Читать книгу: «Tödliche Zeilen», страница 3

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Kutscher erreichte die Küche. Sämtliches Geschirr stand in der Spüle, Tisch und Backofen blitzten frisch geputzt. Vom Bier abgesehen, fand er in diesem Raum keine Ablenkung. Also füllte er sich etwas vom kalten Gerstensaft in einen Becher. Einen kleinen Schluck trank er sofort, dann machte er sich wieder auf den Weg in seine Schreibstube. Mit jedem Schritt wurde er langsamer, er schlurfte über den Boden und freute sich über das Geräusch, dass seine Hauslatschen verursachten.

Wieder am Schreibtisch, nahm er einen weiteren Schluck, griff zur Feder und begann zu schreiben: Lieber Hanno, mein Bruderherz … Die Feder in seiner Hand wurde immer schwerer. Kutscher malte sich aus, dass sein Bruder schon beim Lesen der ersten Worte ahnte, warum er ihn anschrieb. Vermutlich würde Hanno sein Ich-hab’s-doch-immer-gewusst-Grinsen schon aufsetzen, wenn er den Absender auf dem Briefumschlag las. Insgeheim verfluchte Kutscher seine Großmäuligkeit, mit der er nach dem Erhalt seines ersten Honorars für einen Detektivroman der Familie verkündet hatte, dass er nun auf eigenen Beinen stehe und Zuschüsse aus den Erlösen der väterlichen Chemiefabrik nicht mehr nötig habe. Denn seitdem musste er alle paar Monate einen Bettelbrief verfassen.

Er nahm noch einen Schluck Bier, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Was für eine Wohltat! Wie leicht alles wurde! Die Worte schlichen durch seinen Kopf, auf leisen Pfoten, wie eine Katze zum Fressnapf. Da war es plötzlich – das Gedicht. Kutscher sprang auf und riss ein Blatt aus der Schublade. Hastig klierte er darauf die Worte:

Ein Handelsmann in Xanten

hatte gar schreckliche Tanten.

Nur Milch bekam er hier,

doch trank er heimlich Bier

und meuchelte seine Verwandten.

Kutscher steckte die Feder zurück ins Tintenfass. In einem Zug leerte er den Becher und ließ ihn auf den Tisch krachen. Vollbracht! Er pustete die Tinte auf dem Blatt Papier trocken und legte den Limerick in die Mappe zu den anderen Biergedichten.

Verblüfft stellte Kutscher fest, dass die Schwere aus seinem Kopf verschwunden war. Er warf einen Blick auf den Briefbogen. Nun erschien ihm die Sache gar nicht mehr so dringend. Denn das Postamt öffnete ohnehin erst am nächsten Morgen. Genau genommen war es gleich, ob er den Bettelbrief jetzt verfasste oder erst nach dem Aufstehen.

»Hast du schon etwas getrunken?«, fragte Edgar Wank.

»Ein Schlückchen mit den Kollegen«, antwortete Eleonore Rada. Sie stellte den Pelzkragen ihres Mantels auf, sodass ihr Gesicht beinahe in dem Fell verschwand. Nur ihre Nasenspitze lugte ins Freie wie eine vorwitzige Maus aus ihrem Loch.

Wank seufzte und führte sie weg vom Theater in die dunkle Nacht.

»Du hast mich warten lassen, mein Lieber.« Eleonore schmiegte sich an ihn. »Ich hatte gehofft, dass auch du mit mir noch einen Wein trinkst.« Sie kam noch etwas näher und flüsterte ihm ins Ohr: »Bei mir.«

»Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. In der Redaktion ist gerade allerhand zu tun.« Wank führte Eleonore auf der Töpferstraße in Richtung Töpferplatz.

»Ich habe heute einen Gerichtsfall um den Schriftsteller Karl May verfolgt.«

»Karl May? Hat der etwas angestellt? Man hört da so einiges.«

»Nein, nein. Nun ja, doch, aber das ist schon lange her, und darum ging es heute nicht.« Wank dachte an seine Unterlagen und die Diebstähle, die May in jungen Jahren begangen hatte und über die einige Presseberichte herumgeisterten. Der Schriftsteller hatte deswegen sogar im Gefängnis gesessen. Seine Feinde nutzten dies aus und ritten auf der dunklen Vergangenheit des Schriftstellers herum. Doch das wollte Wank Eleonore jetzt nicht in aller Breite erklären, daher sagte er nur: »Vor dem Reichsgericht hat er recht in einer Verlagsangelegenheit bekommen. Herr May macht im Übrigen den Eindruck, als habe er es schon lange nicht mehr nötig, irgendwen zu bestehlen. Leider bin ich aber in den Rechtswissenschaften nicht sonderlich bewandert, sodass es mir nicht gerade leichtfällt, einen angemessenen Bericht zu verfassen.«

Eleonore gähnte.

»Mit einem richtigen Toten habe ich auch gerade zu tun. Ich bin sicher, es handelt sich um einen Mord.«

»Das schaffst du schon.« Sie schien keine Lust auf Schauergeschichten zu verspüren.

Von der Pleiße wehte eine Brise herüber. Es roch nicht so streng wie mitunter im Sommer, aber zusammen mit dem Qualm aus den Schornsteinen der Stadt erinnerte der Geruch ein wenig an Räucherfisch.

Einige Studenten krakeelten auf dem Fleischerplatz. Sie trugen die Scherpen einer Burschenschaft und lallten völlig betrunken ein Lied. Eleonore rückte so nah an Wank heran, dass er den Eindruck hatte, sie wolle unter seinen Mantel kriechen. Seltsamerweise fühlte er sich dadurch stärker. Vermutlich hätte er es voller Übermut sogar mit den besoffenen Burschen aufgenommen, wenn sie Ärger gemacht hätten, doch die nahmen keinerlei Notiz von ihnen. Sie schwankten Richtung Schulplatz von dannen, ihr Gebrüll ging nun im Plätschern der Pleiße unter.

Wank führte Eleonore eilig über den Thomasring zur Promenadenstraße. An dieser Stelle war von dem Fluss nichts mehr zu sehen oder zu riechen, denn die Pleiße floss hier seit ein paar Jahren unterirdisch. Die Laternen tauchten die Straße vor ihnen in fahles Licht, die Fassaden wirkten wie die Gemäuer eines Gespensterschlosses. Doch hier wohnten keine Bösewichter, sondern honorige Menschen wie Eleonore. Ihre Wohnung befand sich im zweiten Haus der Straße, im Parterre.

»Schnell, mir ist so kalt!« Eleonore ließ Wank los, öffnete die Haustür und eilte ins Treppenhaus. »Im Ofen liegen noch die Kohlen, die du aus dem Keller geholt hast.« Hurtig schloss sie die Wohnungstür auf und zog Wank hinein.

Jedes Mal, wenn Wank Eleonores Reich betrat, überkam ihn Wehmut. Der Flur führte in eine Stube, in eine Essküche und in ein Schlafzimmer. Die Wohnung hätte ohne Weiteres für sie beide gereicht. Vielleicht wäre sogar Platz für einen Sohn oder eine Tochter. Doch daran wagte Wank nur in seinen kühnsten Träumen zu denken. Seit Jahren traute er sich nicht, mit Eleonore über die gemeinsame Zukunft zu sprechen. Sie machte diesbezüglich auch keinerlei Andeutungen, und so wohnte er immer noch in seinem kargen Zimmer in der Karlstraße. Auch jetzt schien ihm nicht die rechte Zeit für dieses Thema zu sein. Er schritt in die Stube, ohne den Überzieher abzulegen, und entfachte das Feuer im Ofen.

»Ach, ist das herrlich!«, sagte Eleonore. »Allein das Flackern macht mich so froh.«

Wank zog seinen Überzieher aus und schob den Sessel vor den Ofen. »Komm«, sagte er, »hier ist es warm.«

»Warte noch einen Moment«, sagte Eleonore, zog ihren Mantel aus und setzte sich ans Klavier. Leise spielte sie eine Weise aus Millöckers Bettelstudent. Die ersten Zeilen summte sie nur, dann sang sie: Ach! Und wärst du arm, träfe dich Schmach/Wahre, inn’ge Liebe, sie fragt nicht danach/Nich lockt mich Reichtum, prunkender Schein/Ich will dein Herz nur allein!

Wank schaute zum Klavier. Die Noten standen aufgeschlagen im Ständer. War das ein Zufall? Oder wollte Eleonore ihm mit der Textstelle etwas sagen? Und wenn ja, was? Sicher, er verfügte nicht über den Reichtum, den sein Freund Kutscher durch das Unternehmen seiner Familie mitbrachte. Doch sein Einkommen bescherte ihm durchaus ein Leben ohne Sorgen.

»Du siehst so nachdenklich aus.« Eleonore erhob sich vom Klavierhocker und kam auf Wank zu. »Heute Abend sollten wir nicht mehr über die Arbeit sinnieren.« Sie streifte ihr Kleid von den Schultern und setzte sich auf Wanks Schoß.

Tagebucheintrag vom 9. Januar 1907

Es gibt Gerechtigkeit. Ich sorge dafür. Ich bin Kläger, Richter und letzte Instanz. Unbestechlich. Die Welt ist eine bessere dank meines beherzten Tuns.

Freilich bleibt noch genug zu erledigen. Noch kann ich mich nicht in meinem Sessel zurücklehnen oder mich anderweitig zur Ruhe setzen. Im Gegenteil. Mir scheint Eile geboten. Vielleicht kehrt durch meine Taten gar Vernunft in gewissen Kreisen ein.

Denn besser als der Richter herrscht die Weisheit. Ich stehe ihr zu Diensten.

Drei
Donnerstag, 10. Januar 1907

Das ist keine schlechte Arbeit.« Doktor Richter hielt das Manuskript in die Höhe.

Edgar Wank richtete sich auf dem Schemel vor dem Schreibtisch des Redaktionsdirektors auf. Wenn Richter seinen Text zerpflückte, wollte er auf der Hut sein.

»Mir scheint nur, dass Sie die Vorstrafen des Herrn May getrost etwas ausführlicher behandeln könnten.« Richter blickte ihn an, als würde er eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage erwarten.

»Die Diebstähle hat der Schriftsteller während seiner Jugendzeit begangen, sie haben nichts mit dem Streit vor dem Reichsgericht zu tun. Um ehrlich zu sein, habe ich in Erwägung gezogen, sie gar nicht zu erwähnen.«

»Aber Herr Wank, der Charakter eines Menschen muss bei Gerichtsdingen stets ausführlich dargestellt werden.« Richter hob den Zeigefinger der rechten Hand. »Wie sagt der Volksmund? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Das sollten Sie auch bei Herrn May nicht außer Acht lassen.«

Da ihm nichts anderes einfiel, zückte Wank sein Notizbuch.

Richter schaute nun zufrieden. »Dieser Kolportageschmierfink propagiert in seinen Texten Unzucht und versucht seine Leser von der Sittlichkeit abzubringen. Das sollte in einem Artikel unbedingt ausgeführt werden, schon um unseren Lesern ein vollständiges Bild zu vermitteln.« Ein mildes Lächeln war unter Richters gezwirbeltem Schnurrbart zu erahnen. »Sie dürfen nicht vergessen, dass unsere Leser solche Texte durchaus goutieren. Genau deshalb wollte ich, dass Sie den Artikel verfassen. Schließlich kennen Sie durch Ihre tägliche Arbeit die menschlichen Abgründe am allerbesten.«

Wank notierte das Wort Sittlichkeit – irgendetwas musste er schließlich tun. Er hatte das Gefühl, dass der Vortrag des Redaktionsdirektors noch nicht beendet war.

Tatsächlich sprach Richter weiter. »Ich möchte nichts Unmögliches von Ihnen verlangen, Herr Wank. Daher dürfen es ruhig ein paar Zeilen mehr sein. Und es reicht mir vollkommen, wenn der Artikel in der Sonnabendausgabe erscheint. Darf ich bis dahin mit einem neuen Manuskript rechnen?«

»Selbstverständlich, Herr Redaktionsdirektor«, erwiderte Wank. Er verspürte eine gewisse Erleichterung, dass er zwei Tage Zeit bekam, um sich etwas einfallen zu lassen. Denn eigentlich blieb er der Ansicht, dass Karl May nicht der Bösewicht in dem Artikel sein sollte. Die Münchmeyers hatten ihn um viel Geld gebracht, und der Schriftsteller hatte recht bekommen. Das sollte der Tenor des Artikels bleiben, wenngleich Wank Richters Weisungen in den Text einarbeiten musste. Er erhob sich. »Dann werde ich mich umgehend an meinen Schreibtisch begeben, Herr Redaktionsdirektor.«

»Nicht so eilig, Herr Wank!« Mit einem Handzeichen hieß Richter ihn, wieder Platz zu nehmen. »Ich habe noch eine zweite Sache mit Ihnen zu besprechen.«

Wank ließ sich wieder auf den Schemel fallen. Zum Glück hielt er sein Notizbuch noch in der Hand. So hatte er wenigstens das Gefühl, etwas im Griff zu haben. Der Gedanke erheiterte ihn. Nur mühsam unterdrückte er ein Lächeln.

Richter, der das nicht zu bemerken schien, legte Wanks Artikel auf einen säuberlich gestapelten Papierberg. Er blickte auf und sagte: »Wie ich hörte, befassen Sie sich mit dem tragischen Tod des Kollegen Orlog von den Bacchus-Blättern. Bringen Sie mich doch bitte kurz auf den neuesten Stand!«

Woher wusste Richter das schon wieder? Wank ließ sein Notizbuch langsam sinken, um etwas Zeit zu gewinnen. Nach Worten ringend, sagte er: »Die Umstände seines Todes sind … ausgesprochen undurchsichtig. Die Polizei hat mich gebeten, noch keine Nachrichten zu veröffentlichen.«

»Dem sind Sie nachgekommen?« Richter klang lauernd wie ein Jäger auf dem Hochsitz.

»Selbstverständlich – fürs Erste. Ich werde mich später zu Kommissar Machuntze begeben. Da hoffe ich auf Neuigkeiten für die Nachmittagsausgabe.«

»Daran tun Sie recht.« Richter lehnte sich in seinem Sessel zurück, seine größten Sorgen schienen zu schwinden. »Doch davon unbenommen, würde ich gern Ihre Meinung zu dieser Sache vernehmen.«

»Nun …« Wank versuchte zu erraten, was der Redaktionsdirektor hören wollte. »Mir scheint doch einiges für ein Verbrechen zu sprechen. Durch einen Zufall konnte ich den Ort seines Ablebens in Augenschein nehmen. Mir sind da einige Ungereimtheiten aufgefallen.«

»Die da wären?«

»Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen. Doch vieles deutet darauf hin, dass es kein Unfall war, beispielsweise der Fundort seines Hutes.«

»Der Hut?« Richter klang überrascht. »Deswegen vermuten Sie einen Mord?«

»Ich habe Kommissar Machuntze meine Beobachtungen mitgeteilt. Und er versprach mir, der Sache nachzugehen.«

»Hm.« Richter schien das nicht zu überzeugen. »Dann erfahren Sie in den nächsten Stunden, ob diese tragische Angelegenheit in Ihr Sachgebiet fällt?«

»Ich denke schon.«

»Bitte setzen Sie mich von dem Ergebnis in Kenntnis, Herr Wank.« Richter tippte auf den Papierstapel. »Ich habe hier bereits ein paar Zeilen von Herrn Bollmann liegen, in denen Orlogs Schaffen gewürdigt wird. Sie können deshalb auch diese Sache in Ruhe angehen, sofern es sich um ein Verbrechen handelt.« Der Redaktionsdirektor zog die Augenbrauen in die Höhe und fügte an: »Und sprechen Sie doch vor etwaigen Berichten mit Bollmann. Er war dem armen Orlog in herzlicher Abneigung verbunden und kann Ihnen gegebenenfalls Auskünfte erteilen.«

»Ich habe Herrn Bollmann bereits konsultiert«, erwiderte Wank. »Allerdings ist er stets sehr beschäftigt.«

Richter schnaufte wie ein Bär. »Das möchte ich wohl hoffen. Oder wollen Sie andeuten, dass es ihm an Kollegialität mangelt? Soll ich ihn gar einbestellen?«

»Nein«, stieß Wank eilig hervor. »Ich werde ihn noch einmal zu Rate ziehen, Herr Doktor Richter.«

Thomas Kutscher betrat die Druckerei. Er folgte Eberhard Rollnik. Sie schritten an den Maschinen vorbei, die einen Lärm wie eine ganze Artillerieeinheit erzeugten. Die Walzen der Druckmaschine spuckten Papier aus. In dem Gebäude war es so warm, dass Kutscher seinen Mantel aufknöpfte. Ein Dunst aus Druckfarbe, Öl, Schweiß und Papierstaub waberte durch die Räumlichkeiten. Aber der Geruch störte Kutscher nicht – im Gegenteil, er verspürte in der Druckerei stets eine gewisse Ehrfurcht. Mit den übelriechenden Kolossen verwandelten die Arbeiter seine geistigen Erzeugnisse in Handelsware.

Neben einem Tor standen meterlange Tische, auf denen die Druckwaren aus der Buchbinderei lagen. Rollnik steuerte auf eine der Werkbänke zu. Dort stapelte ein Mann in grauen Hemdsärmeln Kutschers neue Detektivromane. Verleger und Arbeiter wechselten ein paar Worte, die Kutscher aufgrund des Lärms der Druckerpressen nicht verstand. Daraufhin überreichte der Arbeiter Rollnik eines der Bücher.

Während Kutscher hinzutrat, schlug der Verleger den Roman auf. Er überflog die erste Seite und blätterte weiter. Er hielt das Heft weiter von sich weg und drehte es langsam nach links, dann nach rechts. Er wiederholte die Bewegung mehrfach. Schließlich rief er laut: »Holen Sie Tröger, aber hurtig!«

Der Arbeiter spurtete zu einer Treppe und eilte die Stufen hinauf zu einem offenen Gang, von dem mehrere Türen abgingen. Dort befanden sich die Arbeitszimmer der Setzer. Der Arbeiter lief zum letzten Raum. Kutscher schätzte die Ausmaße der Halle ab. Er vermutete, dass die letzte Kammer an der Außenwand einen Zugang zu der Feuertreppe besaß, die er gestern vom Hof der Druckerei aus gesehen hatte.

Der Arbeiter klopfte an die Tür, und ein alter Mann in einer groben Joppe erschien. Die beiden wechselten ein paar Worte. Daraufhin flitzte der Arbeiter die Treppe wieder hinunter. Der Alte schlurfte hinterher.

»Schauen Sie sich das an!« Zu Kutscher gewandt, hielt Rollnik das aufgeschlagene Heft in die Höhe.

Kutscher betrachtete sein Werk. Die Zeilen waren eng gesetzt. Am Kapitelbeginn überragte ein Initial die drei ersten Zeilen. Er überflog die erste Seite. Es handelte sich eindeutig um seinen Detektivroman. So lange, wie er an dem Text gefeilt hatte, würde er ihn an jedem Satz erkennen.

»Das ist eine Katastrophe!«, rief Rollnik.

Kutscher betrachtete die Seite noch einmal, ohne dass ihm etwas auffiel.

Der Arbeiter näherte sich der Werkbank. Er schaute devot wie ein Delinquent, der dem Richter vorgeführt wird. Dabei beachtete Rollnik ihn gar nicht. Der Verleger blickte mit steinerner Miene auf das Heft.

»Was wünschen Sie, Herr Rollnik?«, fragte der Alte, noch während er herbeitrottete.

»Was haben Sie sich dabei gedacht, Herr Tröger?«, erwiderte der Verleger wie ein Feldwebel und hielt dem Alten das Heft entgegen.

Tröger betrachtete das Druckwerk und zuckte mit den Schultern.

»Sie sind unser wichtigster Setzer. Auf wen soll ich mich verlassen können, wenn nicht auf Sie? Muss ich etwa jede Druckform selbst überprüfen? Welche Aufgaben sollte ich denn dann Ihnen übertragen?«

Der Alte schwieg.

Der Verleger tippte auf die Schrift. »Schauen Sie sich das an. Lauter Zwiebelfische! Dieses M ist doch niemals eine Eckmann! Und dieses G auch nicht! Und hier! Und hier! Und hier!« Rollnik brüllte wie ein Offizier beim Exerzieren. »Haben Sie wieder in den Kasten mit der Böcklin gegriffen? Und warum überprüfen Sie den Andruck nicht?«

Nun erkannte auch Kutscher, worüber sich der Verleger so echauffierte. Einzelne Buchstaben wirkten etwas gröber als die anderen. Die Abweichung war nur gering, doch bei genauer Betrachtung sah das Schriftbild ein wenig unruhig aus. »Sie meinen, das fällt jemandem auf?«, fragte er, ohne über seine Worte nachzudenken.

Tröger warf ihm einen kurzen dankbaren Blick zu.

Rollnik schaute Kutscher ebenfalls für einen Moment an und belehrte ihn dann so, als spräche er mit einem Kind. »Nun, immerhin handelt es sich bei beiden Schriften um Antiqua-Varianten. Das sieht vielleicht nicht jeder Leser auf den ersten Blick …« Dann wandte er sich an Tröger, und sein Ton wurde wieder streng. »Hier geht es um die Qualität! Ich erwarte von unseren Schriftstellern ein gutes Manuskript und von meinen Setzern eine ebenso treffliche Arbeit! Das eine ist ohne das andere nichts wert!«

Für einen Moment war nur der Lärm der Maschinen zu vernehmen. Die Frage »Was nun?« stand unausgesprochen im Raum.

Rollnik beugte sich zu Kutscher und fragte derart leise, dass die Worte gerade so zu verstehen waren: »Würden Sie die erste Auflage auch in dieser Form akzeptieren?«

Kutscher zuckte mit den Schultern und war sich nicht sicher, was für eine Antwort Rollnik erwartete. Er murmelte: »Ehe es weitere Umstände verursacht …«

Rollnik nickte, wandte sich an den Alten und blaffte: »Sie haben großes Glück, Herr Tröger! Doch seien Sie sicher, Ihre Schluderei wird nicht ohne Konsequenzen bleiben. Zumal es sich nicht um Ihren ersten Fehler handelt. Es ist gerade ein paar Wochen her, dass sich Herr Orlog, Gott hab ihn selig, über das Druckbild seiner Bacchus-Blätter beklagt hat.«

»Jawohl, Herr Rollnik«, sagte Tröger in trockenem Ton. Der Alte schlich von dannen, gebeugt, als würde er die Druckware eines ganzen Monats auf seinem Buckel schleppen.

»Kommen Sie!«, forderte Rollnik Kutscher auf und wies Richtung Ausgang der Halle. »Sie haben etwas gut bei mir.«

Kutscher folgte dem Verleger. Nach ein paar Schritten schloss er zu ihm auf und sagte: »Ich hätte tatsächlich einen Wunsch.«

Rollnik zuckte zusammen und blickte ihn scharf an.

Oh, er hat Angst, dass ich ihn auf meine Gedichte anspreche, dachte Kutscher und musste grinsen. Er zwinkerte Rollnik zu. »Es ist nur eine Kleinigkeit, denke ich. Einer meiner Freunde würde zu gern heute Abend den Salon Ihrer Frau Mutter besuchen.«

»Tatsächlich?«, erwiderte Rollnik. Und Kutscher glaubte, den Stein fallen zu hören, der vom Herzen des Verlegers fiel. »Herr Kutscher, bringen Sie mit, wen immer Sie wollen! Ihre Freunde sind auch meine Freunde.«

Ein Diebstahl in der Kohlgartenstraße, die Festnahme eines geisteskranken Einbrechers, die Suche nach einem stadtbekannten Betrüger, die Rettung eines Beamten in der Wurzener Straße, der einen Schlaganfall erlitten hatte – Edgar Wank überflog die Neuigkeiten des Kommissars in seinem Notizbuch in Machuntzes Büro.

Während Machuntze die Akten zurück auf seinen Schreibtisch legte, steckte Wank sein Büchlein ein, um zu zeigen, dass der dienstliche Teil der Unterredung beendet war. Nun wagte er es, auf den toten Literaturkritiker zu sprechen zu kommen. »Vermutlich, Herr Kommissar, haben Sie im Falle des Herrn Orlog noch keine Nachrichten, die ich in der Zeitung veröffentlichen kann. Dennoch würde ich gern über den Fortgang Ihrer Untersuchungen in Kenntnis gesetzt werden.«

»Das is doch keene große Sache, mei libber Herr Wank«, sagte der Polizist im beiläufigen Tonfall. Er reckte sich, zog eine Akte aus dem Stapel auf seinem Schreibtisch und öffnete sie. Das ging so schnell, dass Wank vermutete, Machuntze war auf die Frage vorbereitet gewesen.

Der Beamte schlug die Mappe auf, ließ seinen Blick über die Seiten schweifen und erklärte: »De Beamten ham das Dach der Druggerei Rollnik untersucht. Un ich kann sachn, sie sind fündisch geworn. Da fehlte een Dachziechel. Un zwar genau dorte, wo uff dor Straße da arme Herr Orlog offgefundn wurde.« Machuntze machte eine kurze Pause. »Da obn liechen übigens genau de selbm Ziechel, wie wir eenen neben dor Leiche gefundn ham.«

»Das ist interessant«, sagte Wank. »Somit gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder hat sich der Ziegel durch starken Wind gelöst und ist dann auf das Opfer gefallen. Oder der Mörder hat das Dach erklommen und sich so eine Waffe beschafft.«

»Da ham Se recht.« Machuntze lachte kurz, sein Schnurrbart wippte. »Da sind zwee Möchlichkeitn. Eene wahrscheinliche un eene unwahrscheinliche.«

»Sie glauben also auch, ein Mord ist nicht ausgeschlossen?«

»Mir glooben nicht, mir ermiddeln. Un zwar midden neustn wissenschaftlichn Medhoden, Herr Wank.« Machuntze blätterte in der Mappe, zog ein Blatt Papier hervor und sagte feierlich wie bei einer Eröffnungsvorlesung: »Eichentlich guggen de Ballisdiger bei uns ja vor allm uff Verbrechn, die mit ’ner Schusswaffe begangn wern. Aber diesmal ham die Kollechen sich ooch diese Sache angeguggt.« Der Polizist zeigte ihm eine Zeichnung und erklärte, dass sich die Beamten besonders darüber gewundert hätten, dass der Ziegel Orlog am Auge und an der Stirn getroffen hatte. Ein stilisiertes Haus, ein Strichmännchen sowie verschiedene Pfeile sollten den vermutlichen Verlauf des Unfalls darstellen. Nach der These der Polizei hatte Orlog nach oben geschaut, dabei war ihm der Hut vom Kopf gefallen, und anschließend hatte ihn der Stein getroffen.

Wank betrachtete die Zeichnung ausgiebig. Die Theorie schien schlüssig. Dennoch stimmte etwas nicht. Oder wollte er nur recht behalten wie ein alter Starrkopf? Doch dann kam ihm ein Gedanke, und er fragte den Kommissar: »Warum sollte Herr Orlog nach oben geschaut haben?«

»Na, weil er da een Geräusch gehört ham wird. Da hat sich ja ’n Ziechel gelöst.«

Das klang einleuchtend, musste Wank zugeben. Dennoch blieb da dieses ungute Gefühl. Er kratzte sich am Kopf. Dann fiel es ihm ein. »Das erklärt noch nicht, warum der Hut genau an jener Stelle lag, wo Herr Kutscher ihn gefunden hat.«

»Was weeß ich, wie so’n Hut rollt, wenn er ma vom Kopp runtergeflochn is. So’n Hut ist ja nich rund. Da würd ooch der Kolleche vonner Ballisdig nur wild spegguliern könn. Sacht er.«

Wank suchte auf der Zeichnung nach einer Skizze des Hutes. Doch da war nichts dergleichen. »Das klingt mir doch recht vage angesichts solch eines ernsthaften Einwands.«

Machuntze legte das Blatt Papier zurück in die Akte und brummte: »Meenethalben. Mir gucken uns de Sache ja ooch weiter an.« Er erklärte, dass die Kollegen nun Untersuchungen gegen den Verlag Rollnik als Inhaber des Gebäudes führten, wenngleich derzeit nichts auf ein Verschulden seitens des Unternehmens hindeute. Doch das sei eben noch abschließend zu klären. Machuntze schloss seine Ausführungen mit den Worten: »So, nu wissen Se, was Se schreim können. Bei der Bolizei hätt jedenfalls keener een Problem, wenn der Leichnfund heute inner Nachmittagsausgabe stehen tät.«

»Ich habe jede Menge Zeit und werde erst einmal die weiteren polizeilichen Ermittlungen abwarten, Herr Kommissar. Heute darf zunächst der Herr Kulturredakteur das Schaffen des Verblichenen würdigen.«

Machuntze legte die Akte direkt vor sich auf den Tisch und tippte darauf. »Bei de Schöngeistern is die Angelechenheit ooch viel besser uffgehobn als bei uns. Mir ham, weeß Gott, anneres zu tun.«

Thomas Kutscher schaute auf den Brief in seiner Hand, dann zu seinem Schreibtisch und wieder zurück. Auf dem Sekretär lag noch immer das unfertige Schreiben an seinen Bruder Hanno. Am Morgen war ihm eingefallen, dass die Post bis zum Nachmittag geöffnet und er noch genug Zeit zum Verfassen des Bettelbriefes hatte.

Doch Hanno war ihm zuvorgekommen, das Schreiben in Kutschers Hand stammte von ihm. Dabei sandte Hanno niemals unaufgefordert Post. Aber Antworten auf ungeschriebene Briefe gab es auch nicht …

Kutscher setzte sich und nahm den Brieföffner zur Hand, doch er zögerte. Etwas Gutes erwartete er nicht. Warum sollte er das Schreiben nicht noch etwas liegen lassen? Reichte es nicht, wenn er morgen von üblen Nachrichten erfuhr? Oder übermorgen? Andererseits duldete seine finanzielle Situation keinen Aufschub.

Ein paarmal überlegte Kutscher hin und her. Letztlich kam er zu dem Ergebnis, dass der Brief des Bruders viel leichter zu öffnen war als der seine zu verfassen. Er schlitzte den Umschlag auf und entnahm ihm den Briefbogen. Noch bevor er das erste Wort las, erkannte er, dass sein Bruder den Brief nicht selbst geschrieben hatte. Die wenigen Zeilen waren eindeutig von Frauenhand notiert. Hatte Hanno die Worte diktiert?

Kutscher las:

Mein lieber Thomas!

Ich werde am Sonnabend in Leipzig weilen und habe wichtige Dinge rund um die Kutscher-Werke mit Dir zu besprechen. Bitte finde Dich pünktlich um fünf Uhr im Café im Oertelschen Haus ein. Und sei bitte so freundlich und bestätige Dein Erscheinen alsbald in einem Telegramm.

Herzlichst

Hanno

Kutscher betrachtete das Geschriebene. Sein Bruder wusste offenkundig, dass der Begriff Brief vom lateinischen Wort breve stammte und übersetzt so viel wie »kurzes Schriftstück« bedeutete. Denn knapper hätte die Einladung kaum ausfallen können. Oder handelte es sich um eine Vorladung? Versuchte Hanno schon wieder, ihm eine eigentümliche Stellung bei den Kutscher-Werken schmackhaft zu machen? Dutzende Male hatte der Bruder ihm bereits nahegelegt, in den Familienbetrieb einzusteigen.

Nein, dieses Mal wirkten die Worte ernsthafter, geradezu bedrohlich. Befanden sich die Kutscher-Werke in Schwierigkeiten? Und wie sollte ausgerechnet er, der in allen wirtschaftlichen Dingen Unbedarfte, da helfen?

Die Barschaft in seiner Schatulle wurde auch bei erneutem Nachschauen nicht üppiger. Aber für ein Telegramm sollte es reichen. So konnte er auch um eine weitere Zuwendung bitten, ohne viele Worte machen zu müssen.

Er warf den Mantel über und verließ die Wohnung. Bis zur Post würde er eine Viertelstunde brauchen – Zeit genug, sich die richtigen Formulierungen für das Telegramm zu überlegen. Als er die Treppe im Hausflur hinunterlief, nahm er stets zwei Stufen auf einmal. Flugs trat er auf die Pestalozzistraße.

Wolken tauchten die Stadt in ein Dämmerlicht, dabei war der Nachmittag gerade erst angebrochen. Kutscher bog in die Grassistraße ein, die geradewegs zum Konzerthaus führte. Er schlenderte durch den neuen Teil der Stadt, der von den Leipzigern Musikviertel genannt wurde. Kutscher freute sich stets, wenn er hier die Namen der Straßen auf den Schildern las, denn diese waren nach berühmten Komponisten wie Haydn, Mozart oder Beethoven benannt und nicht wie anderswo nach Königen oder Feldherren.

Um diese Uhrzeit waren kaum Menschen unterwegs. Ein paar Dienstmädchen brachten Einkäufe nach Hause, ein Alter mit einem Spazierstock trottete gen Scheibenholz.

An der Ecke zur Robert-Schumann-Straße erblickte Kutscher eine Gestalt, die ihm bekannt vorkam. Er schaute noch einmal hin. Der Mann war schlank wie eine Gerte, seine Bewegungen aber zeugten von der Kraft eines Athleten. Nun erkannte Kutscher ihn. Es handelte sich um den Neuen aus dem Dichterkreis, diesen Pöttger, Pöttiger oder Pötticher. Der junge Mann verschwand in einem Haus. Wohnte er dort? Kutscher blieb stehen und überlegte. Sollte er bis zum Haus eilen und nachschauen, ob die Klingelzüge beschriftet waren? Dann würde er herausbekommen, wie der Dichter genau hieß, ohne ihn fragen zu müssen. Doch der Neue erschien schon wieder auf der Straße. In der Hand hielt er mehrere Zettel in der Größe von Bierdeckeln. Ohne sich umzuschauen, eilte er die Robert-Schumann-Straße hinunter zum nächsten Haus. Wieder trat er in einen Eingang.

Kutscher lehnte sich an eine Hauswand, sodass er beinahe mit dieser verschmolz. Es vergingen nur wenige Sekunden, dann tauchte der Neue auf, und das Spiel wiederholte sich. Er schaute sich bei seinem Tun nie um, zugleich beeilte er sich, als wäre er auf der Flucht vor einer Räuberbande. Als er zum vierten Mal aus einer Haustür trat, rutschte ihm unbemerkt ein Zettel aus der Hand.

Kutscher schlich an den Fassaden entlang und bog in die Robert-Schumann-Straße ein. Während der junge Mann den nächsten Hausflur betrat, sprintete er los. Flugs schnappte er sich den Zettel und kehrte auf dem Fuße um. Noch war der Neue nicht zurück auf der Straße, doch bis zur Ecke würde Kutscher kaum schnell genug gelangen. Also verlangsamte er seinen Schritt und schlenderte zur Grassistraße zurück, als wäre er ein Passant. Tatsächlich schien der Neue ihn nicht zu bemerken.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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231 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783955522322
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