrt wäre. Seit ich Poulette kenne, seit es vor allem kein beabsichtigtes Geheimnis mehr zwischen uns gibt, Dinge, über die man nicht spricht, ist sie mein Spiegel und mein Schreibzeug. Auch das, was ich ihr gegenüber nicht ausspreche, stößt nicht mehr auf eine Mauer der Abwesenheit, welche es zu sich zurückströmen lässt. Deshalb ist hier, um der Überbelastung abzuhelfen, nur noch von äußeren Ereignissen die Rede, einem Bruchteil meines Lebens, für dessen Ortung ich gerade noch die Zeit habe, ohne all ihre Resonanzen benennen zu können. [Die Notizen sind] jedoch von Nutzen, um mich nicht über ihre wahre Geschichte zu täuschen, wenn ich später darüber Zeugnis abzulegen habe, worin ich mich überall eingemischt habe, oder bloß, um mich in dem zurechtzufinden, was daraus hervorgeht. Um mir nicht selbst die Vergangenheit passend zu machen, wenn ich ein Alter erlange, wo man zurückschaut, um das zu regeln, was uns an Zeit bleibt.“ (539f.) Die Notizen haben also den Sinn, ihrem Verfasser selbst den Spiegel vorzuhalten – eine Aufgabe, die endet, als er ein vorbehaltloses Leben mit seiner Lebenspartnerin beginnt.

„Seelendialog“ und Zeugnis

Neben dieser Funktion des Seelendialogs (vgl. Platons Sophistes 263 e 3–5) gibt es aber auch noch die Zeugnisfunktion der Cahiers: Mounier will sich der tatsächlichen Ereignisse versichern, um gewissermaßen ein zukünftiges Wahrheitsarchiv gegen sich selbst, d.h. seine Erinnerung, anzulegen. Die innere wie die äußere Funktion zeigen das Spannungsverhältnis, in der sich die menschliche Person befindet: Das eigene Selbst meditierend, aber immer in Beziehung zur Welt und zu den anderen Personen, die dadurch ein Recht auf ein „wahres“ Zeugnis erlangen.

Die anderen Personen treten aber nicht erst im Nachgang zur eigenen Person hinzu, sondern sind ihr immer schon ko-präsent. Mouniers Notizen modellieren daher nicht seine Begegnungen nach seinem Gusto, sondern bezeugen die Gegenwart der eigenen Person in der Gegenwart der anderen Personen – und sind diese nicht vorhanden, tritt an ihre Stelle in Anlehnung an die platonische Dialogdefinition ein „innerer Gesprächspartner“: „Die wichtigste von allen [unseren Arbeitsmethoden] ist die, dass die Intelligenz ein Werk des Dialogs ist. Wenn sie niemanden hat, mit dem sie in Dialog treten kann, erschafft sie sich selbst einen imaginären Gesprächspartner, um mit sich selbst in Dialog zu treten. Ihre Erfahrung besteht darin, dass der Monolog tötet. Sie kennt ihn und nennt ihn fixe Idee, und die fixe Idee treibt in den Wahnsinn. Eine physische Kraft geht ihren Weg geradeaus und alle Widerstände, die ihr begegnen, sind für sie nur Reibungsverluste. Eine Idee lebt nur dadurch, dass sie sich auf diese Widerstände stützt. Sie festigt sich durch ihre Opposition, vervielfacht sich durch ihr Netz, entsteht durch ihre Kontaktnahmen.“4 Erkenntnis ist also nicht, wie in cartesianischer oder kantischer Perspektive, die alleinige Leistung eines Subjekts, sondern immer schon in einen intersubjektiven Prozess eingebunden, und das Gespräch ist in diesem niemals etwas Zweitrangiges. Diese philosophische Positionierung, die Mounier stark an die zeitgenössischen phänomenologischen Arbeiten eines Maurice Merleau-Ponty und die personalistischen eines Maurice Nédoncelles heranrücken, ist an dieser Stelle wichtig, um zu verstehen, dass auch seine Notizen diesen intersubjektiven Prozess widerspiegeln.

Als Person Personen begegnen

Die Entretiens werden hier also als die praktische Umsetzung von Mouniers personalistischem Ansatz verstanden, oder vielleicht eher andersherum: Aus seinen Begegnungen erwächst in gewisser Weise seine philosophische Position – und die Notizen dokumentieren die Erfahrungen, auf denen der Personalismus gründet, weil die Begegnung des Selbst mit anderen als eine universelle menschliche Grunderfahrung interpretiert wird. In den Entretiens zeigt sich, was es heißt, eine Person zu sein und als Person zu leben. Dass dieser Anspruch nicht nur von außen an die Texte herangetragen wird, sondern dass auch Mounier eine „personalistische Praxis“ intendierte, geht aus einem Brief hervor, den er an seine spätere Frau Paulette am 01.09.1933 schreibt. Rückblickend auf sein bisheriges Leben heißt es dort: „Personen zu begegnen, das erwartete ich vom Leben.“5 Und in Le personnalisme heißt es darüber, wie man die Person „beweisen“ könne: „[M]an lebt öffentlich die Erfahrung des personalen Lebens und hofft, damit eine große Anzahl zu überzeugen, die wie Bäume, Tiere oder Maschinen leben.“6 Denn darin besteht „das Paradox der personalen Existenz: Sie ist die eigentlich menschliche Art und Weise der Existenz. Und doch muss sie unablässig errungen werden.“7 Die Entretiens lassen sich also sowohl als Zeugnis des (inter-)personalen Lebens als auch als Aufruf dazu lesen.

Spiritualität des Gesprächs

In ihnen spiegelt sich zudem eine Art „Spiritualität“ oder „Meditation“ des Gesprächs und der zwischenmenschlichen Begegnung, die Mounier in sich als Verantwortung „spürt“: „Ich bin ein Mensch der Konversation, der Meditation, des Dialogs, welcher die strenge Verantwortung seiner Meditation zwischen den Menschen spürt und der ihr nur nachkommen will in einer stetigen Kommunikations- und Dienstbereitschaft.“ (721) Die Meditation geschieht in Begegnung mit anderen, im Ereignis des Gesprächs. Deshalb schreibt Mounier Mitte September 1949, wenige Monate vor seinem Tod, an seinen Freund Jean-Marie Domenach: „Das Ereignis wird unser innerer Meister sein.“8 Die Aufzeichnungen zu den Ereignissen, die Entretiens, sind so auch Spuren dieses „inneren Meisters“, von dem sich Mounier geleitet weiß. Er schreibt in der ersten Person Plural: Auch das Ereignis ist keine alleinige Angelegenheit eines autonomen Subjekts, sondern hat intersubjektiven Charakter und wird auch immer die Person des anderen bezeugen – womit auch die Wahrheit des Zeugnisses eine Rolle spielt. Nach der Niederlage Frankreichs im Sommer 1940 sieht er in seinen Aufzeichnungen ein „Konservatorium der Wahrheit“: „Diese Aufzeichnungen haben nichts von einem ‚intimen Tagebuch‘. Ich schrieb Ähnliches, als ich jung war – vertraulicher. Mir ist der Gedanke daran ganz einfach abhandengekommen, als wir zu zweit dasselbe Leben führten. Auch um Fakten aufzuschreiben, welche ich bereute, eines Tages nicht mehr wiederzufinden. Warum komme ich darauf zurück? (…) Das Motiv: Jacques [Lefrancq] und Paul Fraisse zu erlauben, sich dadurch zwischen uns wiederzufinden, wenn die Mauer des Schweigens fällt. Der Grund: Wir treten in eine Periode des Untergrunds ein, in der nicht mehr jeder Gedanke ausgesprochen, jede Tatsache veröffentlicht, jede Absicht verdeutlicht werden kann. Für einige und für die Zukunft ein kleines Konservatorium der Wahrheit anlegen.“ (592) Dieses Zitat zeichnet noch einmal die Entwicklung nach, welche Mounier selbst in seiner Aufzeichnungspraxis sieht und in der drei Phasen unterschieden werden können. Die Aufzeichnungen der ersten Phase, vor der Freundschaft und Ehe mit seiner Frau, kennzeichnet er als „vertraulicher“ – die Notizen als Spiegel, weil er sich selbst gegenüber Zeugnis ablegen will, dass er den anderen in den Begegnungen gerecht wird. In der zweiten Phase halten seine Notizen lediglich äußere Fakten fest – als Stütze für die richtige Rekonstruktion der Ereignisse. Schließlich ist die dritte Phase durch die Umstände bestimmt und hat eine klare Aufgabe: Die Wahrheit in Zeiten der Lüge bewahren, als Zeugnis für die Freunde (Lefrancq ist ein langjähriger Freund, bei dem Mounier Paulette kennengelernt hat, und der Kopf Esprits in Belgien; Fraisse ein enger Mitarbeiter der Zeitschrift – von beiden ist Mounier durch den Krieg getrennt).

Beispiele der spirituell-personalen Begegnung

Wenn dieser Abschnitt nun einige Ausschnitte der Entretiens einer intensiveren Untersuchung unterzieht, dann werden sie also nicht in erster Linie als historische Dokumente gelesen, sondern als Zeugnisse ebenjener interpersonalen Begegnungen und Ereignisse, die sie bezeugen.

Louis Massignon. – Am 05.03.1930 machen sich Guitton und Mounier auf und wollen mit Louis Massignon, dem großen Orientalisten und Mitglied der Académie française, über ein Problem sprechen, das beide bewegt.9 Er ist nicht zu Hause, sie wollen schon wieder gehen, treffen ihn dann jedoch noch am Aufzug. Die Zufälligkeit der Begegnung wird nun zum Ereignis: „[E]in zufälliger Augenblick beschert uns diesen unvergesslichen Besuch. Er strahlt vor Heiligkeit.“ (145) Mounier beschreibt die Situation im Büro Massignons. Letzterer sitzt im „warmen Schatten“ und hat durch sein „feines Gesicht“, seine „Kinderaugen“ eine solche Präsenz, dass Mounier von „Reinheit“ und „jungfräulich“ spricht. Letzteres wird noch einmal durch die Präsenz seiner Stimme hervorgehoben, die manchmal der eines „jungen Mädchens“ gleicht. Massignons Stimme ist distinguiert, ohne gekünstelt zu sein. Er spricht mit Nachdruck, doch nie mit einem Timbre der Leidenschaft. Stirn und Augen Massignons sind Mounier beim Aufschreiben noch so gegenwärtig, dass er es eigens festhält: „Jetzt, eine Stunde nach unserer Rückkehr, sehe ich nichts anderes als diese Stirn und diese klaren Augen.“ (145) Sein und Guittons Gefühl angesichts dieser Präsenz beschreibt er mit „Freude“. Gleichzeitig hat er den Eindruck, dass seine Beschreibung hinter dem Ereignis zurückbleibt.10 Mounier bezeugt hier Massignon als Person im höchsten Sinne des Begriffs: Er füllt das aus, was in Le personnalisme eine „leibhafte“ und „inkarnierte Existenz“ genannt und was gerade auch durch die Beschreibung der leiblichen Präsenz (Gesicht, Augen, Stirn, Stimme: alles Aspekte, die in der Begriffsgeschichte von Prosopon und Person eine wesentliche Rolle spielen) unterstrichen wird.11 Françoise. Stand in der Beschreibung des Gesprächs mit Massignon dessen spirituelle wie intellektuelle Generosität im Vordergrund, so führt uns die zweite Begegnung in einen anderen Bereich der personalen Präsenz: die Konfrontation mit der im Alter von acht Monaten an einer schweren Enzephalitis erkrankten Tochter Françoise (geb. 1938), was schließlich im April 1940 zu einem vollständigen Stillstand ihrer nervlich-mentalen Entwicklung führt. Am 28.08.1940 schreibt Mounier in Montverdun, einem kleinen Ort im Zentralmassiv: „Gegenwart Françoises. Geschichte unserer kleinen Françoise, die über geschichtslose Tage hinzugleiten scheint.“ (593) Allen, die ihm mit dem Spruch „Ein großes Unglück ist auf sie gekommen“ begegnen, entgegnet er: „Jemand ist zu uns gekommen, und es war groß, und das ist kein Unglück.“ (594) In seiner Tochter, die nach menschlichen Maßstäben nichts kann, enthüllt sich ihm noch einmal tiefer die personale Präsenz, die ihn zu einem Vergleich führt, der sakramentale Qualität hat: „Eine lebendige Hostie unter uns, stumm wie sie, strahlend wie sie. (…) Wer weiß, ob von uns nicht verlangt wird, eine Hostie zwischen uns zu bewahren und anzubeten, ohne die göttliche Gegenwart unter einer armen, blinden Materie zu vergessen? Meine kleine Françoise, Du bist mir auch ein Bild des Glaubens. Hier unten erkennt ihr ihn im Rätsel und wie in einem Spiegel (…)“. (594) Dieser sakramentale Vergleich und die Anspielung auf 1 Kor 13,12 sind wohl keine spirituelle Überhöhung der Krankheit seiner Tochter, sondern der Ausdruck des intensiven gemeinsamen Fragens des Ehepaares Mounier angesichts dieser Prüfung, die sie durchmachen: „Wir haben Françoise in unserem Schicksal gelesen. Für Poulette wurde sie das Bild dieses ‚Maßstabes für nichts‘ – dieses Maßstabes für alles (…). Sie ließ für uns beide, mit unserer Elternschaft, die Geschichte unserer Liebe noch einmal neu beginnen, die angesichts des gegenseitigen Verzichts, in der totalen Hoffnungslosigkeit, zurückgewonnen werden musste.“ (594) Die unscheinbare Präsenz Françoises lässt auch Paulette („Poulette“ ist ihr Kosename) und Emmanuel noch einmal ganz anders zueinander finden. Und ihr Leiden verbindet sich auf eine ganz eigene Weise mit den Leiden der Zeit und der Welt, mit den ungezählten Opfern des Weltkriegs. Mounier schließt mit Worten, die ihn in einem Dialog mit seiner Tochter zeigen, der über die Sprache hinausgeht: „[J]etzt, wo es scheint, dass wir auf Dauer zusammen sind, Françoise, meine kleine Tochter, fühlen wir eine neue Geschichte in unseren Dialog eingreifen: den einfachen Formen des mit dem Schicksal geschlossenen Friedens widerstehen; Dein Vater, Deine Mutter bleiben; Dich nicht unserer Resignation preisgeben (…); Dir Dein tägliches Brot der Liebe und der Gegenwart geben; dem Gebet folgen, das Du bist; an unserer Wunde rühren, da diese Wunde die Tür Deiner Gegenwart ist; bei Dir bleiben. Vielleicht muss man uns beneiden wegen dieser tastenden Elternschaft, dieses unaussprechlichen Dialogs, welcher viel schöner ist als die gewöhnlichen Spiele.“ (595) Die andere Person ist nicht nur in der höchsten Vollendung ihrer Möglichkeiten gegenwärtig (Massignon), sondern auch und gerade in der alleinigen Möglichkeit ihres bloßen Daseins, welches schon an Un-Möglichkeit grenzt (Françoise). Besonders in dieser Spannung von Möglichkeit und Un-Möglichkeit des Personseins scheint die Präsenz der Person auf.

Esprit. Den Entretiens IV ist eine Devise vorangestellt, und zwar in Form eines Zitats. Es lautet: „Am 07. Dezember [1930] sprechen G. Izard und ich von der Rue Saint-Placide bis zum Palais Royal über die Revue, die wir benötigen. ‚Und warum kümmern wir uns nicht selbst darum?‘ Wir sind in der Rue de Valois.“ (239) Dieses Initium beschreibt den Impuls, aus dem die Revue Esprit, eine der einflussreichsten intellektuellen Zeitschriften Frankreichs, hervorgegangen ist. Dieses Zitat kann in gewisser Weise stellvertretend für alle Einträge stehen, die Mounier der Gründung von Esprit widmen wird. Ein wichtiger Aspekt der Notizen wie auch dieses Eingangszitats ist das „Wir“, welches in den Mittelpunkt rückt: Mounier geht mit seinem Freund Georges Izard (1903–1973) von dessen Wohnung an einem Sonntag eine halbe Stunde quer durch Paris, diskutierend, und kurz vor Izards Arbeitsplatz stellen sie sich die entscheidende Frage: Warum nicht wir?12 Wieder ist das Intersubjektive der entscheidende Aspekt, doch diesmal schon in die erste Person Plural hineingenommen: Esprit ist das Engagement einer Gemeinschaft. Und Mounier hält das Ereignis (den „inneren Meister“) fest, mit Tag und Ort.

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9783429065058
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