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Krank

Nach meinem fünften Geburtstag wechselte unsere Kindergruppe die Etagen. Wir zogen in den ersten Stock, und die Jüngeren erhielten Räume im Parterre. Nun konnten die Erzieher nicht mehr von draußen an die Fensterscheibe klopfen und uns Angst einjagen.

Ich hasste den Mittagsschlaf. Nie war ich müde – aber wehe, wir hatten die Augen noch offen, wenn die Erzieherin den Raum kontrollierte! Dann schimpfte und schüttelte sie die Kinder so, dass sie sich anschließend in den Schlaf heulten.

Eine andere Erzieherin war nicht ganz so grob, aber sie schlug die Decke über das Bettgestell, so dass wir wie in kleinen Höhlen lagen. Das hatte auch sein Gutes, denn ich brauchte meine Augen nicht zu schließen und konnte durch einen Seitenspalt den Himmel oder das Dach des Quergebäudes beobachten. Einmal schob sich durch diese Ritze eine Hand, und vor meinen Augen lag eine dreieckige Papiertüte. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Erst als ich keine Geräusche mehr vernahm, drückte ich mit den Fingerspitzen vorsichtig eine kleine Öffnung in das Papier und entdeckte braune Malzbonbons, deren süßer Duft sofort durch mein ganzes Bett strömte. Voller Glücksgefühl schlief ich tatsächlich ein. Aber als ich erwachte, war die Tüte weg. Meine Enttäuschung war so groß, dass ich nicht einmal weinte. So habe ich nie erfahren, wer sie mir gab und wieder nahm. Erst viel später hörte ich von den Kindern, dass sie Ähnliches erlebt hatten. Es musste eine Erzieherin gewesen sein, die nur wollte, dass wir schliefen.

Eine noch sehr junge Erzieherin setzte mich eines Tages auf ihre Schultern und lief mit mir durch den Gruppenraum.

Ich wurde nie einem anderen Kind gegenüber bevorzugt und fand es darum recht seltsam, dass ich für die Tollerei ausgesucht wurde, und deshalb blieb ich sehr ernst. Außerdem verursachte mir diese ungewohnte Höhe Angst. Aber die Erzieherin lachte und sprang mit mir herum, bis ich schließlich auch lachen musste. Durch das offene Fenster hörte sie plötzlich eine Kollegin ihren Namen rufen. Neugierig trat sie mit mir an das Fenster und rief nach unten: »Schau mal, das ist mein kleiner Angsthase!«

Dabei beugte sie sich weit hinaus. Vor Schreck krallte ich mich fest in ihre Haare und jammerte leise. Sie lachte und lachte, dabei verlor ich das Gleichgewicht. Ich spürte plötzlich keinen festen Halt mehr und stürzte in die Tiefe.

Mein Kopf tat mir fürchterlich weh. Als ich die Augen aufschlug, lag ich in einem fremden Bett, auch das Zimmer war mir unbekannt. Ich konnte meinen Kopf nicht bewegen und weinte. Eine Frau, ganz in Weiß, trat an mein Bett und streichelte mich beruhigend. Sie hieß Schwester Brigitta, und sie erzählte mir, dass ich aus dem Fenster gefallen sei und mich auf der Krankenstation befände. »Wenn du alles schön tust, was ich sage, wirst du schnell wieder gesund und darfst zu den anderen Kindern zurück.«

Nur immer im Bett liegen wollte ich natürlich nicht, deshalb machte ich wirklich folgsam alles, was sie sagte, und kam bald wieder zu meiner Gruppe.

Die Erzieherin habe ich nie mehr gesehen, aber ich hatte von da an Angst vor allen großen Menschen, die mich auf den Arm nehmen wollten, und machte um Delegationen und Besucher einen Bogen.

Unser Heim war das Vorzeigeheim. Menschen aus aller Welt sahen es sich an und staunten über die Sauberkeit und Ordnung. Hin und wieder erschienen dann am nächsten Tag Fotos von uns in der Zeitung, was die Erzieher sehr freute. Immer wenn Fremde kamen, standen oder saßen wir in Sonntagssachen in unserem Gruppenraum. Nette Worte über die Schönheit des Heims wurden gesprochen, und dann näherten sich die Besucher uns Kindern. Komische Fragen hatten sie dann: »Na, Kleine, wie gefällt es dir hier?« oder »Bist du traurig, dass du keine Eltern hast?«

Ich stand starr und stumm und hoffte nur, nicht angefasst zu werden. Eltern? Ich wusste gar nicht, was das war. Und gefallen? Außer dem Heim kannte ich nichts anderes, ich verstand einfach ihre Fragen nicht.

Christian

Am liebsten spielte ich mit einem Jungen, der Christian hieß. Er war etwas älter als ich, aber kleiner. Mir gefielen besonders seine großen braunen Augen. Christian war immer lustig, er hatte tolle Spielideen, mit ihm konnte ich über alles lachen. Selbst wenn ich mich beim Toben verletzte und es sehr weh tat, brachte er mich zum Lachen. Nie hatte ich eine solche Freundin.

Leider sollte ich ihn nicht lange als Freund behalten. Es war an einem Freitag, da wechselten wir die Wäsche und durften baden. Die Erzieherin hatte nicht die Zeit, jedes Kind abzutrocknen, das mussten wir selbst tun. Wir gingen mit Handtüchern in den Schlafraum. Mir kam der Einfall, Fangen zu spielen. Im Zimmer standen die Metallbetten hintereinander. Es machte ungeheuren Spaß, von einem Bett auf das andere zu springen. Christian war mit dem Fangen dran. Wir sprangen wie die Verrückten, durch die Sprungfedern wurden wir hochgeschleudert und landeten mit Leichtigkeit auf dem nächsten Bett. Plötzlich hörte ich hinter mir einen Schrei, ich drehte mich herum, Christian lag blutend auf dem Boden. Tröstend versuchte ich, ihm hochzuhelfen, aber es ging nicht. Er war mit den nassen Füßen abgerutscht und mit dem Hinterkopf auf die Bettkante geschlagen. Wahnsinnige Angst um ihn überkam mich. Ich schrie wie am Spieß. Die Erzieherin stürzte herein, hob Christian hoch und brachte ihn weg.

Ich verkroch mich unter meiner Decke und weinte die ganze Nacht. Immerzu sah ich ihn im Blut liegen und hörte seinen Schrei. Alleingelassen mit meiner Traurigkeit und den Schuldgefühlen, ging ich den Kindern aus dem Weg. Oft saß ich auf meinem Bett und dachte an Christian, er fehlte mir sehr. Jeden Tag fragte ich die Erzieherin, wann er wiederkäme. Es hieß immer: »Bald.«

Aber er kam nicht mehr wieder.

Einschulung

Mit sechs Jahren kam ich zur Einschulung in das Haus Nummer 1. Alle Schulkinder mussten ihre Pionier-* oder FDJ**-Kleidung tragen. Vor der Schule fand ein Fahnenappell statt, die Großen sangen Lieder, dann überreichten sie uns kleine Blumensträuße und die langersehnte Schultüte.

Zu den Luftballons mit den Friedensgrußzetteln an der Schnur sah kaum einer hin, wir wollten alle nur wissen, was in der langen Tüte war. Enttäuscht stellte ich fest, dass die Kekse, Bonbons und Buntstifte angesichts der mit reichlich Klopapier ausgefüllten Spitze recht mickrig waren. Kinder, die Verwandte hatten, bekamen von ihnen dazu noch viele schöne Dinge.

Traurig darüber, dass mich niemand besuchte, ging ich zu den Mädchen, die auch als Waisen galten, und wir spielten mit den Schultüten Burgfrauen. Da holten uns plötzlich drei Schüler aus einer Gruppe der Größeren in ihren Tagesraum, wo für uns ein festlich gedeckter Tisch stand. Sie wollten uns eine Freude machen und sagten: »Pioniere helfen sich immer.«

Nun konnte ich es kaum erwarten, bis ich Pionier wurde und das blaue Halstuch tragen durfte. Fast jeden Tag rannte ich zum Pionierleiter, wir nannten ihn Suppi, weil er so dünn war, und fragte ihn: »Wann werde ich Pionier?«

Eines Tages war es endlich so weit, feierlich wurde ich im Speisesaal vor allen Schülern in die Pionierorganisation »Ernst Thälmann« aufgenommen. Nach der Aufforderung »Seid bereit!« und meiner Antwort »Immer bereit!« war ich Pionier. Jeden Tag trug ich nun das blaue Tuch. Bald hatte ich mich so daran gewöhnt, dass mir der Sinn und die Symbolik verlorengingen und es seinen Zweck als Knabber- oder Taschentuch erfüllte. Einen schlechten Dienst erwies es mir bei meinem ersten Abenteuer im Westen.

Ausflug nach »drüben«

Ute, eins der größeren Mädchen, hatte einen Bruder in West-Berlin. Sie fuhr oft zu ihm hinüber, um sich Mickymaus-Hefte oder Liebesromane zu holen. Diese Hefte waren im Heim als Schundliteratur strengstens verboten. Mir gefielen die Mickymaus-Hefte so gut, dass ich sie mir von ihr ausborgte. Im Wald sah ich sie mir dann heimlich an.

An einem Nachmittag fragte mich Ute, ob ich mal mit nach drüben fahren möchte. Von einer ungeheuren Neugier getrieben, sagte ich sofort zu. Wir kletterten über den Heimzaun und liefen durch den Wald, dann durch eine Laubenkolonie, und am Teltowkanal mussten wir nur noch über eine Brücke gehen. Unentdeckt von der Polizei, schafften wir es.

Ich sah Schaufenster, gefüllt bis zum Rand, wie ich sie aus Ost-Berlin nicht kannte. Bei uns gab es die Butter auf Marken. Manchmal schickte mich die Erzieherin aus Zeitmangel in den Konsum. Dort gab ich die Marken ab und erhielt die zugeteilte Butter. Hier in West-Berlin lag sie einfach im Regal. Aber am tollsten fand ich die Kaugummiautomaten an den Hauswänden. Vor Begeisterung kam ich aus dem Staunen über so viele schöne Dinge nicht mehr heraus.

Utes Bruder schenkte uns Geld für Kuchen, den wir uns selbst aussuchen durften.

Im Bäckerladen bewunderte ich gerade die vielen Sorten von Torten und Broten, da fragte mich die Verkäuferin: »Was möchtest du?«

Stolz zeigte ich auf einen riesigen Liebesknochen.

Als sie mein blaues Pioniertuch sah, fragte sie: »Bist du Pionier?«

Aus Angst, sie würde mir keinen Kuchen geben, wenn ich »Nein« sagte, antwortete ich schnell: »Natürlich!«

Da fing sie laut an zu lachen und sagte verächtlich: »Pioniere bekommen bei mir keinen Kuchen!«

Wütend und traurig zugleich verließ ich den Laden und dachte: Scheiß Olle, sitzt mit dem Arsch in der Sahne und rückt nichts raus!

Nie wieder habe ich freiwillig das Halstuch getragen, sondern nur zu den Pflichtveranstaltungen im Heim.

Pflegeeltern

Die ersten Pflegeeltern für das Wochenende bekam ich, als ich noch nicht zur Schule ging. Dort fühlte ich mich nicht wohl. Ich schlief in einem Raum, der vollgestopft war mit alten, dunklen Möbeln. Ein Schrank mit einem großen Spiegel in der Mitte war die einzige Abwechslung für mich. Stundenlang stand ich davor und machte Faxen. Ab und zu öffnete sich die Zimmertür, dann schauten fremde Menschen herein, denen ich als armes Heimkind vorgestellt wurde und brav guten Tag sagen sollte, was ich nicht tat. Überhaupt sprach ich nie bei fremden Leuten. Ohne die vielen Kinder fühlte ich mich einsam. Mein Verhalten entsprach nicht den Vorstellungen der Eltern, und sie ließen mich wieder im Heim.

Mit sechs Jahren bekam ich die zweiten Pflegeeltern. An einem Sonnabendnachmittag hatte ich mich mit einem Mädchen gezankt, und die Erzieherin gab mir nicht recht. Vor Wut heulte ich, mir lief die Nase, und ich wollte am liebsten keinen Menschen mehr sehen. Schon bei Christians Unfall hatte ich begriffen, dass es im Heim besser war, keine Gefühle zu zeigen. Nie war man allein, immer stand man unter Beobachtung. Oft verwechselten die Erzieher unsere Gefühlsausbrüche mit Ungehorsam, Frechheit oder Wut.

Da kam der Hausleiter und sagte zu mir: »Putz dir die Nase, trockne deine Tränen, sei jetzt schön lieb und komm mit in mein Büro, deine Eltern sind da.«

Vor Schreck vergaß ich das Heulen, aber dann fiel mir ein, dass ich ja keine Eltern hatte. Ich ließ meine Tränen und die Nase weiterlaufen, rutschte trotzig mit dem Rücken an der Flurwand hinunter, setzte mich auf den Boden und sagte: »Nee, jarnich!«

So wie ich war, zog er mich an meiner Hand wieder hoch und ging mit mir zum Büro.

An einem runden Tisch saßen ein Mann und eine Frau. Sofort spürte ich, dass es nicht meine richtigen Eltern waren, und zeigte ihnen gegenüber kein Interesse. Mit gesenktem Kopf, den Blick auf meine alten Hausschuhe gerichtet, als ob diese alles mir geschehene Unrecht wiedergutmachen könnten, sahen mich die neuen Pflegeeltern zum ersten Mal. Es wurde über mich verhandelt und beschlossen, dass sie mich am Wochenende abholen sollten. Mich fragte keiner!

Die Kinder meiner Gruppe erkundigten sich aufgeregt, wie die neuen Pflegeeltern aussahen. Ich wusste es nicht, es war mir auch egal.

Abgeholt wurde ich dann von der Nichte meiner Pflegeeltern. Ängstlich klammerte ich mich an die Hand des Mädchens. Außerhalb des Heimes, in der großen Stadt, fühlte ich mich fremd. Hoffentlich lässt sie mich nicht los, dachte ich, allein würde ich nie mehr ins Heim zurückfinden.

Mit der S-Bahn fuhren wir nach Lichtenberg. Wir liefen durch ein paar Straßen und standen dann vor einer Tür mit dem Namen »Hube«. Auf unser Klingeln öffnete Frau Hube die Tür.

»Herein in die gute Stube«, sagte sie, die nun meine neue Mutter werden sollte. Erst als wir im Zimmer standen, sah ich sie mir an. Sie machte einen strengen Eindruck auf mich. Das fade, dunkelblonde Haar trug sie ganz kurz, in leichter Dauerwelle, was ihren strengen Gesichtsausdruck noch mehr unterstrich. Ihre blassblauen Augen blickten ohne Liebe auf mich herab. Dazu kam ihr schmaler Mund, der verkniffen lächeln wollte. So hatte ich mir eine Mutter nicht vorgestellt. Ich ließ mir meine Abneigung nicht anmerken. Das Mädchen sagte »tschüs« und ging. Nun war ich allein, am liebsten hätte ich geweint und gerufen: Bringt mich nach Hause!

»So«, sagte dann die Mutter, »nun kommt gleich der Vati.«

Gespannt sah ich zur Tür, wie denn nun der »Vati« aussah. Ich wünschte, er möge netter als seine Frau aussehen. Da kam er herein, groß, mit halber Glatze. Noch nie hatte ich einen Mann ohne Haare gesehen, und fasziniert starrte ich auf seinen Kopf. Frau Hube forderte mich auf, ihrem Mann die Hand zu geben und zu sagen: »Guten Tag, Vati!«

Ich ging zu ihm, gab ihm die Hand, sagte brav: »Guten Tag«, konnte aber das Wort »Vati« nicht herausbringen. Im Raum war es sehr still, alle warteten auf das eine Wort, selbst ich wartete. Aus meinem Mund kam jedoch kein Laut.

Da lachte der Mann und sagte: »Ach, weißt du, wenn du nicht Vati sagen willst, musst du nicht Vati sagen, sondern sagst einfach Onkel.«

Meine angespannte Starrheit löste sich, und ich fand diesen Onkel viel netter als seine Frau Tantemutter.

Jedes Wochenende holten sie mich ab, aber eingewöhnen konnte ich mich nie. Mir fehlten die Kinder und das Heim mit seiner Umgebung. Bei den Eltern war ich immer allein. Entweder saß ich am Ofen und spielte mit kleinen Puppen, oder ich musste ihnen meine Lesekünste vorführen. Dazu ließen sie sich regelmäßig die Kinderzeitung »Frösi« ins Haus schicken.

Da ich nicht gut lesen konnte und es auch nicht wollte, hasste ich bald diese bunte Zeitschrift und die Wochenenden. Wenn der Freitag nahte, lag ich nachts wach und dachte: Hoffentlich haben sie dich vergessen und kommen nicht. Aber das traf nie zu. Pünktlich um 10 Uhr holten sie mich ab.

Nur im Sommer war es bei ihnen schöner, da paddelten wir mit den Faltbooten über die Krampe oder den Müggelsee. Die Verwandten meiner Pflegeeltern – Schwester, Mann und Kinder – fuhren auch mit. Sie hatten alle das gleiche Bootshaus, und dort sah ich dann oft meinen Bruder, was mich glücklicher machte, als wenn ich nur mit Erwachsenen zusammen war.

Mein Bruder

Meinen Bruder lernte ich erst kennen, als ich schon sieben Jahre alt war.

Mit Hilfe der Erzieher bauten die älteren Kinder ein Wasserbecken. Beim Bau des Beckens standen wir Kleinen in einer Reihe und reichten Steine weiter. Wir nannten es nur Planschbecken, zum Schwimmen war es zu flach, doch zum Baden reichte es. Es hatte die Form eines abgerundeten Dreiecks. Der Wassereinlauf befand sich in der Mitte des Beckens, an der tiefsten Stelle. Vom Schutzgeländer des Wassereinlaufs machten die Jungen Hechtsprünge. Wir Mädchen hatten keine Chance, auf das Geländer zu kommen, weil wir von den Jungs gestukt*** wurden.

Auf diesem Geländer sah ich zum ersten Mal meinen Bruder. Mit einer Freundin lag ich auf der Decke, und wir beobachteten neidisch die Jungen.

Plötzlich sagte ein Mädchen aus einer anderen Gruppe zu mir: »Der gerade da oben steht, ist dein Bruder.«

»Was«, rief ich erstaunt, »mein Bruder?«

Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nichts von einem Bruder. In mir erwachte die Erinnerung an eine Kinderschwester, die mich oft auf ihren Schoß nahm und mir von einer Schwester erzählte, die ich noch habe. Später dachte ich, ich hätte alles nur geträumt.

Den Jungen schaute ich mir genauer an, er machte einen tollen Hechtsprung. Angeber, dachte ich.

Neugierig hielt ich es nicht länger auf der Decke aus und lief zu ihm ins Wasser.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

Er sah mich verdutzt an und sagte: »Warum willst du das wissen?«

»Weil ich vielleicht deine Schwester bin«, antwortete ich.

»Ich heiße Dieter B.«, rief er aufgeregt.

»Und ich Ursula B.«

Wir hatten tatsächlich denselben Nachnamen. Nun fragte er: »Wie lange bist du schon im Heim?«

»Schon immer«, sagte ich.

Wir gingen zur Decke, unterwegs erzählte er mir, dass er in vielen verschiedenen Heimen gewesen war, bis man in seiner Akte entdeckte, dass er noch eine Schwester in Berlin hatte. So brachten sie ihn hierher, in mein Heim.

Endlich war ich nicht mehr ganz allein. Obwohl mein Bruder in einer anderen Gruppe wohnte, fühlte ich mich den anderen Kindern gegenüber sicherer. Die Geschwister im Heim hielten zusammen, nun gehörte ich dazu.

Dieter bekam die Schwester meiner Pflegemutter als Mutter. Zu ihrer Familie gehörten das große Mädchen, das mich damals aus dem Heim abgeholt hatte, ein Sohn und der Mann. Nun waren wir Geschwister endlich wieder zusammen, doch durch unsere Pflegeeltern erneut getrennt.

Obwohl die beiden Elternpaare miteinander verwandt waren, sah ich meinen Bruder an den Wochenenden selten. Darüber war ich sehr unglücklich, manches Mal hasste ich unsere Pflegeeltern und meinen Bruder dafür, denn er fühlte sich bei ihnen wohl.

Wiedersehen mit Christian

Nach meinem achten Geburtstag erlebte ich durch die Fürsorge einer Erzieherin eine besondere Freude. Während der Mittagsruhe kam sie in den Schlafraum und sagte zu mir: »Komm, steh leise auf, es ist Besuch für dich da!«

Wer soll mich schon besuchen, fragte ich mich. Plötzlich schob sich Christian durch die Tür. Drei Jahre waren seit seinem Unfall vergangen, und trotzdem erkannte ich ihn sofort wieder. Vor Freude fiel ich ihm um den Hals und heulte los. Er stand ganz ruhig da und lächelte nur. Als ich von ihm ließ, merkte ich, wie sehr er sich verändert hatte. Er war gewachsen, etwas blass – aber was war mit seinen Augen? Sie sahen immer nach oben.

Weshalb sieht er mich nicht an, dachte ich und fragte ihn: »Christian, was ist mit deinen Augen?«

Er drehte sich zu mir, fast flüsternd hörte ich seine Worte: »Ich bin blind, ich kann nie mehr sehen.«

Entsetzen packte mich, das konnte nicht wahr sein, vielleicht machte er nur wieder einen seiner Späße. »Christian, wie viele Finger zeige ich dir?«, fragte ich verzweifelt.

Er sagte eine falsche Zahl. Nun probierte ich es noch einmal und noch einmal, ich wollte es nicht glauben.

Große Traurigkeit breitete sich in meinem Innern aus, ich fühlte mich immer noch schuldig. Da ergriff ich seine Hand und führte ihn die Treppe hinunter zum Spielplatz, auf dem wir so viel erlebt hatten. Kinder, die uns begegneten, grüßten freundlich, keines lästerte. Wenn wir sonst mit Jungen spielten, hieß es gleich: »Ei, ei, ei, was seh ich da, ein verliebtes Ehepaar!«

Im Wald redeten wir über unsere früheren Erlebnisse, dann schaukelten wir, und ich fühlte mich so glücklich wie an dem Tag, als ich meinen Geburtstag erfuhr und Christian noch bei mir war.

Dann spielte ich blind, mit geschlossenen Augen wollte ich Christian suchen. Dabei wurde mir erst richtig klar, wie schlimm es für ihn sein musste, nie mehr sehen zu können, wo er doch wusste, wie alles aussah.

Am Abend fuhr er in sein Heim zurück. Der Abschied fiel uns beiden schwer, wir weinten. Einige Kinder, die um uns herumstanden, kicherten verlegen. Ich drückte ihn an mich, und er versprach mir, mich öfter zu besuchen.

Leider hatten die Erzieher keine Zeit für unsere Probleme. Ich habe Christian nie mehr gesehen.

Ämterplan

Wieder einmal kam eine neue Erzieherin. Wenn sie Dienst hatte, durften wir nach der Schule draußen spielen. Das machte sie sofort beliebt.

Unser Tagesablauf war sonst sehr streng geregelt. Geweckt wurden wir um 6.15 Uhr. Egal, was für ein Wetter war, wir mussten unseren Körper durch Frühsport abhärten.

Nach dem Frühstück (es gab immer das gleiche: Suppe und Marmeladestullen) beeilten wir uns mit den Ämtern. Dafür stellten die Erzieher jede Woche einen Ämterplan auf. Zimmerdienst bedeutete: fegen, den Fußboden wachsen und anschließend mit dem schweren Bohnerbesen auf Hochglanz polieren, für Ordnung in den Schränken und im Zimmer sorgen. Es musste auch darauf geachtet werden, dass die Betten in vorgeschriebener Weise gebaut wurden. Den Zimmerdienst machte keiner gerne, ständig gab es deswegen mit irgendeinem Mädchen Streit.

Verhasst war mir der Waschraumdienst, bei dem man alle Waschbecken mit Ata scheuern musste. Von dem Gekratze und Gequietsche bekam ich immer eine Gänsehaut. Noch mehr ekelten mich die dreckigen Klos, die dazugehörten.

Den Mülldienst machte ich gern. Dabei brauchte man nur die Ecke mit den Besen in Ordnung zu halten und den Mülleimer wegzubringen. Mit ein wenig Glück fand ich hin und wieder etwas Brauchbares darin.

Die langen Flure zu bohnern machte keinen Spaß, ging aber am schnellsten.

Hatten wir unsere Dienste erledigt, rannten wir zur Schule. Am Eingang standen die Pioniere oder FDJler vom Dienst und kontrollierten die Mappen. Spielzeug und nicht zur Schule gehörende Bücher wurden uns weggenommen, wir erhielten sie zur Zeugnisausgabe zurück, das konnte ein halbes Jahr dauern. Schlimmer war es, wenn sich »Schundliteratur« aus dem Westen in der Mappe befand. Die Lehrer notierten sich dann den Namen, und nach der Schule fand mit dem Erzieher ein Verhör über die Herkunft statt. Hatte sie der Schüler von einem anderen Schüler, wurde dieser dazugeholt. Dieses Spiel dauerte so lange, bis die Pädagogen endgültig wussten, wie die Hefte ins Heim gelangt waren. Sie konnten nur von Kindern mitgebracht worden sein, die am Wochenende zu ihren Eltern fuhren. Kam dann heraus, wer die Hefte mitgebracht hatte, durfte der »Schuldige« bis zur nächsten Elternversammlung am Wochenende nicht nach Hause. Die Strafe war für die Kinder besonders hart.

Hielt ein Schüler dicht, schlossen ihn die Erzieher von besonderen Anlässen aus. Noch härter war die Kollektivstrafe, dann galt das Verbot, zum Beispiel »Kino«, für die gesamte Gruppe, bis der Schüler seine »Schuld« gestand. Nicht selten rasteten einige Mädchen darüber dermaßen aus, dass sie auf die Betreffende so lange einschlugen und sie anspuckten, bis sie alles gestand. Einmal kam ich dazu. Fünf Mädchen hielten Conny mit Gewalt fest, sie lag auf dem Boden und konnte sich nicht wehren. Zwei weitere Mädchen rissen ihr den Mund auf und spuckten mehrmals hinein.

»Ihr Schweine!«, schrie ich.

Augenblicklich ließen sie Conny los und drohten mir: »Halt’s Maul, sonst bist du dran!«

Ich rannte davon und heulte. Allein kam man gegen so viele nicht an.

Nach der Schule aßen wir zu Mittag, hielten Mittagsruhe und erledigten unter Aufsicht der Erzieher unsere Schulaufgaben. Danach war Freizeit. Entweder gingen wir zur Arbeitsgemeinschaft, oder wir spielten draußen. Vor dem Abendbrot erledigten wir schnell noch einmal die Ämter, und danach war Nachtruhe.

399
573,60 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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240 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783955521943
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