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Читать книгу: «Wen die Vergangenheit trifft», страница 2

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Nach dem Bad rasierte ich mich, putzte mir die Zähne und zog mich an. In der Küche klappte ich mein Notebook auf und tippte bei Google die entsprechenden Suchwörter ein. Die Ausbeute war dürftig. In der ganzen Stadt gab es nur ein einziges stationäres Hospiz. Da es inzwischen nach neun war, rief ich dort an.

Natürlich hätte ich ahnen können, dass so kurzfristig kein Platz frei war. Ich versuchte alles, erklärte den Notfall und bettelte sogar. Es half nichts. Die Stimme am anderen Ende blieb gleichermaßen freundlich, verbindlich und verwies mich auf das ambulante Hospiz. Es werde, gemeinsam mit Hausarzt und Pflegediensten, ein würdiges Sterben zu Hause ermöglichen und dabei nicht nur meinen Vater, sondern auch mich unterstützen.

Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich leer, erschöpft und konfus. Die beste, weil einfachste Lösung war gescheitert. Wie es nun weitergehen würde, wusste ich nicht. Ich trank den restlichen Kaffee, gab Gustav frisches Wasser und Futter. Ich selbst konnte nichts essen. Dann brach ich auf zum Krankenhaus.

Als ich dort das Zimmer betrat, blieb ich überrascht an der Tür stehen. Neben dem Bett meines Vaters saß Frau Eberle. Sie sprach leise und freundlich mit ihm, streichelte seine Wange. Auf ihrem Schoß hielt sie einen Teller mit Birnenschnitzen, die sie meinem Vater reichte. Dieser kaute die Stücke langsam und genussvoll.

Frau Eberle war klein und drahtig trotz ihres Alters, das mindestens achtzig betrug. Seit rund fünfzig Jahren lebte sie Tür an Tür mit meinem Vater. Dass sie sich gut kannten und mochten, wusste ich. Doch nie hätte ich eine solche Vertrautheit vermutet, wie sie diese zärtliche Geste nun offenbarte.

Frau Eberle schaute auf und sah mich. »Guten Morgen, Stefan. Ich habe deinem Vater etwas zu essen gebracht. Die Krankenhauskost mag er nämlich nicht.« Ich begrüßte beide verlegen und setzte mich. Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Der junge Mann im Nachbarbett war nicht im Zimmer. Gleichwohl lief der Fernseher, lautlos.

Für meinen Vater, der in seinem ganzen Leben stets nur ein Radiogerät besessen hatte, musste die Flut billiger Bilder und dummer Sätze unerträglich sein. Insofern hatte Dr. Lenhard sicherlich recht. Apropos Dr. Lenhard, den musste ich dringend sprechen. Somit hatte ich einen wirklich guten Grund, um meinen Vater und Frau Eberle allein zu lassen.

Während ich an der Tür des Arztzimmers klopfte, kam die Oberschwester, der ich bereits am Vortag begegnet war, vorbei. »Grüß Gott, Herr Eppinger. Falls Sie Herrn Dr. Lenhard sprechen wollen, müssen Sie sich gedulden. Er ist noch im OP. Überblicken Sie schon, wie es mit Ihrem Vater weitergeht?«

Ich berichtete, dass ich keinen Hospizplatz bekommen hatte und somit nur eine ambulante Sterbebegleitung möglich sei. Dass ich aber nicht wisse, wie ich das alles organisieren könne, wo ich doch morgen wieder nach Berlin müsse. Schwester Hanna musterte mich ernst. »Bitte verzeihen Sie mir die Frage: Müssen Sie morgen zurück oder wollen Sie?«

Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Die meisten Menschen haben ja Angst vor dem Thema Sterben. Erst recht, wenn es jemanden trifft, der ihnen nahesteht. Es ist meist nicht mal das Sterben selbst, das sie so sehr schreckt, sondern die Hilflosigkeit und die Angst, die falschen Worte zu wählen. Ich weiß ja nicht, wie gut Sie sich mit Ihrem Vater verstehen. Und natürlich müssen Sie selbst entscheiden, was Sie tun oder lassen. Aber denken Sie daran, Sie müssen hinterher damit leben.«

Sie bestätigte noch, was die Hospizdame am Telefon bereits gesagt hatte. Dass mit allen Hilfen, die es gebe, die Belastung, insbesondere die psychische, zwar noch immer schwer, aber tragbar sei. Auch beim Organisieren der Unterstützung könne ich Beistand erhalten. Ich solle mich an den Sozialarbeiter des Krankenhauses wenden. Der habe jetzt Sprechstunde und residiere in Zimmer 108.

Verstört und aufgewühlt folgte ich dem Rat der Schwester und suchte den Sozialarbeiter, Herrn Wenninger, auf. Der notierte sich zunächst den Namen meines Vaters sowie alle relevanten Daten und Fakten. Zudem wollte er noch wissen, wie die Wohnung meines Vaters in pflegerischer Hinsicht ausgestattet sei, insbesondere ob ein Pflegebett und ein Toilettenstuhl vorhanden seien. Beides konnte ich bejahen, wie mir ein Blick ins Schlafzimmer meines Vaters am Vorabend verraten hatte.

Herr Wenninger versprach, alles in die Wege zu leiten, den Kontakt zu einem ambulanten Hospiz herzustellen und dafür zu sorgen, dass ein Pflegedienst dreimal täglich ins Haus kam. Als ich ihn verließ, fühlte ich mich eigenartig euphorisch.

Ein Anruf bei meinem Arbeitgeber beseitigte das letzte Hindernis. Angesichts der Umstände war es kein Problem, meinen gesamten ungenutzten Jahresurlaub zu nehmen. Dieser betrug immerhin noch fast sechs Wochen.

Bevor ich zu meinem Vater zurückkehrte, hielt ich kurz bei Schwester Hanna. Sie war gerade dabei, Patientenbögen auszufüllen. Ich berichtete, was ich beschlossen hatte. Es war offensichtlich, dass sie sich freute. Anschließend schickte sie mich zu Dr. Lenhard, damit ich ihn über meine Entscheidung informierte. »Prima, dann können wir Ihren Vater morgen nach Hause entlassen.«

Er fragte noch, ob ich denn wisse, was es bedeute, an Leberkrebs zu sterben. Als ich verneinte, strich er sich mit der Hand durch die dunklen Locken, sodass er danach ziemlich zerzaust aussah. Er bat mich, Platz zu nehmen. Das einzig Gute sei, so dozierte er, dass Leberkrebs keine Schmerzen bereite, da die Leber keine Nervenzellen enthalte.

»Ihr Vater wird verhungern, egal wie viel er isst.« Denn durch den Tumor höre die Leber auf zu arbeiten, sodass der Körper die Nahrung nicht mehr verdaue und verwerte. Es könne auch nötig werden, meinen Vater zeitweise ruhigzustellen, wenn sich die Wahnvorstellungen, die höchstwahrscheinlich einträten, nicht durch Medikamente beheben ließen. Doch mit Dr. Rosenthal, den er gut kenne und schätze, begleite uns ein erfahrener Hausarzt, auf dessen Kompetenz ich absolut vertrauen könne.

Das Hochgefühl, das ich noch kurz zuvor gespürt hatte, verringerte sich mit jedem Wort, das Dr. Lenhard sprach. Wollte ich all das wirklich miterleben? War ich nicht vielmehr dabei, ohne Plan und Verstand in etwas hineinzuschlittern, was ich schon bald zutiefst bereuen würde?

Ich ging zurück zu meinem Vater. Frau Eberle saß noch immer an seiner Seite und unterhielt sich leise mit ihm. Kurz und bündig, weil ich fürchtete, ansonsten sentimental zu klingen, sagte ich meinem Vater, dass er morgen nach Hause dürfe. Ich erzählte, dass ich mir Urlaub genommen hatte und bis zum Ende bliebe, wobei ich das Wort »Ende« kaum über die Lippen brachte.

Frau Eberle strahlte. Mein Vater betrachtete mich dagegen skeptisch: »Willst du das wirklich?« Ich schwieg einen Augenblick. Dann entschloss ich mich, ehrlich zu antworten. »Ich weiß nicht, was auf uns zukommt. Ja, ich habe Angst davor, und ja, ich habe mich entschieden, dich nicht allein zu lassen.«

Ich dachte, dass mein Vater jetzt so etwas wie »danke« sagen könnte, stattdessen brummte er einfach: »Wenn du meinst, na gut.«

Ich verließ das Krankenhaus zusammen mit Frau Eberle. Sie wiederholte mehrfach, dass sie froh sei, auch für mich, dass ich bliebe und meinen Vater heimhole. »Er hat sich das so sehr gewünscht. Aber er hat nie gewagt, darauf zu hoffen, dass du kommst und bleibst.«

Sie plapperte noch weiter, wie sehr mich mein Vater liebe, wie stolz er auf mich sei, wie sehr er sich über jedes Telefonat mit mir, über jeden meiner Besuche gefreut habe.

Ich wollte nicht unhöflich sein. Daher nickte ich gelegentlich, während sich meine Gedanken ganz praktischen Dingen zuwendeten. So fiel mir ein, dass ich nur für drei Tage Wäsche und Kleidung mitgebracht hatte. Hier musste ich dringend einiges besorgen. Außerdem musste ich den Kühlschrank füllen und mich darum kümmern, was Menschen mit Leberkrebs überhaupt essen dürfen. Zum Glück kochte ich gern und obendrein halbwegs gut.

An der Straßenbahnhaltestelle verabschiedete ich mich von Frau Eberle, die noch immer wortreich auf mich einredete. Ich fuhr in die Stadt, kaufte zwei Cordhosen, drei Rollkragenpullover, ein Tweedjackett, einen Mantel, Wäsche, Socken und ein paar Schuhe. Das sollte für die nächsten Wochen reichen. Schwer beladen, spazierte ich noch in einen Buchladen, um ein Kochbuch »Was der Leber guttut« anzuschaffen.

Anschließend nahm ich ein Taxi und fuhr zur Wohnung meines Vaters. Gustav miaute und umkreiste mit erhobenem Schwanz meine Beine. Ich schob ihn zur Seite und betrat mein altes Zimmer. Immerhin musste ich irgendwo schlafen, der Ohrensessel war ja keine Dauerlösung.

Mein Zimmer war der einzige Raum, der sich in den Jahrzehnten, seitdem ich ausgezogen war, verändert hatte. Mein Vater hatte es für Besuch hergerichtet. Allerdings wusste ich nicht, wer dort, außer mir, je geschlafen hatte. Bett, Nachttisch und Schrank stammten wie die meisten Möbel in der Wohnung aus den dreißiger, vierziger Jahren. Zum Glück war ich nicht sonderlich groß, denn das Bett war allenfalls einen Meter neunzig lang.

Ich packte meine Sachen in den Schrank und bezog das Bett mit frischer Wäsche, altes, verschlissenes weißes Leinen. Ich wunderte mich, dass mein Vater so gar keine neuen Dinge besaß außer dem Plattenspieler. Dieser war erst zwanzig oder dreißig Jahre alt und funktionierte erstaunlicherweise noch immer. Sicher, mein Vater war kein reicher Mann. Aber so arm war er nun auch nicht, dass er sich nichts Neues hätte leisten können. Vermutlich hatte ihn seine Einrichtung nie näher interessiert. Hauptsache, sie erfüllte ihren Zweck.

An der Tür klingelte es. Als ich öffnete, stand Frau Eberle vor mir. Sie begrüßte Gustav, der neugierig auf sie zulief. Lächelnd beugte sie sich nieder und strich ihm liebevoll durchs Fell. An der Treppenhauswand parkte ein zusammengeklappter Rollstuhl.

»Der gehörte meinem Mann«, erklärte sie. »Ich habe ihn behalten, für alle Fälle, man weiß ja nie. Ich dachte, dass du ihn gebrauchen kannst. Denn der Karl kann ja kaum noch gehen, dazu ist er viel zu schwach.«

Ich bedankte mich und zog das Gefährt in die Wohnung. Zugleich dachte ich, dass ich Frau Eberle nun eigentlich zum Kaffee einladen müsste. Doch zum Glück klingelte in diesem Moment das Telefon. Nun konnte ich mich, ohne sie abzuwimmeln, freundlich von ihr verabschieden. Sie rief noch: »Wenn du Hilfe brauchst …«, und ich antwortete: »Vielen Dank, dann meld ich mich!«, bevor ich die Tür schloss.

Am Telefon war Schwester Hanna. Sie teilte mir mit, dass ein Krankenwagen meinen Vater am nächsten Vormittag gegen elf bringen würde.

Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und setzte mich an den Küchentisch. Plötzlich fiel mir auf, dass ich, obwohl inzwischen schon später Nachmittag, noch nichts gegessen hatte. Mein Magen knurrte. Also raffte ich mich auf und stattete dem Bioladen gegenüber erneut einen Besuch ab. Zum Glück war er gut sortiert, sodass ich alles fand, was ich benötigte.

Auf dem Rückweg hielt ich im Weinladen. Dieses Mal war ich besser vorbereitet. Wieder ließ ich mir einen Rotwein empfehlen. Während ich ihr Gesicht nicht aus den Augen ließ, beschrieb mir Miriam, so nannte ich sie bereits im Geiste, das Gut, woher der Wein stammte. Ich glaube, es war irgendwo in Frankreich. Plötzlich spürte ich, dass ich wissen wollte, ob sie verheiratet oder sonst wie gebunden war. Ich schielte zu ihrer Hand und sah, dass sie keinen Ehering trug.

»Möchten Sie den Wein probieren, bevor Sie ihn nehmen?« Ich schreckte aus meinen Gedanken, als sie verstummte, und hörte mich fragen: »Wollen Sie heute Abend mit mir essen gehen?« Über ihr Gesicht huschte ein leichtes Grinsen. Ich sei ja ganz schön direkt, entgegnete sie. Sie beäugte mich von oben bis unten und antwortete dann: »Ja.«

»Sie schließen um achtzehn Uhr? Ich hole Sie ab.« Ich packte meine Einkäufe und ging hinauf in die Wohnung.

*

Mir blieb eine knappe Stunde bis zu unserer Verabredung. Ich aß etwas Brot und Käse, damit mich nicht gleich der erste Schluck Wein betrunken machen würde. Der Kater stellte sich auf seine Hinterpfoten und kratzte an meinen Knien. Ich gab ihm etwas Käse ab, sodass er sich anschließend zufrieden mit der Zunge über das Maul fuhr. Ich räumte die Lebensmittel weg, las in dem Kochbuch, das ich für meinen Vater gekauft hatte, klappte es wieder zu, machte mich frisch, schloss die Wohnungstür und eilte hinunter. Miriam sperrte ihren Laden ab und schaute mich erwartungsvoll an. »Wohin wollen wir?«

Daran hatte ich, ehrlich gesagt, noch gar nicht gedacht. »Ich bin schon so lange aus Freiburg weg, da sind wir wohl auf Ihre Empfehlung angewiesen.« Sie überlegte kurz. »Um die Ecke gibt es einfaches, aber hervorragendes badisches Essen. Haben Sie Lust darauf?«

Das Restaurant war winzig und schmucklos. Es verfügte nur über sechs Tische, die ein schmaler Tresen von der Küche trennte. Ein Mann, groß und dünn, vielleicht Anfang vierzig, rührte in einer Plastikschüssel Spätzleteig. Er schien Miriam zu kennen. Denn er legte den Kochlöffel zur Seite und reichte ihr die Hand, nachdem er sie zuvor an seiner Schürze abgewischt hatte.

»Grüß dich, Georg, hast du einen Tisch für uns?« »Kein Problem, sucht euch einen Platz aus. Erst ab acht ist alles reserviert. Ich hab heut Rahmgeschnetzeltes vom Schwein, direkt vom Biohof im Schwarzwald, sowie Maultaschen, gefüllt mit frischen Waldpilzen, geschwenkt in brauner Butter mit gedünsteten Zwiebelchen. Dazu Feldsalat mit Walnüssen und vorab eine Kürbissuppe.«

Wir entschieden uns zunächst für einen Tisch am Fenster und dann für die Maultaschen. Miriam wählte einen Rotwein, der dazu passte und offensichtlich aus ihrem Laden kam. Anscheinend war Georg Kunde bei ihr.

Ich schaute mich um. Tische und Stühle stammten aus verschiedenen Epochen. Sie waren alle in demselben Gelb gestrichen, wodurch sie gleich und dennoch verschieden wirkten. Der Tresen und die Küche glänzten ebenfalls gelb, die Bodendielen schimmerten ochsenblutfarben, während Wände und Altbaudecke weiß getüncht waren.

»Wie geht es Ihrem Vater?«, unterbrach Miriam meine Betrachtungen. Ich erzählte, dass er morgen nach Hause käme und ich bleiben würde, bis er … »Stirbt?« Offenbar ging ihr dieses Wort leichter über die Lippen als mir. Verlegen schwieg ich und wechselte das Thema. Ich hob mein Glas, um mit ihr anzustoßen. »Wollen Sie mir nicht von sich erzählen? Seit wann betreiben Sie den Weinladen?«

Miriam runzelte die Stirn. »Nun, was soll ich sagen? Ich bin einundfünfzig Jahre alt und habe zwei Kinder. David ist dreißig, Amelie siebenundzwanzig. Mein Mann, Daniel, starb vor zwei Jahren an einem Gehirntumor. Wir haben zusammen im Elsass ein Weingut bewirtschaftet, das jetzt mein Sohn mit seiner Frau, Natalie, betreibt. Amelie malt und hat ihr Atelier in einer alten, umgebauten Scheune, ebenfalls im Elsass, in einem Nachbarort. Sie ist, trotz ihrer Jugend, bereits recht erfolgreich, und stellt in Paris, Zürich und London aus.«

Miriam sprach lebhaft und anschaulich, ohne zu übertreiben. Ihre Worte kamen zunächst langsam und bedacht. Bald schon tropften sie jedoch wie Eiszapfen im März, sprudelten wie eine Bergquelle im April, plätscherten bachgleich, tosten wie ein Wasserfall, um schließlich erneut ruhig dahinzuströmen. Ich hörte ihr gern zu und genoss dabei meine Maultaschen, die vorzüglich schmeckten.

Sie erzählte von ihrer Kindheit in der Schweiz, vom Ballettstudium und ihrer Zeit an der Pariser Oper. Dort hatte sie drei Jahre lang im Ensemble getanzt, bevor sie ihren Mann heiratete und schwanger wurde. Nach der Hochzeit arbeitete sie auf dem Weingut ihres Mannes, zu dem bereits damals ein kleines Hotel gehörte.

»Und was hat Sie nach Freiburg verschlagen?« »Ich wollte meinem Sohn und seiner Frau nicht auf den Füßen stehen. Sie sollten frei sein, das Geschäft so weiterzuführen, wie sie es sich vorstellen.« Für Freiburg habe sie sich entschieden, weil sie die Stadt möge. Zudem liege sie nah genug, um regelmäßig ins Elsass zu fahren.

Miriam erzählte auch, dass sie wieder begonnen hatte zu tanzen, Ausdruckstanz in einem kleinen Studio. Mit einer Lehrerin trainiere sie dort zweimal pro Woche. »Und du, ich darf dich doch duzen«, fragte sie, »was machst du so in deiner Freizeit? Dass du als Staatsanwalt arbeitest, weiß ich. Das hat mir dein Vater erzählt.«

So floss das Gespräch zwischen uns immer weiter, ohne einmal zu stocken. Ich vergaß die Zeit und alles Weitere um mich herum. Sie empfand es, glaube ich, ähnlich. Schließlich stand der Wirt neben uns und räusperte sich. »Sorry, ich glaub, ich muss euch jetzt rausschmeißen. Es ist acht Uhr. Die Gäste, die diesen Tisch reserviert haben, warten bereits am Tresen.«

Wir verließen das Lokal, und ich fragte: »Wohin jetzt?« Sie antwortete: »Nach Hause.« Ich erkundigte mich, ob ich ihr ein Taxi besorgen solle oder ob ich sie, falls sie zu Fuß gehen wolle, begleiten könne. Miriam lehnte den Kopf zurück. »Du weißt es wohl nicht? Wir haben denselben Weg. Ich wohne über dem Weinladen, genauer gesagt unter dem Dach.«

Gern nahm ich die Einladung an, bei ihr noch ein Glas Wein zu trinken. Ihr Appartement erstreckte sich über die gesamte Breite des Hauses. Offenbar waren die beiden Wohnungen des Obergeschosses zusammengelegt, weitgehend entkernt und die jeweiligen Decken zum Dachboden entfernt worden.

Küche, Ess- und Wohnzimmer bildeten einen großen gemeinsamen Raum, der konsequent karg eingerichtet war. Die weiß gekalkten Wände ragten bis zum Giebel, wo die Balken freilagen. In der Küche verbarg ein weißer, geschlossener Einbauschrank im Shakerstil alles, was den Blick hätte stören können. Lediglich Fugen, Leisten und Griffe verrieten, dass dahinter Fächer, Schubladen und wohl auch der Kühlschrank waren. Herd, Spüle und Arbeitsplatte befanden sich unterhalb eines großen Fensters. Davor stand ein schlichter Tisch. Dessen ovale Glasplatte ruhte auf zwei schweren, glatt polierten Holzklötzen. Die Stühle wiederum waren – jeder für sich – ganz unterschiedlich aus Weinstockholz geformt und mit Stroh umwickelt. Hinten im Raum stand ein riesiges Sofa, das mit weißem Leinen bezogen war. An den Wänden hingen drei Bilder, die von der sonstigen Reduziertheit abstachen.

Miriam bemerkte, dass ich die Bilder betrachtete: »Die hat meine Tochter gemalt. Das hier stellt den Tod dar.« Sie deutete auf ein Bild, das eine erstaunliche Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. In seinen Farben glich es einer Sonne, die zugleich unter- und aufgeht, und in seiner Tiefe einem Weg, der scheinbar zu einem bestimmten Ziel und dennoch ins Unendliche führt.

Mein Blick fiel auf das zweite Bild. Es zeigte von hinten in Gelb- und Brauntönen die Silhouette eines Mannes, der recht alt und doch ohne Alter war, der groß und schwer, gebeugt und gebrochen schien, einen schäbigen Mantel trug mit gelbem Flicken am Rücken sowie einen Hut, der tief hinuntergezogen war. Ein Mensch, der fort, ins Feuer, ins Nichts geht, der, gedemütigt, noch immer von innen heraus leuchtet, während er bereits verlischt. Miriam sagte, das Bild heiße »Abschied«, und wies auf das dritte, das sie »Ankunft« nannte. Dieses war, in unterschiedlichen Nuancen, einfach nur in Gelb gehalten. Es glich einem Licht, das sich in unendlich viele Teile auflöst und sich dennoch zum Ganzen vereint.

Während ich noch weiter schaute, hatte Miriam bereits eine Flasche geöffnet. Sie goss den Wein in zwei bauchige Gläser, wo er dunkelrot funkelte und nach Sommererde und Brombeeren roch. Wir stießen an, und ich fragte etwas verwundert, da ich kein einziges Buch entdeckte, ob sie nur elektronisch lese. Anstatt zu antworten, bugsierte sie mich ins Arbeitszimmer. Obwohl relativ klein, war es gefüllt mit Bücherregalen. Nur die Fensterfront war frei. Dort stand ein einfacher, antiker Schreibtisch, auf dem ein Notebook lag.

Wir sprachen über Literatur und stellten fest, dass wir beide Stefan Zweig lieben. Lebhaft diskutierten wir, welches seiner Bücher uns warum am besten gefällt. Der Abend verflog so schnell wie der Hauch eines Atems. Als ich ging, war es schon nach Mitternacht.

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9783844270419
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