Читать книгу: «Verlorene Fassung», страница 2

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Susanne saß regungslos am Fenster im Büro und starrte hinaus. Weit und breit war alles grau, denn in der Nacht hatte Regen eingesetzt. Die Luft hatte wie frisch gereinigt geduftet, als sie heute früh zur Arbeit gelaufen war. Sie hatte nicht gut geschlafen, denn die Sorge um Mandy und die Mädchen ließ sie nicht los. Also war sie aufgestanden und hatte sich ohne Frühstück auf den Weg ins Büro gemacht.

Sie konnten gestern nicht mehr mit der Frau reden, denn sie war beim Anblick ihres toten Mannes auf dem Tisch in der Gerichtsmedizin einfach umgefallen. Robin hatte den Rettungswagen alarmiert und Susanne hatte Mandys Freundin angerufen, damit sie sich weiter um die Mädchen kümmerte.

Sie zuckte zusammen, als die Tür aufging.

„Guten Morgen, Frau Wescham“, sagte Eric.

Susanne rollte mit ihrem Stuhl an den Schreibtisch und zeigte auf den Platz gegenüber.

„Ich bin in Eile“, fuhr Eric fort und blieb stehen. „Was sagt die Frau?“

„Keine Ahnung, ich warte auf Robin, dann wollen wir ins Krankenhaus. Mandy Tschötz ist zusammengebrochen, aber wenigstens hat sie ihren Mann identifiziert.“

„Gibt es Kinder?“

„Ja, drei Mädchen. Zwölf, fünfzehn und sechzehn. Furchtbar. Ich weiß nicht, ob ihnen schon jemand gesagt hat, dass ihr Vater tot ist.“

„Und am Tatort wurde er mit offener Hose gefunden? Deutet das nicht auf eine andere Frau hin?“

„Wir gehen davon aus.“

„Wovon gehen wir aus?“, ertönte eine Stimme von der Tür her.

Es war Robin, der mit einer Tüte vom Bäcker eintrat.

„Guten Morgen, ihr beiden. Wovon gehen wir aus?“

Susanne grüßte zurück und gab wieder, worüber sie und Eric gesprochen hatten. Der Staatsanwalt nickte und wendete sich zur Tür.

„Dann findet rasch heraus, was passiert ist. Ich bin weg.“

Er zog die Tür leise zu.

Robin sah Susanne aufmerksam an.

„Was?“, fragte die Kommissarin.

„Ihr habt euch gar nicht gestritten. Was ist los mit euch? Mal einer Meinung?“

„Du bist einfach zu früh hier, so sind wir gar nicht zum Streiten gekommen.“

„Punkt für dich!“

Robin kochte Kaffee, verteilte die Leckerbissen vom Bäcker auf drei Tellern und stellte sie auf den Tisch.

„Drei Teller?“, fragte Susanne, als sie vom Computer hochsah.

„Ferdinand kommt gleich dazu, damit wir unser Vorgehen planen können. Hast du schon etwas aus dem Krankenhaus gehört?“

„Nein, ich wollte auf dich warten. Aber ich rufe gleich mal an.“

Nachdem sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, schnaufte sie.

„Mandy Tschötz ist immer noch fertig mit den Nerven. Aber sie ist wieder zuhause, weil sie die Kinder nicht alleinlassen wollte. Sie ist auf eigene Gefahr gegangen.“

„Oh Mann, das ist ein Mist. Ob sie es den Mädchen gesagt hat?“

Die Tür öffnete sich und Ferdinand kam fröhlich pfeifend herein.

„Oh, Frühstück ist gut. Ich hatte nur zwei Kaffee bisher.“

Robin schüttelte den Kopf.

„Du musst mal ein bisschen auf dich achten. An manchen Tagen siehst du ganz grau aus. Man kann sich nicht nur von Kaffee ernähren.“

„Ich nehme ja Milch dazu, das ist Nahrung. Mal im Ernst, Robin, du hast recht, aber es macht mir einfach keinen Spaß. Ich habe keine Lust, mir allein was zu kochen. Meistens gibt es Fastfood.“

„Wir sollten am Wochenende mal zusammen kochen und essen. Susanne, bist du dabei?“

„Gerne, ich esse die meiste Zeit Kuchen, das ist auch nicht gesund.“

„Dafür siehst du aber noch gut aus“, stichelte Robin.

„So!“, rief Ferdinand. „Wir machen das irgendwann mal bei mir. Ich kaufe ein und ihr bringt was zu trinken mit. Jetzt müssen wir uns um den Fall kümmern. Also los, informiert mich.“

Susanne und Robin wechselten sich ab und erläuterten alle bekannten Einzelheiten.

Am Ende sagte Susanne: „Und wir müssen Mandy fragen, ob sie etwas von einer Affäre weiß. Das ist so fies.“

Ferdinand nickte und schob sich den letzten Bissen des Brötchens in den Mund.

„Fragt vielleicht auch diese Freundin, die auf die Kinder aufgepasst hat, was sie über die Ehe weiß. Danach könnt ihr noch in der Praxis vorbeischauen. Ich habe die Leute dort gestern informiert, dass sie heute alle im Haus sein müssen.“

Nach dem Gespräch räumte Ferdinand brav seinen Teller und die Tasse ab und verließ das Büro. Robin erledigte den Rest.

„Wir brauchen auch einen Kinderpsychologen.“

Susanne zuckte zusammen.

„Willst du mit den Mädchen über die Tat reden? Was sollen die denn wissen?“

„Vielleicht haben sie etwas gehört oder gesehen. Mit wem er verabredet war zum Beispiel.“

„Och, das finde ich furchtbar. Die drei sind in einem Alter, wo sie solch ein Verlust sehr belastet. Der Tod des Vaters reicht schon.“

„Vielleicht hast du recht“, sagte Robin, „hören wir uns erstmal an, was Mandy sagt. Danach fragen wir ihre Freundin. Sie muss eine Nachbarin sein, denn sie war gestern echt schnell da.“

Das Telefon klingelte genau in dem Moment, als sie losgehen wollten. Susanne nahm ab. Es war Herrmann.

„Das Opfer wurde mit großer Kraft gestoßen, das zeigen die Abdrücke an seinem Oberbauch. Er hat sicher nicht damit gerechnet und dadurch das Gleichgewicht verloren. Ich kann weder Mord noch fahrlässige Tötung ausschließen, aber einen Unfall ganz sicher. Die Person, die ihn gestoßen hat, war kleiner als er.“

„Also eine Frau?“

„Möglich. Es gibt aber auch kleine Männer. Was es nicht gibt, sind DNA-Spuren oder sonst irgendwas. Auch sein Geschlechtsteil hat niemand berührt, jedenfalls nicht ohne Handschuhe. Aber wer geht schon mit Handschuhen zu einem Stelldich … ähm, Date.“

Susanne bedankte sich und informierte Robin auf dem Weg zum Auto, was Herrmann festgestellt hatte. Endlich fuhren sie zu Mandy und ihrer Familie.

Die junge Frau lag auf der Couch und sah elend aus. Die Freundin, die sich bereits gestern um die Mädchen gekümmert hatte, hatte geöffnet. Sie ging voran in die Küche, wo sie gerade einen Eintopf kochte.

Die Kommissare stellten sich vor.

„Ich bin Marianna und wohne drei Häuser weiter. Sie sehen ja, Mandy geht es nicht gut. Ich mache gerade was zu essen. Mandy hat sich ein bisschen hingelegt.“

„Hat sie ihren Töchtern gesagt, was passiert ist?“

Marianna nickte und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Es ist für Kinder immer besonders schlimm. Man ist so hilflos.“

Susanne räusperte sich.

„Können wir offen reden?“, fragte sie leise.

Robin signalisierte, dass er zu Mandy ins Wohnzimmer ging und Susanne setzte sich mit Marianna an den Küchentisch. Die Freundinnen kannten sich schon sehr lange.

„Was wollen Sie wissen? Dass Fabian ein Arsch war? Dass die Ehe nicht gut lief?“

„Ja, so etwas in der Art möchte ich hören. Er ist tot, wahrscheinlich ermordet. Selbst wenn er ein Arsch war, müssen wir herausfinden, was passiert ist und den Täter oder die Täterin zur Rechenschaft ziehen.“

„Täterin? Sie verdächtigen doch nicht Mandy, das Schaf?“

„Schaf?“

„Ich habe ihr immer wieder gesagt, sie soll ihn verlassen. Der hat doch alles gefickt, was nicht bei drei auf einem Baum war. Man soll nicht schlecht über einen Toten reden, aber an diesem Mann war nicht allzu viel Gutes. Mandy hat sich oft die Augen aus dem Kopf geheult und bei mir gejammert, aber wenn ich ihr gesagt habe, sie sollte gehen, hat sie den Ehevertrag erwähnt und die Kinder ins Spiel gebracht, die doch ihren Vater brauchen. Mandy war einfach feige.“

„Das sind harte Worte. Sie könnten auch ein Motiv sein. Vielleicht hat sie ihn an dem Abend verfolgt, denn wir wissen, dass er sich mit jemandem getroffen hat. Seine Hose stand offen, wenn Sie verstehen.“

„Oh ja, ich verstehe. Seine Hose stand immer offen, auch mich hat er öfter angemacht oder mit anzüglichen Bemerkungen über meinen Hintern genervt. Mandy aber wollte immer heile Welt spielen. Ich konnte sie dann nur trösten, wenn es wieder mal schlimm war. Er hat ihr sogar mal eine gescheuert.“

„Hat sie das angezeigt?“

„Was denken Sie denn? Natürlich nicht. Sie hat ihm verziehen und ich glaube ihr auch, dass es nur einmal war.“

„Und die Kinder? Ging es ihnen gut?“

„Ja, sie waren seine Schätze, wie er immer sagte. Er hat ihnen jeden Wunsch erfüllt. Besonders der Kleinen.“

Susanne lächelte. Auch in den miesesten Typen schlummerte ein guter Kern. Er war vielleicht als Mann ein Blindgänger, aber als Vater lief es gut. Die Mutter spielte diese heile Welt nicht nur, sie lebte sie.

Susanne bedankte sich für die offenen Worte und versprach Mandy gegenüber Stillschweigen. Als sie nach Robin sehen wollte, kam der gerade aus dem Wohnzimmer. Sie verabschiedeten sich. An der Tür drehte sich Susanne nochmal um.

„Warum sind die Kinder heute nicht zuhause?“

Marianna sagte leise: „In der Schule sind sie abgelenkt. Sie wollten auch nicht zuhause bleiben. Ich kann sie gut verstehen. Der Schmerz ist betäubt, wenn man zu tun hat.“

Susanne nickte, denn sie wusste das aus eigener Erfahrung.

5

„Wann kommst du denn wieder raus aus dem Knast?“, wollte Leo wissen.

Jewgeni hatte vor sich hin gedöst und wie von Ferne das Dauergeschwätz von Leo gehört.

„Keine Ahnung, dauert noch“, sagte er. „Und du?“

Er fühlte ein Fünkchen Hoffnung auf Ruhe.

„Ich denke, nächsten Monat. Vielleicht auch schon früher. Meine Zeit ist rum. Warum bist du eigentlich im Knast?“

Jewgeni winkte ab.

„Wir wurden verraten.“

„Wer wir?“

„Mein Boss, meine Kollegen und ich.“

Leo fuhr sein Bett hoch und beugte sich interessiert zu Jewgeni hin, aber der große Glatzkopf schwieg. Er hatte plötzlich einen Ausdruck im Gesicht, der jeden anderen in die Flucht geschlagen hätte, doch bei Leo löste er eine unfassbare Neugier aus.

Jewgenis Kiefer mahlten, er hatte die riesigen Hände zu Fäusten geballt und man sah ihm an, dass das ein Thema war, was ihn sehr aufwühlte. Der Monitor zeigte einen beschleunigten Puls.

„Los, erzähl mir alles. Manchmal hilft das schon. Und wenn nicht, dann denken wir uns eine schöne Rache aus.“

Jewgeni sah in die gierigen Augen seines Bettnachbarn. Der Typ hat einen irren Blick, dachte er, der ist schon sehr schräg.

„Ich war die rechte Hand eines Immobilienmaklers. Das war ein ganz großes Ding: Wir haben alte Häuser im Rheingau für einen Appel und ein Ei gekauft, indem wir den alten Leuten, die meistens dort wohnten, erklärt haben, dass das Haus bald unbewohnbar ist. Baumängel, hohe Sanierungskosten, du verstehst schon. Das hat natürlich nicht gestimmt, aber die Leute haben lieber verkauft als zu investieren. In Eltville lief es dann mit der neuen Idee noch besser. Ludger hat den Leuten eine halbe Million blanko geboten und eine neue Wohnung dazu.“

„Wo ist das Problem?“

Jewgeni grinste bösartig.

„Wir haben so lange gebohrt, bis sie eingewilligt haben. Zwei Typen haben ins Gras gebissen. Mann, es ging doch nicht um die alten Häuser. Mit dem Grund und Boden im Rheingau kann man sich eine goldene Nase verdienen. Da sind Millionen drin.“

„Was ging schief? Schließlich bist du jetzt im Knast und nicht in einer Villa.“

„Ludger hatte mehrere Leute ganz oben, die er geschmiert hat. So hat zum Beispiel der Staatsanwalt die Hand aufgehalten und dafür wichtige Infos gegeben oder Akten verschwinden lassen. Das haben die Bullen irgendwie mitgekriegt und ein Typ hat sich bei uns eingezeckt. Gab sich als Anwalt aus, war aber letztendlich von der Staatsanwaltschaft. Dieser Scheißverräter!“

Jewgeni boxte in die Luft.

„Und dann?“

„Meine Kollegen sind im Knast, ich bin im Knast, meine Alte ist mit den Kindern abgehauen und meinen Boss haben die Bullen abgeknallt.“

„Tzzzz …“, zischte Leo.

„Du sagst es.“

„Scheiß Bullen. Du musst dich rächen. Leg alle um! Echt, dann kannst du deine innere Ruhe wiederfinden.“

Leo kreischte hysterisch.

Jewgeni sah Leo entsetzt an, der ihn anfeuerte wie bei einem Wettlauf. Der Typ war ja noch verrückter als er.

„Nein, ich habe meine Familie verloren, das reicht. Wenn die mich nochmal länger einbuchten, wäre das schlimm.“

„Hast du einen umgelegt?“

„Nein, das war Sandro. Ich habe nur ab und zu einen weichgeklopft. Und eine Frau entführt, die Tochter vom Pfarrer.“

Leo brach in wieherndes Gelächter aus. Jewgeni bekam eine Gänsehaut.

„Warum bist du im Knast?“

„Ich habe ein paar alte Omas beklaut. Dieses Mal.“

Jewgeni dachte: Was für ein Wichser. Kein Wunder, dass dieser schlaffe Kerl das Opfer Nummer eins war. Aber er würde ihm helfen, die letzten Tage hier gut zu überstehen. Die Mitgefangenen hatten großen Respekt vor ihm, denn er lachte nie und bewegte sich wie ein Schwergewichtsboxer. Er wusste, dass er unantastbar war. Einer hatte ihm Schnaps besorgt, ein anderer Schokolade.

„Die Schlampe von der Polizei wurde vor kurzem erschossen. Aber der Staatsanwalt, dieser Verräter, macht fett Karriere.“

„Dann lass ihn uns umlegen, wenn wir hier rauskommen.“

Jewgeni dachte nach. Was Leo hier so sachlich sagte, hörte sich gut an. Er schloss die Augen und sah Eike, der eigentlich Eric hieß, vor sich. Der Typ war arrogant und hielt sich für etwas Besseres. Er hatte Ludgers Mitarbeitern immer deutlich gezeigt, dass er sie für billige und dumme Handlanger hielt.

Leo plapperte weiter: „Wir beobachten den eine Weile, dann erwischen wir ihn, wenn er am wenigsten damit rechnet, und stechen ihn ab. Oder du haust ihm eine rein und schmeißt ihn in die Strömung. Den findet dann niemand mehr.“

„Ich werde nicht so schnell entlassen.“

„Vielleicht doch wegen deinem Herz.“

„Denkst du?“

„Ja, Mann, ich war mal in einem Knast, da war auch einer total krank. Den haben sie früher rausgelassen.“

„Hm.“

Leo lehnte sich zurück und plante wahrscheinlich den bevorstehenden Mord in allen Einzelheiten, als die Schwester hineinkam.

„Was ist hier los? Es stinkt nach Salami!“

Jewgeni schloss unauffällig die Augen und tat, als ob er schlief. Leo zuckte mit den Schultern.

„Ich habe bei meinem Spaziergang ein Brötchen in der Cafeteria gegessen. Das wird es sein.“

„Also wenn Herr Sabritschek hier heimlich Salami isst, kippt er schneller wieder aus den Latschen als er piep sagen kann.“

„Schwester, der Jewgeni doch nicht. Das ist ein ganz Korrekter.“

„Jaja, das sagen sie alle. Arm her!“

Sie maß bei Leo den Blutdruck und die Temperatur.

„Ich weiß ja nicht, warum Sie noch hier sind. Sie könnten ruhig wieder in ihre WG.“

„Pah!“

Die Schwester wendete sich zu Jewgeni und tippte ihn an die Schulter. er öffnete seine Augen und tat so, als wäre er aus einem Tiefschlaf aufgewacht.

Die Schwester beugte sich über ihn und schnupperte.

„Aha, da hat jemand gelogen. Herr Sabritschek, Sie müssen sich an den Ernährungsplan halten. Keine Salamibrötchen!“

„Ist doch egal!“

„Ihr Puls ist erhöht.“

„Das liegt dann wohl an Ihnen.“

„Mit Sicherheit nicht.“

Die Schwester rollte mit den Augen. Viele Häftlinge dachten, wenn sie mit ihr flirteten, würden sie Vergünstigungen bekommen. Oft war das Gegenteil der Fall, denn sie meldete jeden Versuch einer persönlichen Annäherung ihrem Vorgesetzten. Dann gab es einen Eintrag in die Akte.

„Nicht was Sie denken, Schwester. Sie nerven nur mit ihrem Gefummel.“

Wortlos kontrollierte die Schwester die Geräte und verließ das Zimmer ohne weitere Worte.

„Das hat sie verdient.“

Leo stand auf, humpelte zum Bad und kam mit zwei kleinen Flaschen zurück, die eine farblose Flüssigkeit enthielten. Eine davon reichte er Jewgeni.

„Chef, darauf trinken wir einen und auf deine Rache. Jetzt kommt eine Weile keiner.“

Der Wodka brannte in Jewgenis Kehle und platzte als Feuerball in seinem Magen. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihm aus. Der Gedanke an Eric und dessen Verrat vertrieb das Wohlgefühl allerdings rasch wieder.

„Ich glaube, du hast recht. Ich werde mich rächen. Der Typ hat mir mein ganzes Leben versaut.“

6

Susanne hatte nach dem Training bei Marcel noch am Supermarkt angehalten. Noch immer wurde sie dort wie ein Star behandelt, nachdem sie und Robin in ihrem ersten gemeinsamen Fall zwei Trickdiebe gestellt hatten. Die Angestellten nickten ihr freundlich zu, eine Kassiererin winkte. Wenn jemand neu eingestellt wurde, wusste er nach kurzer Zeit, wer sie war und was sie getan hatte.

Sie schlenderte am Käseregal entlang, warf eine Packung Schnittkäse in den Wagen und bog um die Ecke. Dort prallte sie gegen den Rücken eines Mannes. Es war Eric, der zwei Flaschen Wein in der Hand hielt.

„Oh, Entschuldigung.“

Eric schaute Susanne erst grimmig an, dann versuchte er ein Lächeln. Es überzeugte die Kommissarin nicht.

„Was ist denn los? Kann ich Ihnen helfen?“

„Nein danke.“

Susanne nickte und wollte weitergehen.

„Rot oder weiß?“, fragte Eric plötzlich.

Susanne sah ihn an.

„Ich habe weitaus weniger Ahnung von Wein als Sie. Aber ich mag am liebsten Weißwein.“

„Gut, dann nehme ich den.“

Er stellte den weißen Burgunder in den Einkaufswagen und bedankte sich.

„Sie haben Sportklamotten an.“

Es war nicht klar, ob das eine Frage oder eine Feststellung war. Susanne grinste und nickte.

„Sie sind ein guter Beobachter. Ich war beim Training.“

„Was trainieren Sie?“

„Kampfkunst.“

„Ah ja. Können Sie das denn noch nicht gut genug?“, fragte er düster.

Eben dachte Susanne noch, sie könnte sich unbefangen mit Eric unterhalten, da zerstörte er diese Illusion mit einem Satz.

„Ich lerne dort unter anderem, nicht beleidigt wegzulaufen. Warum müssen Sie immer so unhöflich zu mir sein?“

„War das unhöflich?“

Eric lachte los.

„Ich könnte genauso beleidigt sein. Warum müssen Sie immer alles falsch verstehen? Es war nicht so gemeint.“

Susanne hielt ihm die Hand hin.

„Dann entschuldigen Sie. Ich wollte nicht zickig sein.“

Eric nahm Susannes Hand. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, aber das war nicht unangenehm, im Gegenteil. Die Wärme seiner Hand fühlte sich nach Geborgenheit an, nach Sicherheit. Rasch zog sie ihre weg, denn er hatte ihre Reaktion sehr wohl wahrgenommen, weshalb sich ein Lächeln in seine Augenwinkel schlich.

Was war das? Susanne wünschte Eric einen schönen Abend und gab vor, sich beeilen zu müssen. Sie lief zur Kasse und sah dort, dass sie nur diese eine Packung Käse im Wagen hatte. Sollte sie lieber morgen einkaufen? Dann kniff sie sich in den Handrücken.

„Susanne, du bist bescheuert. Hol schnell den Rest und bleib locker.“

Wie peinlich, dachte sie, dieser Kerl hat mich schon wieder aus dem Konzept gebracht. Und so, wie er sie angesehen hatte, hatte er das auch bemerkt. Reiß dich zusammen, rief sie sich innerlich zu.

Sie konzentrierte sich wieder auf den Einkauf und sah, dass Eric auf die Kasse zusteuerte. Erleichtert schob sie nun durch die Gänge.

„Sind Sie verknallt, Frau Kommissarin?“

Susanne fuhr herum und erkannte die junge Frau, die mit der Kasse unter dem Arm nach hinten ging.

„Was? Wie? Nein, um Gottes Willen, nein!“

„Der Typ sieht aber heiß aus. Ich würde da nicht nein sagen.“

Susanne lachte.

„Nein, er sieht zwar ganz gut aus, aber der ist nichts für uns.“

„Ist er schwul?“

„Nein, das ist er nicht. Er ist Staatsanwalt, mega streng und nicht so nett, wie er aussieht.“

„Staatsanwalt? Oha, dann will ich ihn auch nicht. Schönen Abend noch!“

Die Verkäuferin winkte fröhlich und eilte davon. Susanne seufzte. Wenn diese Frau das gesehen hatte, was hatte dann Eric gedacht? Sie nahm sich vor, ganz sachlich zu bleiben, wenn er ihr wieder über den Weg lief. Sie eilte zur Kasse, bezahlte, lud alles in den Kofferraum und fuhr heim. Nach dem Abendessen legte sie sich auf die Couch, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle. Das Telefon klingelte und sie sah auf das Display.

„Lia, was für eine Freude!“

„Hallo, meine Liebe, ich wollte mich mal melden und fragen, wie es dir geht und was in Eltville los ist.“

„Ach Lia, was bin ich froh, dich zu hören. Ich bin gerade rein, war beim Training.“

„Oh, da gehst du immer noch hin?“

„Es tut mir gut und mit Marcel kann man sich super unterhalten. Er weiß immer, was ich denke und wie es mir gerade geht.“

„Wäre das kein Mann für dich?“

„Nein, erstens ist er verheiratet und zweitens will ich keinen Mann. Außerdem kommt Phillip demnächst hierher und wird mich nerven. Meine Mutter hat mir offenbart, dass er mich zurückhaben möchte.“

„Ach du je! Willst du ihn auch zurück?“

„Niemals!“

„Aber so ein bisschen Wärme wäre doch ganz nett, oder? Hast du mal jemanden kennengelernt?“

„Ich arbeite nur, ich habe keine Zeit für sowas.“

Sollte sie Lia von ihren verwirrenden Gedanken zu Eric berichten?

„Ich bin mit Robin befreundet, Ferdinand ist mein Chef. Eric mag mich nicht und ist eh immer schlecht drauf, aber …“

„Aber? Höre ich da ein kleines Glitzern in deiner Stimme?“

„Ist das so offensichtlich? Der Typ bringt mich ständig aus dem Konzept, bei ihm weiß ich nie, wie etwas gemeint ist. Verstehst du, was ich meine?“

„Ja, es ist kompliziert und du musst immerzu an ihn denken.“

Lia hatte es auf den Punkt gebracht. Susanne berichtete von ihrem Zusammentreffen im Supermarkt.

„Er lässt niemanden an sich ran, ich denke, nur Ferdinand weiß, wie er tickt. Bianca, seine Ex und meine Vorgängerin, ist immer noch präsent. Es ist schon im Job schwierig, sie auszublenden. Da kann ich das privat nicht auch noch. Es würde keinen Sinn machen und nur wehtun. Und das will ich nun wirklich nicht.“

„Dann gehst du ihm besser aus dem Weg. Habt ihr viel zu tun im Moment?“

„Wir haben einen Toten in den Weinbergen gefunden, aber wir wissen noch gar nichts, außer dass der Mann ein mieser Typ war. Er hinterlässt Frau und drei Kinder und holte sich den Spaß woanders. Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich ihn verprügeln. Aber das mache ich ja nicht mehr.“

„Du musst trotzdem den Mörder jagen und verhaften. Manchmal denkt man, dass so jemand eher einen Orden verdient hat.“

„Ja, da hast du recht. Aber jetzt haben wir die ganze Zeit über mich geredet! Wie geht es dir denn? Ich nehme dich mit in die Küche und gieße mir ein Glas Wein ein.“

Sie redeten noch eine knappe Stunde, bis sich Susannes Laune stark verbessert hatte. Lia war eine tolle Freundin, klug und warmherzig, nur zu weit weg in Italien. Aber vielleicht würde sie im Sommer Urlaub in Eltville machen. Zufrieden ging Susanne ins Bett und schlief bald ein. Der Wein hatte ihr eine angenehme Bettschwere beschert.

Kurz nach Mitternacht klingelte ihr Telefon erneut. Sie sah Phillips Nummer und drückte den Anruf weg. Was dachte sich der Kerl? Dass sie den Tag über schlief und nachts auf seine Anrufe wartete? Nein, sie musste ihm bald sagen, dass er auf gar nichts zu hoffen brauchte. Susanne dagegen hoffte, dass er das auch verstehen würde.

Jetzt konnte sie nicht mehr einschlafen, wälzte sich hin und her und verfluchte Phillip. Sie verfluchte auch Eric, der sich jetzt in ihre Gedanken schlich. Sie spürte seine Lippen und ärgerte sich im nächsten Augenblick darüber, dass sie den Kuss nicht einfach ausblenden konnte, so wie er es tat. Sie raffte ihr Kopfkissen zusammen und streckte sich.

„Raus aus meinem Kopf!“, sagte sie laut in die Dunkelheit.

Nach einer weiteren wachen halben Stunde fielen ihr endlich die Augen zu.

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