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Читать книгу: «Wunschleben», страница 2

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»Gestern im Supermarkt habe ich gehört, wie sich zwei Frauen über das Schützenfest unterhalten haben. Es soll sehr schön sein. Ich freue mich schon auf morgen. Es wird wirklich Zeit, dass ich mal wieder unter Leute komme.«

Anja lässt sich auf einen Stuhl fallen.

»Deswegen komme ich eigentlich vorbei«, beginnt sie zögerlich und nippt an dem Kaffee.

»Jetzt sag nicht, du kommst nicht mit?«

Bettina schaut sie herausfordernd an. »Das kannst du mir nicht antun!«

Anjas Mut ist völlig verraucht.

»Die Frauen haben gesagt, dass man vor zehn Uhr nicht dort sein muss. Wir können doch vorher noch etwas essen gehen. Ich habe in der Nebenstraße diesen kleinen Italiener gesehen. Sieht nett aus. Warst du da schon mal?«

»Nein, ich gehe selten aus.«

So sehr Anja mit sich ringt, sie findet keinen Ausweg. Es gibt kein Entrinnen. Sie muss morgen auf das Schützenfest.

»Dann lass uns den morgen mal ausprobieren. Nach leckerer Pasta und einem Prosecco können wir dann schwungvoll den Abend in Angriff nehmen. Was meinst du?«

Bettina strahlt, doch Anja kann nur nicken. Wenn man weiß, dass es keinen anderen Weg mehr gibt, sollte man langsam entdecken, welche guten Seiten oder gar Chancen dieser Weg bietet. Das hat Anja in ihrem Leben gelernt. Es gibt immer Chancen. Also auch die Chance, dass sie den morgigen Abend überlebt.

III

Manchmal kommt man an einem Ort an und kann sich nicht mehr an den Weg dorthin erinnern. Man fragt sich: Habe ich die Kreuzung dort hinten bei Rot überquert? Und kann sich nicht entsinnen, überhaupt über diese Kreuzung gefahren zu sein. Anja steht vor ihrem Spiegel und hat keine Ahnung, was gestern und heute geschehen war. Sie weiß nur, dass in etwa einer Stunde Bettina klingeln wird, sich auf einen schönen Abend freut und erwartet, dass Anja genauso freudestrahlend mitkommt. Bis dahin muss Anja entscheiden, was sie anzieht. Den schwarzen Rock, das ist klar. Aber welches Oberteil? Anja sucht ihre Blusen durch, ohne eine Ahnung zu haben, was für ein Schützenfest geeignet ist. Schließlich entscheidet sie sich für eine Bluse mit hellem Blumenmuster, die sie locker über den Rock fallen lässt. Das kaschiert ihre nicht vorhandene Taille und erweckt den Eindruck, es sei eine weibliche Hüfte vorhanden.

Für das Make-up und die Frisur nimmt sie sich extra viel Zeit und auch eine abendliche Extra-Rasur musste sein. Anschließend packt sie akribisch ihre Handtasche, damit sie nichts vergisst. Der Lippenstift, den sie bereits sorgfältig in zwei Schichten aufgetragen hat, muss mit, genauso wie das Haarspray, um den Pony zu fixieren, sollten die Haare drohen, die hohen Geheimratsecken freizugeben.

Ein abschließender Blick auf die Uhr zeigt, dass sie noch Zeit hat, bis Bettina vorbeikommt. Viel zu früh fertig geht Anja nervös in ihrer Wohnung auf und ab und versucht, sich den weiteren Ablauf auszumalen, aber es fehlt ihr die Vorstellung. Sie begibt sich auf neues, unbekanntes Terrain. Das Herz pocht und doch ist da dieses Kribbeln. Etwas in ihr meldet sich. Wacht auf.

Endlich klingelt es an der Tür. Anja öffnet.

»Hi. Bereit für den Abend?«

Bettina strahlt. Sie trägt eine enge Jeans, ein Shirt mit tiefem Ausschnitt und eine leichte Jacke. Toll sieht sie aus. Anja bewundert solche Frauen. Einmal so zu sein, war und ist ihr Traum. Manchmal, wenn sie vor ihrem Spiegel steht, zurechtgemacht und in ihrem schwarzen Rock, dreht sie sich leicht zur Seite, dann hat sie das Gefühl, diese Frau zu sein, die sie sein will. Es ist ein besonderes Gefühl. Eines, das sie nicht loslassen will. Wenn man Gefühle doch speichern könnte … »Ich bin soweit.«

Anja greift nach der Handtasche und schließt die Wohnungstür hinter sich. Nun geht es los. Das Herz pocht heftiger.

Während sie zum Italiener spazieren, erzählt Bettina von ihrem Tag. Gebannt hört Anja zu. Gleichermaßen erstaunt, dass man so ausdauernd erzählen kann, und konzentriert, nur ja kein Detail zu verpassen.

Sie betreten das kleine Restaurant und schauen sich um. Es gibt nur sechs Tische. Alle sind mit karierten Tischdecken bedeckt, die in den Augen der Gäste so italienischer wirken sollen. Die großen Korbflaschen, die zu Kerzenhaltern umfunktioniert wurden und nun in den Nischen verstauben, fehlen ebenso wenig wie die Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden. Selbst der Wirt, es muss der Wirt sein, könnte typischer nicht sein. Die doch recht stattliche Leibesfülle wird durch die mit Tomatenflecken dekorierte Schürze nur mühsam gebändigt. Er begrüßt Bettina und Anja überschwänglich, als ob sie jeden Tag kämen, und Anja rechnet jeden Moment damit, dass er eine Arie von Caruso anstimmt. Stattdessen sagt er »Buonasera Signoras!« und weist ihnen den Weg zu einem der wenigen Tische. Er hält sogar den Stuhl für Anja bereit. Ein Hochgefühl macht sich in ihr breit. Signoras hat er gesagt. Nachdem sie Rotwein und Wasser bestellt haben, lässt er sie allein.

»Ist doch nett hier«, meint Bettina.

»Ja, ist echt nett.« Und das meint Anja wirklich ernst. Sie wählen zwei Gerichte aus und Bettina bringt das Gespräch in Gang. Der Wein schmeckt gut und der Wirt, der immer mit einem »Prego Signora« nachschenkt, tut sein Übriges. Anja fühlt sich überraschend wohl. Eine ungewohnte Leichtigkeit ergreift sie. Selbst das Gespräch macht ihr keine Angst. Schon lange hat sie ihre Lebensgeschichte abgeschliffen, offensichtliche Hinweise auf ihre männliche Vergangenheit eliminiert und die Wortwahl möglichst neutral gestaltet. Sie hatte sich geschworen, nie zu lügen. Aber sie musste ihre Vergangenheit auch nicht gleich hinausschreien. So bereitet es ihr keine Mühe, auf entsprechende Fragen mit den vorbereiteten Sätzen zu antworten. Dennoch prüft sie jedes Mal, ob Bettina Zeichen von Irritation zeigt, aber davon ist nichts zu sehen. Anjas Antworten sind überzeugend. Nur einmal, es muss am Wein liegen, wird Anja übermütig. Als Bettina fragt, ob sie schon mal verheiratet war, antwortet Anja wahrheitsgemäß mit Ja. Dann aber fragt Bettina nach dem Hochzeitskleid und ob es weiß gewesen sei, da antwortet Anja ebenso wahrheitsgemäß, dass sie in dunkelblau geheiratet hat. In diesem Moment ist ein leichtes Stirnrunzeln bei Bettina zu bemerken. Frauen, die in Dunkelblau heiraten, sind eher selten. Aber sie fragt glücklicherweise nicht nach.

Das Essen schmeckt köstlich und der Wirt versucht, die Signoras zu einem hausgemachten Tiramisu zu überreden. Anja genießt die Aufmerksamkeit und würde dem Wirt, Piero heißt er, alles abkaufen. Anja ist sich sicher; er weiß genau, dass die Gäste gerade deshalb in sein Lokal kommen, weil er so schön alle italienischen Klischees bedient und so den Gästen einen Hauch von Urlaub herbeizaubert. So nehmen auch Bettina und Anja das Angebot gerne an und schwelgen in der süßen Verführung. Nach den obligatorischen Espressi und den zwei Grappa, die Piero sich nicht nehmen lässt auszugeben, machen sie sich auf den Weg ins Schützenzelt.

Die Luft ist mild, fast zu warm für die Jahreszeit. Vielleicht ist es auch einfach nur das warme Gefühl nach einem guten Essen, Wein und Grappa. Gerade als sich Anja ganz diesem schönen Gefühl hingeben möchte, kommen ihnen betrunkene Jugendliche entgegen. Sofort schaltet etwas in Anja um, sie wird achtsam und vorsichtig. Betrunkene junge Männer machen Anja immer Angst. Einmal hatte sie eine Gruppe Jugendlicher nach dem Weg gefragt und sie hatte höflich geantwortet. Ihre tiefe Stimme hatte die jungen Männer irritiert. Sie lachten Anja aus und bedrängten sie. »Hey, was bist du denn?«, hatte einer geschrien und die anderen hatten gejohlt, während sie ihr immer näher gekommen waren. Schließlich konnte Anja nur wegrennen. Die Angst steckt ihr immer noch in den Knochen. Solche Gefühle vergehen leider nicht. Jedenfalls versucht Anja seitdem, Gruppen von Halbstarken unter Vermeidung jedes Blickkontaktes zügig zu passieren. Heute geht es gut. Sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Aber das schöne Gefühl stellt sich nicht wieder ein.

Eine Menschenmenge schart sich um den Eingang zum Zelt. Unzählige Männerblicke taxieren die beiden ankommenden Frauen. Anja versucht, den Blicken auszuweichen, und drängt sich mit gesenktem Kopf hinter Bettina durch die Reihen, die sich magisch zu öffnen scheinen. Vielleicht sehen die Männer sie ja nicht, wenn Anja sie nicht anschaut. Im Zelt ist es heiß, stickig und voll. Eine Band spielt Cover-Songs und vor der Bühne wabert die Menge leicht im Takt der Musik. Dort muss wohl der Tanzbereich sein. Zum Glück steuert Bettina die Theke an.

»Was möchtest du trinken?«, schreit Bettina ihr ins Ohr.

»Ein Alt!«, schreit sie zurück. Nachdem Bettina ein Glas Weißwein und ein Bier ergattert hat, erkämpfen sie sich einige Zentimeter eines Stehtisches, um die Getränke abzustellen. Eine Gruppe aus Männern und Frauen steht um den Tisch herum. Einzelne nippen gelegentlich an den Getränken und bewegen zaghaft die Finger im Takt der Musik, die eine Unterhaltung unmöglich macht. Also stehen sie genauso schweigend dort und lassen die Blicke durch das Zelt schweifen. Die Band stimmt I Will Survive an.

»Das ist mein Lieblingssong. Komm, lass uns tanzen gehen.« Bettina zieht an Anjas Ärmel und zwängt sich durch die Menschen in Richtung Tanzfläche. Es ist nicht genau zu erkennen, wo diese beginnt. Selbst direkt vor der Bühne stehen Männer, die keinerlei Anzeichen von Tanzbewegungen machen, in Gruppen zusammen und mit Biergläsern in der Hand.

Anja und Bettina drängeln sich durch und beginnen, sich im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten zur Musik zu bewegen. Anja bereut es, die Handtasche mitgenommen zu haben. Sie ist unhandlich und stößt ständig jemanden an, der sie dann böse anschaut. Bettina hat natürlich keine Handtasche mitgenommen und sie stört das alles nicht. Sie ertanzt sich einen freien Platz und singt lauthals den Refrain des Liedes mit.

»Au!« Der Mann rechts neben Anja macht ein schmerzverzerrtes Gesicht.

»Oh, entschuldigen Sie!« Anja zieht erschrocken ihre Handtasche zu sich und macht nur noch ganz kleine Bewegungen.

»Schon gut, es ist einfach verdammt eng hier. Ich habe Sie bestimmt auch getreten.« Der Mann lächelt.

»Nein, nein, es ist nichts passiert«, sagt Anja eilig und entschließt sich, die Tanzbemühungen ganz einzustellen. Bettina hat sich zwischenzeitlich weiter in die Mitte vorgekämpft, und Anja kann nur noch ihre roten Haare und gelegentlich ihre Arme, die sie nach oben reckt, in der Menschenmenge erkennen. Unsicher steht Anja nun da.

»Es ist zu eng zum Tanzen, nicht wahr?« Der Mann neben ihr schaut sie freundlich an. Anja bemüht sich, zu lächeln, und nickt. Aus der Gruppe, zu der der Mann wahrscheinlich gehört, fragt jemand nach den Getränkewünschen.

»Was trinkst du?«, fragt der Mann.

Sie überlegt kurz, nach ihrem noch halbvollen Bierglas zu suchen, das irgendwo stehen muss. Aber das wird sie nie finden.

»Ein Alt«, sagt sie stattdessen und ist überrascht, wie souverän sie das sagen kann. Sie lächelt, weil kaum etwas anderes möglich ist. Ihr Blick schweift umher, unsicher und möglichst direkten Blickkontakt vermeidend. An die hundert Menschen drängen sich im Zelt zu einer einzigen großen Menschentraube zusammen. Nein, es müssen weit mehr sein. Die meisten stehen einfach so da. Ihre Gesichter sind irgendwie ausdruckslos. Fast nicht vorstellbar, dass es ihnen Spaß macht, hier zu sein. Die Gruppe um sie herum besteht aus mehreren Männern, die alle in den Vierzigern zu sein scheinen. Auch sie schauen schweigend in die Runde und halten, sofern vorhanden, ihr Bierglas in der Hand. Das Gruppenmitglied mit den Getränken erscheint, und es kommt etwas Bewegung in die Runde. Wortlos werden die Biere herumgereicht und Anja bekommt ein Alt hingehalten. Vorsichtig greift sie zu und wartet nun ab, wer die Runde antrinkt. Der Spender hebt das Glas, alle anderen prosten ihm zu und nehmen den ersten Schluck. Anja tut es ihnen nach. So steht sie nun da. Hoffend, man möge ihr die Unsicherheit nicht allzu sehr ansehen. Manchmal, wenn sich die Blicke zufällig mit denen des Mannes neben ihr treffen, versucht sie zu lächeln. Ein freundliches Lächeln, ein weibliches Lächeln möchte sie zeigen. Keine Ahnung, ob es geklappt hat. Es spricht keiner. Hoffentlich wegen der Musik und nicht, weil man über sie nachdenkt und irritiert ist. Die Band kündigt eine Pause an und die Menschen, die bisher getanzt haben, strömen zur Theke. Bettina kommt strahlend auf sie zu. Sofort kommt Leben in die Männerrunde.

»Bring der jungen Dame doch mal etwas zu trinken«, raunzt der eine Mann dem Spender der letzten Runde zu.

»Kommt sofort. Was hätten Sie denn gerne?«, wendet dieser sich an Bettina.

»Weißwein«, antwortet sie und schon setzt sich der Mann in Bewegung.

Ist Altbier unweiblich? Anja grübelt darüber nach. Sie käme nie auf die Idee, in einem Schützenzelt Weißwein zu bestellen. Alles hier ist Bieratmosphäre. Aber vielleicht sollte sie nun als Frau auch Weißwein bestellen? Vorsichtig schaut sie sich um, ob andere Frauen Bier trinken, und ist sehr erleichtert, als sie feststellt, dass sie nicht die einzige ist. Nach überraschend kurzer Zeit erscheint der Getränkespender mit einem Glas Weißwein und reicht es Bettina. Alle Männer prosten ihr mit großen Gesten zu. Diese schenkt dem Spender und gleich allen anderen Herren in der Runde ein Lächeln und plaudert ungezwungen los. Plötzlich drehen alle Anja den Rücken zu und schenken Bettina ihre ganze Aufmerksamkeit. Und auch Anja ist von ihr eingenommen. Wie bewundernswert locker Bettina ist. Man merkt ihr an, wie sehr ihr dieses Spiel Spaß macht. Anja würde gerne genauso auftreten, aber sie versteht nicht das Geringste von der Magie, die da gerade direkt vor ihren Augen wirkt. Es scheint, als ob ein unsichtbarer Magnet die Aufmerksamkeit der Männer auf Bettina zieht. Die wiederum schenkt mal ein Lächeln nach rechts, greift kurz ins eigene Haar und sieht wieder nach links. Alles führt dazu, dass die Herren sie umringen. Anja macht einen Schritt zurück und beobachtet das Schauspiel genauer. Diese Automatismen zwischen Mann und Frau waren und sind ihr ein Rätsel. Es soll ja etwas mit den Pheromonen zu tun haben, die unbewusst ausgesendet werden und im Gegenüber entsprechende Reaktionen auslösen. Sie selbst sendet wahrscheinlich männliche Pheromone aus. Der Gedanke bedrückt sie und lässt etwas Neid aufkommen.

Der Abend schreitet voran. Die Männerrunde gibt reihum eine Runde aus, und Anja auf eine erkleckliche Anzahl an Bieren. So viel hat sie schon lange nicht mehr getrunken. Mit achtzehn im Karneval vielleicht, als sie noch dachte, sie könnte ein Mann sein, und versucht hatte, eine Freundin zu finden. Langsam tun ihr die Füße weh und sie ist müde. Sie würde gerne nach Hause gehen, aber Bettina scheint daran noch keinen Gedanken zu verschwenden. Ganz im Gegenteil. Sie macht den Eindruck, als würde sie sich pudelwohl im Kreis der Männer fühlen und die Aufmerksamkeit, die man ihr entgegenbringt, sehr genießen. Anja schweigt und tritt von einem Fuß auf den anderen, um sie ein wenig zu entlasten, aber ganz kann sie ihre Müdigkeit nicht verbergen.

»Wenn du nach Hause möchtest, dann sagst du es, ja?«

»Du hast noch so viel Spaß und den will ich dir nicht verderben.«

»Ich bin jetzt auch müde. Wir können ruhig gehen.«

Anja nickt.

»So, Jungs, wir gehen jetzt. Wir brauchen unseren Schönheitsschlaf«, teilt Bettina der Runde mit. Sie ruft großes Bedauern hervor. Einzelne Männer versuchen, sie noch zum Bleiben zu überreden, aber sie bleibt hart. Beide verabschieden sich freundlich; Bettina mit Küssen auf die Wange, Anja mit einem förmlichen Handschlag und machen sich auf den Weg nach Hause.

»War doch ein schöner Abend, nicht wahr?«, fragt Bettina, als sie das Zelt verlassen haben.

»Ja, war schön.«

Bettina greift nach Anjas Arm und hakt sich bei ihr unter.

»Hat mal wieder gutgetan zu flirten.«

Anja ist unsicher, wie sie sich verhalten soll. Nimmt sie mich jetzt als männlich wahr, wenn sie sich bei mir einhakt? Nein, Frauen haken sich beieinander ein, beruhigt sie sich und achtet sehr darauf, den Arm nicht zu sehr zu bewegen, um diesen Moment nicht zu zerstören. Zuhause angekommen stehen sie noch kurz im Hausflur.

»Das sollten wir bald mal wieder machen«, meint Bettina. Anja nickt nur, unsicher, was sie nun tun soll. Einfach Tschüss sagen, eine gute Nacht wünschen und in der Wohnung verschwinden? Die Hand geben? Alles kommt ihr unpassend vor, doch lange muss sie sich keine Gedanken machen, denn Bettina zieht sie an sich heran, umarmt sie und küsst sie auf beide Wangen.

»Ich wünsche dir eine gute Nacht und süße Träume«, sagt sie, schließt die Wohnungstür auf und verschwindet mit einem kurzen Winken und einem Lächeln in ihrer Wohnung. Anja steht noch einen Moment regungslos da. Überall an ihrem Körper spürt sie die Umarmung und an den Wangen die Küsse. Ein schönes, ein wohliges Gefühl. Jetzt ein Glas, um dieses Gefühl zu bewahren. Langsam, fast behutsam öffnet sie ihre Wohnungstür und geht hinein. Sie fühlt sich, als ob alles in Watte gepackt ist, einmal mit einem Weichzeichner übergossen. Der Bach ihres Lebens hat einen kleinen Seitenarm bekommen, der sich aufmacht, das Unbekannte zu erkunden. Sie setzt sich auf die Couch und spürt einfach nach. Fühlt sich so Frausein an?

IV

11 Uhr. Fast Mittag. Mühsam dreht sie sich auf die andere Seite. Nein, noch nicht aufstehen. Etwas trinken wäre jetzt gut. Wie ausgetrocknet fühlt sich ihre Kehle an. War wohl doch etwas viel Bier. Dafür ist der Kopf aber noch relativ klar. Das ist gut. Aber an das übliche Samstagsprogramm ist nicht zu denken. Da wäre sie schon längst aufgestanden, hätte beim Frühstück die Zeitung gelesen und sich anschließend um den Haushalt gekümmert. Am Samstag wird immer geputzt und die Wäsche gewaschen. Heute nicht. Aber aufstehen muss sie, weil sie etwas trinken muss. So kämpft sie sich hoch, schlurft in die Küche, greift sich die erstbeste Flasche im Kühlschrank und trinkt sie vollständig aus. Besser. Jetzt überlegt sie, ob sie zurück ins Bett gehen oder doch aufbleiben soll. Noch ist es warm. Aber es fühlt sich so ungewohnt an. Ach, was soll’s. Sie legt sich wieder hin und lässt die Gedanken schweifen. Der gestrige Abend taucht vor ihrem inneren Auge auf.

»Prego Signoras.«

Das war schön. Die Männerrunde. Sie war dabei. Einfach so. Niemand hat etwas gesagt oder getan. Es war ganz normal.

Es ist fast 14 Uhr, als sie wieder aufwacht und dieses Mal wirklich aufsteht, sich anzieht und zumindest ein paar wichtige Dinge im Haushalt erledigt. Dabei fällt ihr auf, dass sie noch einkaufen muss.

Sie geht zum Schrank, doch aufs Umziehen hat sie keine Lust. Also wirft sie einen unschlüssigen Blick in den Spiegel. Wie ein Mann sieht sie aus, so ohne Make-up und in Jeans und T-Shirt. Aber anscheinend wirkt die Bierlaune noch nach und sie entschließt sich, die Jacke überzuwerfen und einkaufen zu gehen. Einfach so. Wird schon nichts passieren. Es erkennt sie ja keiner. Gedacht, getan. Minuten später ist sie auf dem Weg zum Supermarkt, vorbei an den Einfamilienhäusern und durch den Park. Die Enten kommen angeschwommen und auf dem Spielplatz sitzen nur ein paar Jugendliche, die dort gar nicht sein dürften, und sie kaum beachten. Schnell weiter gehen.

Im Supermarkt geht sie wie immer zielstrebig ihre Route ab und packt alles in den Korb. Die Schlangen an den Kassen sind um diese Uhrzeit immerhin nicht mehr so lang. Sie wählt die rechte, weil es dort scheinbar schneller geht. Gerade als sie darauf zu steuert, hört sie hinter sich jemanden rufen: »Junge Frau, Sie haben etwas verloren!«

Irritiert schaut sie sich um. Hinter ihr winkt eine Frau mit dem Paket Putenbrustaufschnitt, dass sie gerade noch in den Korb gelegt hatte. Muss wohl herausgefallen sein.

»Danke«, haucht sie, während sie den Aufschnitt in Empfang nimmt und wieder in den Korb legt. Schnell dreht sie sich um und stellt sich wieder an der Kasse an. Die Dame hat ›Junge Frau‹ gesagt. Wieso hat sie das getan? Sie sieht heute doch gar nicht wie eine Frau aus? Der Gedanke beschäftigt sie auf dem ganzen Heimweg. Endlich angekommen, die Einkäufe kurz weggepackt, stellt sie sich vor den Spiegel. So steht sie dort. Junge Frau. Sie dreht sich nach links und rechts. Junge Frau.

Ein eigenartiges Gefühl erfüllt sie. Wie ein Ballon, der sich von der Leine löst und unbeschwert in den Himmel steigt. Erinnerungen kommen auf. Erinnerungen an den Jungen in ihr, der alleine in seinem Zimmer sitzt, die Kopfhörer auf dem Kopf, die ihn von der Welt abschotten, und mit Träumen von einer anderen Welt vor dem inneren Auge. In dieser Welt ist er ein glückliches Mädchen. Alles fühlt sich gut und richtig an. Nun steht dieser kleine Junge vor dem Spiegel und spürt, dass diese Traumwelt ganz nah ist. Zum Greifen nah. Anja möchte dieses Gefühl ausdehnen, nicht loslassen. Langsam zieht sie sich aus und betrachtet sich bei jeder Bewegung im Spiegel. Dreht sich immer wieder von links nach rechts. Sobald sie etwas Männliches entdeckt, hält sie inne. Ein kurzer Stich, den es zu betäuben gilt. Wie bei einer Wunde, bei der man durch ständiges Herumfingern letztendlich den Schmerz nicht mehr spürt. Genau das macht sie, dreht sich immer wieder so, dass sie die vermeintlich männlichen Seiten sieht. Irgendwann wird sie taub für den Schmerz sein. Bestimmt.

Schließlich steht sie vollends nackt vor dem Spiegel. Betrachtet sich ausgiebig. Streicht über ihre Haut. Zarte Haut. Weiche Haut. Ihre Brüste, den Bauch.

Sieht so eine Frau aus? Sie hatte immer klare Vorstellungen, wie eine Frau aussehen sollte. Ihr ganzes Leben lang hat sie Frauen intensiv beobachtet. Sie bewundert Frauen. Sie sind Königinnen. Allesamt. Doch das Bild im Spiegel will so gar nicht in die Reihe der Bilder in ihrem Kopf passen. Sie und die Königinnen in einer Reihe? Geht das? Vielleicht. Diese Hoffnung blitzt kurz auf. Ganz kurz. Zu kurz, um sich in Zuversicht verwandeln zu können. Wie ein zartes Pflänzchen in einer unwirklichen Umgebung, das kurz aus dem harten Boden hervorlugt und dann gleich vom eisigen Wind attackiert wird. Der Wind biegt es hin und her und versucht, es endgültig abzuknicken und zu töten. Aber noch hält es.

Anja entschließt sich zu einem ausgiebigen Bad. Sie lässt das warme Wasser einlaufen, legt ihr gerade begonnenes Buch und ihr Smartphone neben die Wanne, füllt Schaumbad ins Wasser und steigt langsam in das heiße Nass. Dieses Mal hat sie auch den Vibrator vorbereitet, mit dem sie eigentlich regelmäßig ihre Vagina dehnen soll. Nur hat sie das schon seit Wochen nicht mehr getan. Zu sehr quält es sie, das Frausein üben zu müssen. Dabei weiß sie, dass es wehtun wird, wenn sie die Dehnungsübungen längere Zeit nicht macht. Nachdem sich ihre Haut auf das heiße Badewasser eingestellt hat, greift sie zum Vibrator und beginnt langsam mit den Übungen. Es schmerzt und sie muss mehrfach ansetzen, bis das Gerät ganz eindringen kann. Erst nach einiger Zeit verdrängt ein angenehmes Gefühl den Schmerz. Erleichterung ergreift sie. Sie ist nicht taub. Sie kann spüren. Dabei hatte sie vor der Operation große Angst gehabt, nach der Angleichung nichts mehr spüren zu können. Schließlich war es ein wesentlicher Teil ihres Traums gewesen, als Frau Sex haben zu können. Glücklicherweise ist es da, das Gefühl. Doch dies wirft andere Fragen auf. Fragen, die sie sich jetzt nicht stellen möchte. Stattdessen beendet sie die Übungen, steckt die Kopfhörer in die Ohren, schaltet die Musik auf dem Smartphone ein und taucht ab in eine schöne, heile Welt.

Anja hat sich auf die Couch gelegt und schaltet gerade durch das abendliche Fernsehprogramm auf der Suche nach irgendeiner leichten Komödie mit Happy End. Auf jeden Fall mit Happy End. Als das Telefon klingelt. Sie greift zum Hörer und meldet sich mit den einstudierten Worten: »Guten Abend, Anja Köhler.«.

»Hi, hier ist Bettina.«

»Hallo, Bettina.«

»Na, wie war dein Morgen? Hattest du einen dicken Kopf?«

»Ging so.«

»Du, Jonas kommt erst morgen Abend wieder und ich dachte, du hättest vielleicht Lust, morgen früh um zehn mit mir frühstücken zu gehen. Was meinst du?«

»Warum eigentlich nicht. Ja, das können wir machen«, antwortet Anja spontan und von sich selbst überrascht.

*

Der Junge sitzt in seinem Zimmer, die Musik aus dem Kopfhörer umspielt ihn und die Welt in seinem Kopf ist in zartes Rosa getaucht. Es ist eine schöne Welt, in der er nicht alleine ist und die Menschen ihn verstehen.

*

Kurz vor zehn. Anja ist früh aufgestanden, hat ihr morgendliches Programm sorgfältiger abgearbeitet als sonst und steht schon im Mantel an der Haustür, als Bettina klingelt.

»Hallo, alles klar?«

Bettina umarmt und küsst sie rechts und links auf die Wange. Anja ist bemüht, locker dazustehen.

»Ich habe in der Hauptstraße so ein schnuckeliges Café gesehen, sollen wir dort hingehen?«

Anja nickt nur, immer noch überwältigt von der Herzlichkeit, die ihr Bettina entgegenbringt. Dann gehen sie wortlos in Richtung Hauptstraße. Sie nehmen Anjas üblichen Weg durch den Park, an den Enten und dem Spielplatz vorbei. Alles liegt still da. Selbst die Enten scheinen noch im sonntäglichen Ruhemodus zu sein.

Das Café ist recht leer. Es ist im Stil moderner Schlichtheit eingerichtet. Kein unnötiger Zierrat stört den Blick. Alles ist klar und gerade, fast ein wenig kühl. Sie setzen sich an einen Tisch an einem der Fenster, bestellen zwei Milchkaffee sowie das Frühstück für zwei. Sie plaudern über dies und das. Anja kann beruhigt auf ihren eingeübten Pfaden bleiben.

»Wieso hast du eigentlich in Dunkelblau geheiratet?«

Bettinas Frage wirft sie aus der Bahn. Auf diese Frage hat sie keine Antwort vorbereitet. Sie verflucht sich, dass sie sich gestern zu dieser Aussage hat hinreißen lassen. Hätte sie nicht einfach den Mund halten können? Sie schluckt. Bettina sieht sie fragend an, und Anja schlägt das Herz bis zum Hals. Nun ist alles vorbei. Sie war noch mit dem Gefühl aufgestanden, einen Schritt in die Welt der Königinnen machen zu können. Vielleicht doch irgendwie dazugehören zu können. Doch das war nur ein Traum gewesen, der nun dabei war zu zerplatzen. Alternative Antworten rattern durch ihren Kopf. Keine erscheint richtig.

Weiß steht mir nicht. Nein, das kann sie nicht sagen, weiß steht ihr gut.

Dunkelblau war als Hochzeitsfarbe im Trend. Noch blöder. Es hilft nichts. Wenn man keinen Ausweg mehr sieht, dann muss man zu sich stehen. Das hat Anja gelernt. Immer wieder war sie in schwierige Situationen geraten. Damals, als die heimlichen Exkursionen ins Frausein ihre einzigen Lichtblicke waren. Einmal war sie auf einer Tour sogar in einem Polizeiwagen gelandet. Sie war zuvor mit dem Auto ziellos über die Autobahn gefahren, bis sie dringend auf die Toilette musste. Die sanitären Anlagen auf Raststätten waren zumeist anonyme Orte, also hielt sie bei der nächsten Gelegenheit und hastete zur Toilette. Doch als sie zurückkam, stand ihr Auto nicht mehr dort, wo sie es geparkt hatte. Es hatte sich selbständig gemacht und war rückwärts gerollt, bis es von einem Lieferwagen aufgehalten worden war. Das Ergebnis war eine kräftige Beule in der Seite des Lieferwagens. Der Fahrer hatte bereits bei ihrem Auto gestanden und auf sie gewartet.

Sie fragt sich immer noch, wie sie diese Situation damals überlebt hat. Der Fahrer hatte die Polizei informiert. Als die kamen, betrachteten sie Anja misstrauisch und forderten sie auf, sich in den Polizeiwagen zu setzen.

»Haben Sie sich mal angesehen?«, hatte der ältere Beamte mit ihr geschimpft. »Sollen wir Sie so nach Hause fahren, damit alle Sie einmal so sehen?«

Anja hatte nicht gewagt, irgendetwas zu erwidern. Letztlich nahmen die Beamten ihre Adresse auf und ließen sie gehen. Sie weiß noch genau, wie schwer es ihr gefallen war, wieder ein Leben zu leben, das alle um sie herum als das für sie bestimmte hielten. Dies war einer der Momente, an dem sie sich schwor, ein für alle Male mit diesen heimlichen Touren aufzuhören. Wie so oft zuvor hatte sie ihre Frauenkleidung verbrannt, doch auch bei diesem Mal war das Bedürfnis, ein anderes Leben zu leben, nicht auszulöschen. Es wurde immer stärker. Schließlich erkannte sie, dass es nie aufhören würde. Zuerst dachte sie, ihr Leben hätte keinen Sinn mehr. Doch dann wusste sie, was zu tun war. Sie hatte die Entscheidung getroffen, zu sich zu stehen. Sie hatte all ihre Ängste über Bord geworfen und sich den Menschen offenbart. Alles wurde durcheinandergewirbelt. Sie musste komplett neu anfangen. An einem neuen Ort, ohne jegliche Kontakte, aber mit großer Hoffnung ist sie am Ende ihrem Traum ein Stückchen nähergekommen. Eine gute Entscheidung also. Nun ist es an der Zeit, wieder eine solche Entscheidung zu treffen.

»Ich habe in einem dunkelblauen Anzug geheiratet.«

»Einem Anzug?« Bettinas Gesicht ist ein einziges Fragezeichen.

Anja holt tief Luft.

Ich werde springen, schwirrt ihr durch den Kopf.

»Ich habe als Mann geheiratet.«

Jetzt ist es raus. Ihre Augen fixieren Bettinas Gesicht. Spürt, wie es in ihr arbeitet.

»Als Mann? Warum denn das?«

Anja muss lachen. Ja, warum nur? Eine gute Frage. Eine unerwartete Gelassenheit ergreift sie.

»Ich bin als Junge auf die Welt gekommen, habe aber immer gewusst, dass ich ein Mädchen bin. Ich hatte bloß zu viel Angst, das zu offenbaren, und habe immer versucht, den Ansprüchen zu genügen, indem ich das tat, was man von mir erwartete. Und das war nun einmal, dass ich eine Freundin habe und heirate. Also habe ich es gemacht. Irgendwann konnte ich dieses Leben nicht mehr leben. Als ich dachte, es hätte keinen Sinn mehr, und ich es fast beenden wollte, habe ich mich stattdessen entschlossen, zu meinem wahren Ich zu stehen. Ich habe alle rechtlichen Konsequenzen umgesetzt und eine geschlechtsangleichende Operation machen lassen. Ich bin eine transsexuelle Frau.«

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