Читать книгу: «Madame empfängt», страница 3

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Die Menschen im Quartier begegneten dem Fräulein mit großem Respekt und wussten ihre Hilfe sehr zu schätzen. Dennoch hatte Sidonie häufig das Gefühl, mit ihrer Mildtätigkeit lediglich ›den berühmten Tropfen auf den heißen Stein‹ fallen zu lassen. Ein schreckliches Ereignis, das inzwischen zwei Monate zurücklag, trug dazu bei, dies noch zu verstärken: Am Morgen des 21. Juni 1836 entschloss sich Sidonie, die Gendarmerie zu verständigen, nachdem die kleine Tochter von Schneidermeister Lichtwerk mehrere Tage nicht mehr bei ihr gewesen war, und auch die Nachbarn der Lichtwerks aus der Kornblumgasse bestätigt hatten, die Familie schon tagelang nicht gesehen zu haben. Zuvor hatte das Fräulein noch die Wohnung der Schneiderfamilie aufgesucht, und als auf ihr Rufen und Klopfen keiner reagierte, war sie zur Hauptwache geeilt. Nachdem den Polizisten ebenfalls nicht geöffnet wurde, brachen diese die Wohnungstür auf und machten einen grausigen Fund: Der Schneidermeister, Joachim Christian Lichtwerk, lag mit durchgeschnittener Kehle in einer Lache getrockneten Blutes. Ebenso seine Frau Anna Christina sowie seine Töchter Anna Sophie Gertrude und Anna Christina von drei und anderthalb Jahren. Lichtwerk hielt noch ein blutiges Rasiermesser in der Hand. Er hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, aus dem hervorging, dass er seine Angehörigen und danach sich selbst mit Vorbedacht und dem Einverständnis seiner Frau getötet hatte. Mit der Ermordung der hochschwangeren Ehefrau hatte er auch die Tötung der fast ausgetragenen Leibesfrucht verursacht. Das Kind war nicht mehr zu retten. Hauptursache der Tat war seinen Angaben nach existenzielle Not. Das Geschäft des Schneidermeisters war vom Niedergang bedroht. In seinem hinterlassenen Brief beklagte Lichtwerk, dass er seit vier Monaten die Miete nicht mehr hatte aufbringen können. Kein Kunde habe seine Schneiderrechnungen bezahlt, er sei von allen Seiten geprellt worden. So hatte er einen Tuchhändler betrogen, der ihn dann angezeigt hatte. Die Verurteilung stand unmittelbar bevor, als der erst 34-jährige Lichtwerk zu seiner Verzweiflungstat schritt.

Der tote Schneidermeister wurde für seine Mordtaten und die Selbsttötung noch einmal offiziell zum Tode verurteilt und in ungeweihter Erde begraben. Die Obrigkeit war über den Fall Lichtwerk zwar betroffen, zeigte sich jedoch bar jeden Mitgefühls. Die Presse reagierte ähnlich. In dem Frankfurter Journal, dem Frankfurter Konversationsblatt und der Frankfurter Kaiserlichen Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung wurde einzig Lichtwerks Bluttat verurteilt; dass es sich dabei um einen Akt purer Verzweiflung gehandelt hatte, hingegen mit keinem Wort gewürdigt. Sidonie war darüber so aufgebracht, dass sie einen Leserbrief an die Frankfurter Zeitungen schrieb, der jedoch unveröffentlicht blieb. In den darauffolgenden Wochen war das Fräulein sehr niedergeschlagen. Sie machte sich wegen der Lichtwerks schlimme Vorwürfe und hatte mehr und mehr das Gefühl, bei ihrem Kampf gegen die Armut auf der Stelle zu treten.

Kurz nachdem die Rathausuhr die zwölfte Stunde angeschlagen hatte, klopfte es sachte an der Tür von Sidonies Arbeitszimmer und Mathilde, des Fräuleins Aufwartefrau, trat ins Zimmer.

»Ich wollt Sie nicht stören, aber ich war grad noch mal unten in der Küch gewesen, und da hab ich gesehen, dass Sie noch Licht anhaben. Ei, Fräuleinsche, Sie müssen doch morgen früh raus. Gehn Se doch bald mal schlafen. Oder soll ich Ihnen grad noch was zu essen bringen?«, erkundigte sich die alte Frau fürsorglich, die angesichts der fragilen Statur des Fräuleins immerzu um deren leibliches Wohl besorgt war.

»Nein, nein, Tante Tilla. Ich hab wirklich keinen Hunger. Ich wollt auch bald ins Bett gehen. Komm, setz dich noch ein bisschen her, dann trinken wir zusammen ein Glas Wein, und du knetest mir ein bisschen den Nacken. Der tut mir von der Schreiberei nämlich wieder weh.« Sidonie streckte sich, gähnte ausgiebig, holte ein weiteres Glas vom Wandbord und schenkte nach. Mathilde Janz war Sidonies einzige Bedienstete. Seit nunmehr 30 Jahren war sie bei dem Fräulein in Stellung, und die Frauen kamen gut miteinander aus. Zuweilen kabbelten sie sich auch, wobei es meistens ums Essen ging. Denn die füllige Mathilde, die eine ausgezeichnete Köchin war, konnte es einfach nicht mit ansehen, dass das ohnehin so zerbrechlich wirkende Fräulein einen eher mäßigen Appetit hatte. Bei solchen, aber auch bei anderen, ähnlichen Anlässen, warfen sich die Frauen gerne vor, für wie starrsinnig und uneinsichtig sie einander hielten. Das Fräulein pflegte Mathilde dann als ›unverbesserliche Rechthaberin‹ zu betiteln, während diese Sidonie einen ›alten Dickkopf‹ nannte. In solchen Momenten glichen die beiden einem alten Ehepaar. Sidonie konnte mit der einfachen Frau über alles sprechen. Tante Tilla, wie die resolute, aber gutmütige Mathilde von allen im Quartier genannt wurde, war oft die Erste, der Sidonie Passagen ihrer Werke vorlas. Sie gab viel auf Mathildes Urteil. Nach Sidonies Dafürhalten besaß die alte, ungebildete Magd eine natürliche Intelligenz und ein untrügliches Gespür für schlüssige Zusammenhänge. Tante Tilla, ähnlich wie ihre Herrschaft, sagte gerne unumwunden ihre Meinung und sparte meist auch nicht mit Kritik, was Sidonie sehr an ihr schätzte. Beide waren unverheiratet und hatten keine Familie.

»Ob Sie da morgen viel erreichen, bei dem komischen Inspektor, da hab ich so meine Zweifel«, äußerte sich Mathilde mürrisch, nachdem sich die Frauen zugeprostet hatten. »Des ist auch kein richtiger Frankfurter. Der ist, glaub ich, erst seit einem Jahr hier. Soll ein Sauschwab sein, hab ich gehört.«

»Das ist mir ganz egal, wo der herkommt. Von mir aus kann der auch ein Rheinländer oder Sachse sein – solang’s kein Offenbächer ist. Aber Spaß beiseite: Hauptsache, der versteht sein Handwerk und läuft nicht mit Scheuklappen herum wie dieser Zeitungsfritze vom Frankfurter Konversationsblatt. Es ist doch nicht zu glauben, was der für einen Mist fabriziert hat«, ereiferte sich das Fräulein. »Genau wie damals, als man die Lichtwerks tot in ihrer Wohnung gefunden hat. Und jetzt haben wir in Frankfurt wieder einen tragischen Todesfall, und die Journaille hat abermals nichts Besseres zu tun, als das Opfer durch den Dreck zu ziehen und den Kopf in den Sand zu stecken. Gott, ich könnt mich grad wieder grün ärgern! Was weiß denn schon so ein feister Zeitungsschreiber von der Not der ledigen Mütter?«

»Dem sei Frau muss bestimmt net zum Engelmacher rennen, wenn sie in anderen Umständen ist!«, entrüstete sich auch Mathilde.

»Und das ist ja noch längst nicht das Schlimmste. Aus Angst vor der Schande ersticken manche unverheirateten Frauen sogar ihre Neugeborenen. Nicht selten kommt es vor, dass ihnen ihre Mütter dabei behilflich sind, damit nur ja keiner was merkt und der Ruf der Familie nicht ruiniert wird«, setzte Sidonie hinzu. »Oft sind es die Tapfersten, die ihre Kinder austragen und allein großziehen. Vor denen kann man nur den Hut ziehen, wo es ihnen doch von allen Seiten noch viel schwerer gemacht wird, als es den armen Leuten ohnehin geht. Und dann lässt dieser Schmierfink kein gutes Haar an dem armen Ding. Na ja, wie man es in Frankfurt hinlänglich kennt: Gegen die Blasiertheit und Ignoranz der Philister ist wohl kein Kraut gewachsen. Kein Wunder, dass so gute Leute wie der Börne und der Heine Frankfurt den Rücken gekehrt haben. Ich weiß noch, wie der Heinrich immer gesagt hat: Frankfurt ist mir verhasst. Die dortige Philisterei fürchte ich mehr als die Cholera«, zitierte Sidonie grimmig.

»Was heißt hier Cholera! Von meinem Quetschekuche konnt der doch nie genug kriegen«, erwiderte Mathilde trocken. Sidonie musste lachen.

»Ach, Tante Tilla, du kannst immer nur ans Essen denken!«

Wohlig vergraben in ihr Federbett, nahm sich das Fräulein für den morgigen Tag vor, jeglicher Schwerfälligkeit des Amtsschimmels entschlossen Paroli zu bieten.

4

Als Sidonie am Freitagmorgen mit Rudi durch die Töngesgasse in Richtung Liebfrauenberg ging, goss es in Strömen. Sidonie trug einen haubenartigen, rosafarbenen Filzhut, an dessen Seiten rötliche Korkenzieherlocken hervorquollen, und ein grau gestreiftes, leicht zerknittertes Musselinkleid. Der braune Kaschmirschal, den sie sich um die Schultern gelegt hatte, war schon recht aufgeweicht und hatte bald die Konsistenz eines nassen Putzlappens angenommen. Sidonie, die nicht viel größer war als der zwölfjährige Rudi, hatte den Jungen untergehakt und versuchte mit dem zierlichen, geblümten Schirm vergeblich, die Regengüsse abzuhalten. Rudis zuvor von Tante Tilla so sorgfältig gestrählter Haarschopf war durchnässt und so zerzaust wie ehedem. Nachdem sie in die Katharinenpforte eingebogen waren, erreichten sie endlich die Hauptwache. Sidonie glättete noch einmal Rudis widerspenstiges Haar, spannte den Regenschirm zusammen und öffnete entschlossen das Portal.

»Guten Morgen, wir hätten gerne den mit dem Fall Gerlinde Dietz betrauten Inspektor gesprochen«, erklärte Sidonie dem in der Wachstube sitzenden Gendarm.

»Der Herr Oberinspektor ist noch nicht da. Der kommt meistens erst gegen neun«, antwortete der Beamte.

»Gut, dann warten wir so lange«, erwiderte das Fräulein entschieden.

Der Wachmann wies mit einer knappen Geste auf eine lange Holzbank an der Stubenseite. Das ungleiche Paar nahm Platz und wartete schweigend auf die Ankunft des Beamten. Nach gut einer Stunde traf Oberinspektor Brand ein. Als ihm der diensthabende Gendarm erklärte, er werde erwartet, und dabei auf Sidonie und den Jungen deutete, verzog Brand, der die Besucher flüchtig taxiert hatte, ungehalten das Gesicht und bedeutete ihnen, sie sollten sich noch ein wenig gedulden, er werde sie zu gegebener Zeit rufen lassen.

Die Rathausuhr auf dem Römerberg schlug gerade zur zehnten Stunde, als Brand die Wartenden endlich in sein Büro bat. Die kleine Amtsstube war voller Rauchschwaden, und auf dem Schreibtisch lagen noch die Überreste einer Brotzeit. Sidonie, die daraus schloss, dass der Inspektor gefrühstückt und geruhsam sein Pfeifchen geschmaucht hatte, hüstelte demonstrativ und warf Brand einen indignierten Blick zu, doch dieser machte keinerlei Anstalten, das Fenster zu öffnen, um zu lüften.

»Was liegt an?«, erkundigte er sich stattdessen in schroffem Tonfall.

»Wir sind gekommen, um in dem Fall Gerlinde Dietz eine Zeugenaussage zu Protokoll zu geben«, entgegnete das Fräulein förmlich.

Nachdem Brand Sidonie und Rudi noch einmal mit abschätziger Miene in Augenschein genommen hatte, bemerkte er barsch, er wolle nur darauf hinweisen, dass in dem Fall Dietz keine Belohnung ausgesetzt sei.

»Davon sind wir auch nicht ausgegangen«, beschied ihn Sidonie kühl. »Uns geht es, wie der Polizeibehörde hoffentlich auch, einzig um die Wahrheitsfindung. Der Junge kann möglicherweise eine Täterbeschreibung abgeben.«

Der Inspektor beorderte den diensthabenden Beamten mit Papier und Feder zu sich ins Büro und wies Sidonie und Rudi an, auf den beiden Holzstühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

Nachdem die Personalien aufgenommen und Rudi vom Inspektor aufgefordert worden war, seine Aussage zu machen, begann der Junge, dem die Situation offensichtlich wenig behagte, mit seinem Bericht: »Also, ein paar Tage, bevor man das tote Dienstmädchen in der Kutsche gefunden hat, hat mich auf dem Roßmarkt so ein Mann angesprochen. Der war ganz vornehm angezogen und hat einen Zylinder aufgehabt …«

»Moment, Moment. Wir brauchen das genaue Datum und die Uhrzeit. Wenn du uns das nicht zu sagen vermagst, kannst du dir das Ganze auch schenken«, unterbrach ihn Brand gereizt.

»Des muss der Montag gewesen sein, der Montag vor dem Samstag, wo des passiert ist«, murmelte Rudi unsicher.

»›Der Montag vor dem Samstag‹«, äffte Brand den Jungen nach. »Was soll denn das heißen? Damit können wir hier gar nichts anfangen. Nenne mir Ross und Reiter, oder geh wieder! Wir sind doch hier nicht in der Dummenschul!«, herrschte er Rudi an.

»Das war am Montag, den 20. August 1836, gegen zwölf Uhr mittags. Bitte mäßigen Sie Ihren Ton, sonst werde ich mich bei Ihrem Vorgesetzten, Polizeisenator Hessenberg, mit dem ich gut bekannt bin, in aller Form über Sie beschweren!«, maßregelte ihn das Fräulein scharf wie einen ungezogenen Schuljungen.

»Mit Verlaub, Fräulein Weiß, sind Sie die Zeugin, oder ist es der Junge?«

»Der Junge ist der Zeuge, wie wir es am Anfang auch angegeben haben. Aber Sie lassen ihn ja gar nicht zu Wort kommen, sondern machen ihn mit Ihrer aufbrausenden Art ganz konfus.«

»Also gut. Kleinhans, schreiben Sie bitte mit: Am Montag, den 20. August, um zwölf Uhr mittags, sprach den oben aufgeführten Zeugen, Rudolf Schickel, auf dem Platze des Roßmarktes ein Mann an. Punkt. Fahre er nun fort«, forderte Brand den Jungen auf.

»Also, der Mann hat mich gefragt, ob ich mir vielleicht ein paar Kreuzer verdienen will. Da hab ich dann ja gesagt, denn ich kann das Geld gut gebrauchen.«

»Das denk ich mir, mein lieber Schickel, das denk ich mir«, mokierte sich der Inspektor. »So, und jetzt bitte eine genaue Personenbeschreibung!«

Rudi konzentrierte sich kurz, bevor er, sichtlich um Genauigkeit bemüht, antwortete: »Der Mann war groß und schlank und hat einen schwarzen Zylinder und einen schwarzen Gehrock angehabt, mit dunkelgrauen, langen Hosen. Er hat wie ein vornehmer Herr ausgesehen und auch so gesprochen. Nur dem seine Stimm hat sich so komisch angehört. Die war ganz hell, fast wie bei einer Frau. Er hat einen dunklen Backenbart gehabt und war ziemlich blass. Seine Augen hab ich nicht richtig sehen können, denn er hatte eine Brille mit so dunklen Gläsern auf. Seine Haarfarbe auch nicht, denn der hat ja auch einen Hut aufgehabt. Der Mann war vielleicht so alt wie mein großer Bruder, der ist im Juli 20 geworden. Sonst ist mir noch aufgefallen, dass er sehr unruhig war und sich die ganze Zeit umgeguckt hat, und wie er mir dann das Geld gegeben hat, hat er ganz schön gezittert. Also, er hat gesagt, dass ich da rübergehen soll, zur Blumen-Nelly, und der sagen soll, dass er ein Dienstmädchen haben will. Die darf aber nicht älter als 20 sein, soll dunkle Haare und braune Augen haben und darf nicht ›verlebt‹ oder ›billig‹ aussehen, sondern ›frisch‹ und ›adrett‹, so hat er sich, glaub ich, ausgedrückt. Die Nelly soll mir dann sagen, ob sie so jemanden kennt, und dann mit der Mamsell ein Treffen ausmachen. Er käm dann morgen um die gleiche Zeit wieder zum Roßmarkt, und ich sollte das dann mit der Nelly ausmachen. Also bin ich am nächsten Tag wieder hin und hab ihn auch getroffen. Dann bin ich gleich zur Nelly an den Blumenstand. Die hat mir dann gesagt, sie hätt mit einer Dienstmagd, die genauso wär, wie der Herr es will, gesprochen, und die hätt am kommenden Samstag ihren freien Nachmittag, der Herr müsst nur noch eine Uhrzeit vorschlagen und sagen, wo sie hinkommen soll. Und wenn alles klappt, müsst er ihr für ihre Vermittlung 20 Kreuzer bezahlen. Der Mamsell müsst er dann noch mal 50 Kreuzer geben. Der Mann hat einen Augenblick überlegt und dann als Treffpunkt den Weingarten vom Herrn Adam auf dem Klapperfeld vorgeschlagen. Er wär um vier Uhr dort. Die Jungfer sollt sich separat an einen Tisch setzen und als Erkennungszeichen ein Veilchenbukett am Hut tragen, er würd sie dann ansprechen. Dann hat er mir das Geld für die Nelly gegeben und noch mal fünf Kreuzer für mich und ist dann verschwunden.« Rudi schaute den Inspektor abwartend an. Als dieser keine Reaktion zeigte, fügte er hinzu, er habe sich halt so seine Gedanken gemacht, wo doch das ermordete Dienstmädchen genau an diesem Samstag tot in der Kutsche aufgefunden worden sei und weil das mit der Uhrzeit ja auch hinkommen könne.

Der Inspektor fragte Rudi, ob dies alles sei, und erklärte in amtlichem Tonfall, ohne ein einziges höfliches Wort an den Zeugen und seine Begleiterin zu richten, die Befragung für beendet.

Als sich Sidonie daraufhin erkundigte, was er denn nun weiterhin in dem Fall zu tun gedenke, wurde sie vom In­spektor dahingehend beschieden, dass er die Angelegenheit prüfen werde. Das allerdings, so äußerte er süffisant, möge sie nur seine Sorge sein lassen.

5

Um elf Uhr trank Johann Konrad Friedrich genüsslich seinen ersten ›Frankfurter‹5 und zündete eine Zigarre an, um sich in Ruhe der morgendlichen Zeitungslektüre widmen zu können, was für ihn einem heiligen Ritual gleichkam. Die Herren an den übrigen Tischen im separaten Raucherzimmer des großen Kaffeehauses in der Bleiden­straße taten es ihm gleich, und so war der Raum erfüllt von dichten Rauchschwaden, denn im Gegensatz zu öffentlichen Orten war es den Gästen hier erlaubt, dem Tabakgenuss zu frönen. Einige Kaffeehausbesucher spielten Schach, andere debattierten, lasen Journale oder schrieben. In der Hauptsache waren hier Angehörige der besseren Gesellschaft vertreten. Nicht wenige der Anwesenden brachten in dem altehrwürdigen Kaffeehaus, das ein wenig versteckt hinter der Katharinenkirche lag, den ganzen Tag zu. Für Künstler, Schriftsteller und Gelehrte war es ein Ort schöpferischer Muße, der ihnen Gelegenheit zu Rückzug und Austausch bot. Das Interieur der weitläufigen Räumlichkeiten war von großer Eleganz und Behaglichkeit und erfüllte so die gehobenen Ansprüche seiner Besucher. Der Kaffee, in vielerlei Varianten angeboten, sowie das Gebäck und die Speisen waren von feinster Qualität. Zudem war das Kaffeehaus eine wahre Nachrichtenbörse. Hier erfuhr man alle Neuigkeiten aus Frankfurt und der großen, weiten Welt. Menschen der verschiedensten Nationalitäten gaben sich hier ein Stelldichein, und man vernahm neben der muttersprachlichen auch englische, französische und italienische Konversation. Das spiegelte sich auch in den Zeitungen und Zeitschriften wider, die den Gästen zur Verfügung standen. Nicht nur die gängigen Frankfurter Tageszeitungen wie das Frankfurter Intelligenzblatt, das Frankfurter Journal, die Frankfurter Kaiserliche Reichs-Ober-Post-Amts-Zeitung, das Frankfurter Konversationsblatt, die Didaskalia und das Journal de Francfort lagen hier aus, sondern auch eine reiche Auswahl der internationalen Presse war vertreten.

Für Johann Konrad Friedrich war das große Kaffeehaus in der Innenstadt seit nunmehr fünf Jahren zu einem zweiten Zuhause geworden. Der in die Jahre gekommene Lebemann, der bereits viel herumgekommen war in der Welt, arbeitete hier an seinen Memoiren.

Als Sohn einer wohlhabenden Frankfurter Kaufmannsfamilie trat er im Alter von 14 Jahren in den französischen Militärdienst ein und führte in Frankreich, Italien, Spanien und auf der griechischen Insel Korfu ein abenteuerliches Leben. Im Anschluss daran wechselte er zum Preußischen Heer, wo er den Rang eines Leutnants innehatte. Neben seiner Muttersprache sprach er fließend Französisch, Italienisch, Griechisch und Englisch. Schon immer hegte er eine große Vorliebe für die Literatur, insbesondere für Theaterstücke, und liebte es, zeitgenössische ausländische Klassiker ins Deutsche zu übersetzen, womit er sich ein Zubrot verdiente. Außerdem spielte Johann ausgezeichnet Klavier. Zu seinen auserkorenen Lieblingsstücken gehörte Mozarts ›Don Giovanni‹, gab er den Don Juan doch selbst oft genug im wahren Leben. In jungen Jahren ein wahrer Herzensbrecher, haftete ihm der Ruf des charmanten Verführers noch heute an, was ihm auch den Spitznamen ›Don Johann‹ eingetragen hatte. Schwarzlockig, mit dunklen, glutvollen Augen und eher klein gewachsen, konnte man ihn leicht für einen Italiener oder Südländer halten. Nicht wirklich schön, verfügte er doch über das gewisse Etwas, und bei seinen Verehrerinnen galt er als hervorragender Liebhaber. Im Alter von 30 Jahren nahm er Abschied vom Militär und kehrte in seine Heimatstadt Frankfurt zurück, wo er die Damenwelt im Klavierspiel unterrichtete und zahlreiche Affären mit Damen der guten Gesellschaft unterhielt. Oft war er verliebt gewesen, jedoch immer unverheiratet geblieben, und inzwischen war es um den einstigen Frauenliebling stiller geworden. ›Don Johann‹ lebte allein in der elterlichen Villa in Rödelheim und war recht einsam. Hätte er sein geliebtes Kaffeehaus nicht gehabt, wäre ihm zu Hause mitunter die Decke auf den Kopf gefallen. Seit Jahren hatte er keine Amouren mehr und sie fehlten ihm auch nicht. Nicht länger auf der Suche nach dem Abenteuer, das er so reichhaltig ausgekostet hatte, vermisste Johann auf seine alten Tage eher eine verlässliche Gefährtin.

Doch so eine fällt ja nicht einfach vom Himmel!

Während Johann sich noch konzentrierter seiner Lektüre widmete, wurde ihm plötzlich von hinten auf die Schulter getippt. Er schreckte auf und wendete den Kopf ungehalten in Richtung des Störenfrieds, wollte gar schon seinen Unmut kundtun, als er Sidonie Weiß erblickte. Nicht nur ihre äußere Erscheinung wirkte derangiert, auch ihre Stimmung schien alles andere als aufgeräumt zu sein, und so hielt Johann, der Sidonie aus Kindertagen kannte, zunächst einmal die Luft an, besann sich auf seine guten Umgangsformen und lud die Freundin und den Knirps, der neben ihr stand, freundlich ein, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Bei dem ob der unüblichen Damenpräsenz durchaus konsterniert dreinschauenden Kaffeehauskellner bestellte er einen Kaffee Mélange für das Fräulein und eine heiße Trinkschokolade für den Jungen und wartete gespannt, den missbilligenden Mienen der anderen Kaffeehausgäste gegenüber gleichgültig, was Sidonie ihm zu berichten hatte. Denn es musste schon etwas Besonderes vorgefallen sein, wenn eine Dame, selbst eine, die es mit den Konventionen nicht so genau nahm wie das Fräulein, in die Männerdomäne des Kaffeehauses eindrang. Und wie es ihre Art war, kam Sidonie auch gleich zur Sache: »Hast du morgen Nachmittag Zeit? Ich muss unbedingt ein bestimmtes Lokal aufsuchen, und da brauche ich eine Begleitung.«

Johann, der seine liebgewordenen Gewohnheiten so zu schätzen gelernt hatte, dass ihm jegliche Störungen derselben verhasst waren, fühlte sich von des Fräuleins Stippvisite zwar einigermaßen überrumpelt, es lag ihm jedoch fern, Sidonie dafür zu schelten, wie er es bei jedem anderen getan hätte. Dazu war sie ihm viel zu lieb, und er konnte ihr eigentlich auch nicht gut etwas abschlagen. Dennoch gab er sich zunächst reserviert. Man springt ja schließlich nicht gleich, wenn der andere pfeift.

»Liebe Sido, hättest du vielleicht die Güte, mir erst einmal auseinanderzusetzen, worum es überhaupt geht?«, erkundigte er sich bedächtig.

»Ganz einfach: Der taugt keinen Schuss Pulver, dieser Kriminalinspektor Brand! Also habe ich mich entschieden, im Falle des ermordeten Dienstmädchens Gerlinde Dietz eigene Ermittlungen anzustellen«, entgegnete Sidonie aufgebracht. Anschließend berichtete sie Johann von Rudis Erlebnis auf dem Roßmarkt, dass sie den Jungen zu einer Zeugenaussage in der Hauptwache gedrängt und wie der Inspektor darauf reagiert hatte.

»Na ja, diese Gerlinde Dietz ist halt nur ein kleines Dienstmädchen gewesen, und dann hat die sich auch noch für Geld mit Herren eingelassen. Wegen so einer legt sich unsere liebe Polizei doch nicht ins Zeug. Ganz abgesehen davon, dass sie das ohnehin nicht gerne tut, denn die Frankfurter Polizeibehörde besteht nun einmal zu einem Großteil aus Schlafmützen, das, meine Liebe, ist hinlänglich bekannt. Mehr als den werten Herren vom Bundestag lieb ist. Man denke dabei nur an den Wachensturm vor drei Jahren, den unsere geschätzten Ordnungshüter ja vollends verschlafen haben. Schließlich hat unser lieber Herr von Metternich, dem die laxe Haltung der hiesigen Gendarmerie aufs Äußerste missfällt, nicht umsonst seine eigene Geheimpolizei eingesetzt, damit niemand in der Stadt es wagt, seine Zensur zu durchbrechen. Und unser Polizeisenator Hessenberg macht allenthalben keinen Hehl daraus, dass er ein Demokrat ist. Kein schlechter Mann übrigens, dieser Hessenberg. Sag mal, willst du dich nicht vielleicht bei ihm über Brand beschweren?«

»Das kann ich später immer noch tun. Einstweilen würde ich vorschlagen, wir zwei gehen morgen in den Adam’schen Weingarten und stellen dort weitere Erkundigungen an. Wenn sich die Dietz da wirklich mit ihrem Mörder getroffen hat, dann haben ihn auch noch andere gesehen. Vielleicht kennt ihn ja sogar jemand oder weiß Genaueres über ihn zu sagen. Außerdem ist morgen Samstag, und da haben viele Dienstmägde ihren freien Tag. Die kennen sich doch häufig untereinander. Ich denke, da können wir vielleicht auch in anderen Lokalen, wo die immer verkehren, etwas in Erfahrung bringen!«, entgegnete das Fräulein und trug Johann auf, für den braven Rudi noch einen Kakao zu bestellen. Als der Kellner das Getränk brachte, orderte sie, mit der Bemerkung, sie genieße es, endlich einmal ein Kaffeehaus von innen zu sehen, für sich noch eine weitere Mélange.

*

Es regnete in Strömen, als Sidonie und Johann an jenem Samstagnachmittag aus der Kutsche stiegen und sich dem Weinlokal des Herrn Adam auf dem Klapperfeld näherten.

»Bei dem Sauwetter ist da bestimmt nicht viel los. Wer geht denn schon bei so einem Wetter aus dem Haus, wenn er nicht muss«, bemerkte Johann verdrießlich, als sie unter dem Regenschirm durch den verwaisten Weingarten zur Gaststube eilten. Er sollte Recht behalten, denn in dem kleinen Lokal befand sich tatsächlich nur eine Handvoll Gäste. Johann und Sidonie blickten sich ein wenig zögerlich um, bevor sie sich an einem der Tische niederließen.

»Suchen die Herrschaften vielleicht jemanden?«, erkundigte sich der Wirt, als er an den Tisch trat, um die Bestellung aufzunehmen.

»Ei, die suchen bestimmt de heiliche Geist!«, tönte von der Theke eine heisere Frauenstimme, was von den übrigen Gästen mit lautem Gelächter quittiert wurde.

»Thekla, halt gefälligst dein Schandmaul, sonst fliegst du raus!«, raunzte der Wirt in Richtung der Ruferin und entschuldigte sich verlegen bei den Neuankömmlingen.

»Nicht der Rede wert. Das stört uns nicht weiter. Ich bin auch bei Weitem nicht so moralinsauer, wie ich ausschaue«, erwiderte Sidonie mit verschmitztem Lächeln. »Aber Spaß beiseite: Sie haben recht, Herr Wirt, wir suchen tatsächlich jemanden.«

»Kann ich Ihnen da behilflich sein?«

»Das können Sie, und möglicherweise auch Ihre Gäste. Sie erinnern sich vielleicht an das Dienstmädchen, das kürzlich tot in einer Kutsche aufgefunden worden ist. Wir haben Grund zu der Annahme, dass die junge Frau sich kurz vor ihrem Tod hier in diesem Lokal mit einem Herrn getroffen hat, der möglicherweise auch ihr Mörder war. Wenn von Ihnen jemand die Jungfer Dietz kannte oder vielleicht dazu etwas sagen kann, so lassen Sie es mich doch bitte wissen«, richtete sich Sidonie höflich an alle Anwesenden.

»Wieso kümmern Sie sich denn darum? Da ist doch eigentlich die Polizei für zuständig. Oder war’n sie mit der vielleicht verwandt?«, erkundigte sich die junge Frau, die zuvor mit schwerer Zunge die vorlaute Bemerkung gemacht hatte, während sie sich erhob und leicht schwankend auf Sidonie und Johann zuging. Mit beiden Händen stützte sie sich auf den Tisch und stierte Sidonie aus glasigen Augen an.

»Ich bin in dich verschossen, in deine Sommersprossen …«, summte sie feixend, worauf sie vom Wirt rüde aufgefordert wurde, die Gäste nicht zu belästigen. Sidonie bat ihn jedoch, er möge die junge Frau ruhig gewähren lassen, und gab unbeirrt zur Antwort: »Ich kümmere mich darum, weil ich den Eindruck habe, dass sich sonst niemand darum kümmert. Und weil alle denken, das war ein schlimmes Frauenzimmer, die Gerlinde Dietz, und da gehört’s ihr nicht anders. Ich denke hingegen, es wird höchste Zeit, dass ihr Mörder endlich gefasst wird.«

»Ich bin auch ein schlimmes Frauenzimmer«, lispelte Thekla bedrohlich schwankend.

»Vor allen Dingen ein betrunkenes. Komm, setz dich, Kind, und iss einen Happen mit uns«, forderte das Fräulein Thekla auf.

»Ich will nix essen. Aber einen Branntwein tät ich noch trinken.«

»So siehst du aus. Nix da, Herr Wirt, bringen Sie bitte für das junge Fräulein eine kräftige Brühe oder was Sie sonst an Essbarem dahaben.«

»Eine Erbsensuppe hätt ich da, Fräulein Weiß.«

»Prima, bringen Sie uns doch bitte drei Portionen. Und woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich habe mehrere Bücher von Ihnen gelesen. ›Das Gespenst vom Römerberg‹, ›Der Fürst vom Rabenstein‹ und ›Der Mord im Siechenhaus‹. Die haben mir so gut gefallen, dass ich sie immer wieder lese. Im Sommer komm ich ja nicht dazu, da habe ich zu viel zu tun. Aber im Herbst und im Winter, wenn es hier ruhiger wird, nehm ich mir die wieder vor«, antwortete Herr Adam lächelnd.

»Das ehrt mich. Es gibt für mich kein schöneres Kompliment, als dass meinen Lesern gefällt, was ich schreibe«, bedankte sich Sidonie erfreut.

»Aber was Ihr Anliegen anbetrifft, Fräulein Weiß, da kann ich Ihnen, glaub ich, nicht viel weiterhelfen. Die Ermordete war mir wissentlich nicht bekannt. Wann soll denn das Treffen gewesen sein?«, fragte Herr Adam.

»Das war am Samstag, den 25. August, gegen vier Uhr nachmittags. An diesem Tag, so erinnere ich mich noch, war sehr schönes Wetter. Das ermordete Dienstmädchen hatte braune Haare und dunkle Augen. War eine junge, zierliche Person und muss sehr hübsch gewesen sein. Der Mann wurde mir nach einer zuverlässigen Zeugenaussage als groß und schlank beschrieben. Er soll vornehm gekleidet gewesen sein, trug wahrscheinlich einen Gehrock mit Zylinder. Er hatte einen dunklen Backenbart und möglicherweise eine Brille mit dunklen Gläsern auf.«

»Vor 14 Tagen also. Ja, an dem Samstag herrschte eine ganz schöne Hitze, und wir hatten hier großen Betrieb. Es wurde zum Tanz aufgespielt, und die Leute haben sich, im Gegensatz zu heute, regelrecht auf die Füße getreten. Da kann ich mich kaum an einzelne Gäste erinnern. Man ist den ganzen Tag nur am Rumrennen. So ein Paar, wie Sie es eben beschrieben haben, ist mir da nicht weiter aufgefallen. Der Mann muss ja von seiner Kleidung her ein besserer Herr gewesen sein. Von der Sorte kommen viele hierher im Sommer, wenn was los ist. Die wollen sich hier genauso amüsieren wie alle anderen und sind meistens auf ein schnelles Abenteuer aus. Tut mir leid, aber da kann ich Ihnen leider überhaupt nichts sagen.« Der Wirt schüttelte bedauernd den Kopf.

956,89 ₽
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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
413 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839234723
Издатель:
Правообладатель:
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