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Читать книгу: «Die Schneckeninsel», страница 4

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2. Tag — Montagnacht

Danach löschte er die Lichter und ging durch die schmale Glastür hinaus in den Garten. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Dunkel lag der See vor seinen Füßen. Weiter unten gab es eine Bank. Ljuli saß darauf. Sie winkte ihm und er setzte sich neben sie.

Du rauchst, Ljuli!

Ja, leider. Ich habe angefangen, als Mann tot war.

Das tut mir leid.

Danke, Tanner. Lange her. Wie anderes Leben. Im Krieg. Deswegen auch keine Kinder.

Tanner nickte.

Sie schwiegen und betrachteten den dunkel schimmernden See.

Nach einer Weile brach Tanner das Schweigen.

Was ist der Direktor de Klerk für ein Mensch? Ist er nett?

Ja, er ist sehr nett. Aber sehr von Mutter, äh …

Abhängig?

Sie lächelte, fast entschuldigend.

Ja. Sehr abhängig. Aber sehr nett.

Auf was für einem Kongress ist er eigentlich in Schweden? Weiß man das im Haus?

Ja, sicher. Das wissen alle.

Und?

Es treffen sich dort alle Schnecken, hm …

Schnecken? Meinst du Schneckenexperten oder so was?

Ja, dort ist Treffen alle Schneckenexperten aus Welt.

De Klerk ist Schneckenexperte?

Tanner schüttelte ungläubig den Kopf.

Schnecken! Ist das zu glauben! Er ist doch Internatsleiter?

Ljuli lächelte auch und flüsterte ihm ins Ohr.

Madame leitet Internat. Er ist nur, äh … wie sagt man: Schild?

Aushängeschild. Du meinst, er ist das Aushängeschild. Gut. Ich verstehe.

Ljuli erhob sich.

Ich muss jetzt ins Bett. Morgen sehr früh aufstehen. Schlaf gut, Tanner.

Schlaf gut, Ljuli.

Tanner blieb noch eine Weile sitzen. Er hatte das Gefühl, dass der Himmel sich immer mehr verdunkelte.

Wo blieb denn der Mond heute?

Er schloss die Augen. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch.

Tanner erschrak und drehte sich um.

Auf den Mond warten Sie heute vergebens.

Es war Madame, die sich ihm lautlos genähert hatte.

Heute wird er nicht zu sehen sein. Es braut sich eine dicke Wetterfront auf. Morgen wird es regnen. Sehen Sie. Schön, dass Sie auf mich gewartet haben. Kommen Sie mit, wir gehen zum alten Fischerhaus.

Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie voran.

Auf sie gewartet? Er wusste nichts davon, aber vielleicht hatte sie ja trotzdem recht.

Er folgte ihr. Er hatte das Gefühl, dass das Geheimnis, das er zu lösen hatte, ohne sie nicht zu lösen war.

Unten am Ufer war eine dreiseitig geschlossene Hütte. Die beiden vorderen Stützen standen im Wasser. Zum Wasser hin war die Hütte offen. Es gab eine breite Bank und einen Tisch.

Madame hatte einen Mantel an, den sie vorne mit einer Hand lose zusammenhielt. Sie setzte sich auf die Bank.

Setzen Sie sich neben mich. Wenn es Ihnen möglich wäre, mich zu halten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.

Madame roch nach Lavendel und schien federleicht.

Die Küchenmannschaft ist begeistert von ihnen. Und das Essen ist auch gut.

Es war kein Lob. Es war nur eine trockene Feststellung.

Sie lehnte sich noch mehr an ihn. Er spürte die Rundung ihrer Brust. Die Zartheit ihrer Haut war erstaunlich.

Heute ist mir nicht ums Sprechen. Ich möchte einfach nur schweigen und meine Augen schließen.

Auch gut. Tanner war froh. Er hätte sie zwar gerne gefragt, was es mit dieser kleinen Insel auf sich hatte, die da draußen lag und die ihn an Böcklins Toteninsel erinnerte, wenn auch eine liebliche Variante davon, ohne schroffe Felsen und Gebäudeteile wie auf dem Gemälde. Heute Nachmittag hat er sie von seinem Zimmer aus bewundert. Die untergehende Sonne hatte die schon farbig werdenden Blätter der Bäume durchleuchtet, und die Insel sah aus, als ob sie Teil eines surrealen Werkes von Max Ernst wäre. Geheimnis, Ewigkeit und Schönheit.

Nach einer Weile musste Madame gähnen. Sie streckte und rekelte sich ausgiebig, wie die Katzen es gerne tun, und lehnte sich erneut an ihn.

Tanner fühlte sich zunehmend matt und wehrlos. Er hatte immer mehr das Gefühl, als ob er allmählich aus sich heraustreten würde und sich von außen beobachten könnte. Wie ein Wissenschaftler, der eine ihm unverständliche Spezies unter Laborbedingungen Experimenten unterzog. Nur dass die Spezies, die er beobachtete, er selbst war. Und dass sich das Wesen selbständig gemacht hatte, das doch eigentlich er war, aber ihm nicht mehr gehorchte, sondern einem anderen Willen, dessen Identität er nicht lokalisieren konnte. War das seine zweite Natur? Oder war sie das, die ihm ihren Willen durch geheimnisvolle Ströme aufzwang? Durch seine neue Rolle, seine neue Identität, die er spielte, war es ihm, als ob er sich langsam in zwei Wesen aufspaltete.

Ihn schauderte. Trotzdem war er neugierig, wie es weiter gehen würde.

Ist Ihnen kalt?

Nein. Es ist alles gut.

Lange saßen sie so und mit der Zeit verwoben sich ihre Atemzüge zu einem. Er spürte die Wärme ihres Körpers. Sie war wirklich ein Rätsel. Er hörte wieder die Stimme von dem Mädchen mit den Stirnfransen. Wissen Sie, warum Madame so schön ist? Sie schmiert sich mit Schleim ein.

Was für Schleim? Und doch, warum war ihr Körper dann so jung? Das war ganz und gar unnormal, falls sie wirklich schon so alt war, wie behauptet wurde. Das konnte alles gar nicht sein.

Madame regte sich und erlöste Tanner von weiteren Grübeleien.

So! Wir stehen jetzt auf. Begleiten Sie mich bitte nach oben.

Tanners Kopf war glühend heiß. Er bemerkte es erst jetzt. Zum Glück hatte sie nichts davon gemerkt. Er stand auf und bot ihr den Arm an.

Sie raffte den Mantel zusammen und sie stiegen langsam, geradezu majestätisch den Garten hinauf. In ihrem dunklen Zimmer angekommen, verlangte sie wie gestern eine Zigarette. Er zündete sie an und reichte sie ihr. Sie rauchte schweigend. Er wartete wortlos. Sie gab sie ihm. Er drückte die Zigarette aus.

Reichen Sie mir jetzt dieses längliche … Sie wissen schon.

Er reichte es ihr stumm und verließ das Zimmer.

Er ging in sein winziges Zimmer, zog sich aus und warf einen letzten prüfenden Blick aus dem Fenster. Der Himmel war tiefschwarz, als hätte es noch nie Sterne oder einen Mond gegeben. Dort, wo sonst Wasser lag, befand sich nun ein gutgemachtes Nichts. Auch die Insel existierte nicht mehr.

Tanner legte sich ins Bett und fiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

3. Tag — Dienstagmorgen

Die Nacht hatte die Welt am türkisfarbenen See von Grund auf verändert. Der Regen prasselte eine große, rhythmische Symphonie auf das Dach des Weißen Schlosses. Riesige dunkelgraue Wolken hingen bauchig wie eine Herde gestrandeter Walfische über dem See. Sie sahen nicht so aus, als ob sie daran dachten, jemals wieder zu verschwinden. Die kleine In­sel war zwar wieder aus der Dunkelheit aufgetaucht, aber auf ihrer nächtlichen Reise jedweder Farbe beraubt worden. Dafür waren die Berge, die sonst so mächtig um den See herumstanden, spurlos verschwunden, wie wegradiert.

Tanner war seit fünf Uhr in der Küche zugange. Er hatte bereits den großen Kochherd und all die kleineren Maschinen einer gründlichen Reinigung unterzogen, als die Frühstücksmannschaft auftauchte. Er frühstückte mit ihnen und half bei den Vorbereitungen für die Speisesäle, obwohl es nicht zu seinen Aufgaben gehörte. So konnten Annerös und Lydia früher Schluss machen und versprachen, dafür eher zu kommen, um Tanner bei der arabischen Vorspeise- und Falafeltafel zu un­ter­stützen, die sehr viel Handarbeit erforderte.

Nach dem Frühstück leerte sich das Haus. Die Mädchen machten mit einem Teil der Lehrerschaft einen Ausflug in die Landeshauptstadt. Ljuli kam nun auch in die Küche und half Tanner. Bis gegen Mittag war die Küche blitzblank und von Grund auf gereinigt. Tanner bedankte sich bei Ljuli und machte sich an die Vorbereitung eines kleinen Mittagessens für die wenigen Zurückgebliebenen. Madame nahm am Mittag nie etwas zu sich. Das hatte Tanner schon gestern erfahren. Kurz darauf rief er zum Mittagessen. Sie waren nur zu dritt. Teresa kam etwas verspätet, sie war ziemlich aufgelöst.

Entschuldigt die Verspätung. Ich war bei der Polizei. Walter Valser ist nämlich, äh … verschwunden.

Ljuli reagierte sehr verstört.

Wie verschwunden? Was ist passiert? Ist ihm etwas passiert?

Tanner blickte Teresa fragend an.

Herr Valser ist unser Gärtner und Haustechniker. Er hatte die ganze letzte Woche frei. Aber er hätte schon am Sonntag ins Haus kommen sollen, so war es ausgemacht. Er ist nicht er­schienen. Gestern auch nicht, ohne sich abzumelden, und heute auch nicht. Er nimmt auch sein Handy nicht ab. Heute Morgen hat uns seine Frau angerufen und weinend berichtet, dass ihr Mann verschwunden sei. Wir waren jetzt bei der Polizei und haben eine Vermisstenanzeige aufgegeben.

Tanner begann vorsichtig nachzufragen.

Wann hat seine Frau ihn denn zuletzt gesehen?

Am Sonntagmorgen habe er sich verabschiedet. Am Sonntag hätte er ja ins Haus kommen sollen. Ist aber nicht erschienen. Danach hatte ihn seine Frau nicht mehr gesehen.

Tanner stutzte.

Und sie ruft erst heute Morgen an? Das ist aber eher seltsam. Und wie alt ist er, der Walter Valser, meine ich.

Er habe ihr gesagt, vielleicht übernachte er hier. Das tut er manchmal. Er ist so gegen die fünfzig.

Hat er hier ein Zimmer?

Nein, im kleinen Bootshaus, wo auch seine Werkstatt ist. Er hat eine Matratze. Da übernachtet er oft, denn er wohnt ganz am anderen Ende des Sees.

Und wie kam er jeweils zur Arbeit?

Meistens mit dem Fahrrad. Je nach Arbeitsrhythmus konnte er das Fahrrad aufs Kursschiff nehmen. Früher arbeitete er übrigens auf den Kursschiffen hier.

Fehlt denn zu Hause irgendetwas? Hat er was mitgenommen? Hat seine Frau etwas bemerkt? War er in letzter Zeit irgendwie unruhig? Anders als sonst? Hatte er Probleme?

Teresa starrte ihn verblüfft an.

Das alles hat die Polizei auch gefragt.

Tanner kapierte, dass er zu weit gegangen war und versuch­te sofort, seine Fragerei herunterzuspielen.

Ja, das sind doch die Fragen, die einem als Erstes in den Sinn kommen, oder?

Ljuli nickte unsicher. Aber Teresa blickte ihn nach wie vor verwundert an.

Also, die Frau konnte sich an keine Auffälligkeiten erinnern. Gefehlt habe auch nichts.

Die Frage, ob jemand im Bootshaus nachgesehen habe, verkniff sich Tanner.

Er versuchte es auf die heitere Art.

Es gibt ja auch die berühmten Fälle, dass jemand Zigaretten holen geht und danach nie mehr nach Hause kommt. Davon habt ihr sicher auch schon gehört?

Die Frauen lächelten.

Ich sage es ja immer, Rauchen ist gefährlich, gell, Ljuli.

Jetzt lachten sie herzhaft.

Er wird schon wieder auftauchen. So schnell verschwindet kein Mensch.

Teresa nickte.

Hoffen wir es.

Haben Sie Madame informiert?

Nein, aber das mache ich gleich nach dem Essen.

Danach aßen sie weiter und unterhielten sich übers Kochen und über andere alltägliche Dinge.

Erst als Teresa das Besteck auf den Teller legte und sich mit der Serviette den Mund wischte, sprach sie das Thema wieder an.

Was wird denn die Polizei jetzt machen, frage ich mich.

Tanner nahm ein Schluck Bier.

Erst mal die ganzen Routinesachen. Die Vermisstenanzeige an alle Polizeistationen weiterleiten, Spitäler und alle möglichen Kliniken in einem gewissen Umkreis anfragen. Tja, und dann wieder warten.

Woher wissen Sie das so genau, Tanner?

Ich lese Kriminalromane. Sie nicht?

Teresa schüttelte den Kopf.

Ich gehe jetzt zu Madame und mache Meldung. Das ausgerechnet jetzt, da Dr. de Klerk nicht da ist! So ein Mist!

Ljuli nickte mitfühlend.

Tanner stand auf.

Wenn ich irgendwie helfen kann – Sie wissen ja, wo Sie mich finden.

Tanner räumte auf, ging dann in sein Zimmer und rief Michel an.

Also, Tanner, hör mal, ich habe drei Leute auf die drei Damen angesetzt, und die haben rund um die Uhr telefoniert und alle möglichen Informationen eingeholt. Alles ist in Protokollen zusammengefasst und bereits auf der Post zu dir un­terwegs. Morgen solltest du das Paket erhalten.

Gut. Ich danke dir.

Ach, ja. In Schweden gibt es im Moment keinen Kongress zu den gesuchten Themen Internate, Schulen und so weiter.

Tanner grinste.

Nein, aber ich weiß mittlerweile, dass er an einem internationalen Schneckenkongress teilnimmt.

Schnecken? Machst du dich über mich lustig, Tanner?

Nein, nein. Es ist die Wahrheit. Das hat man mir gesagt. Das wissen hier alle. Dr. de Klerk ist offenbar Wissenschaftler. Schneckenexperte.

Okay, auch ein Beruf. Und weiter?

Mehr weiß ich auch nicht. Schnecken sind offenbar sein Hobby. Im Grunde leitet seine Mutter das Internat. Er sei bloß das Aushängeschild. Aber das ist nur Klatsch. Ich habe ihn ja noch nicht mal gesehen. Und jetzt was anderes. Der Gärtner ist verschwunden. Er hätte wohl schon am Sonntag wieder zur Arbeit kommen sollen und ist bis heute nicht aufgetaucht.

Tanner erklärte ihm, was er bisher wusste.

Aha, seltsam. Am Tag, an dem du auftauchst, verschwindet der Gärtner. Aber das ist sicher nur ein Zufall. Oder willst du den Job des Gärtners auch noch übernehmen?

Michel lachte schallend.

Blödmann. Er heißt übrigens Valser, wie das Mineralwasser, Walter Valser. Er hat früher bei der Schifffahrtsgesellschaft hier auf dem See gearbeitet. Kannst du mal diskret nachprüfen, warum er nicht mehr dort arbeitet? Das sind doch sicher gute Jobs bei so einer Schifffahrtsgesellschaft, die gibt man eher nicht freiwillig auf, denke ich.

Gut. Mach ich. Und melde dich, wenn dir in den Unterlagen über die drei Frauen etwas Brauchbares auffallen sollte.

Ja, falls die ankommen. Heute war noch nichts in der Post.

Na, ich sage es ja: Schneckenpost.

3. Tag — Dienstagnachmittag und Nacht

Er ging zurück in die Küche und begann mit der Verarbeitung der Kichererbsen. Ein Teil für den Humus, der größere Teil für die Falafel. Bis seine kleine Küchenmannschaft eintraf, hatte er den Humus und den Teig für die Falafel fertig. Gemeinsam rüsteten sie Gemüse und Salate, schnitten klein, raspelten, machten Saucen und hatten viel zu lachen. Tanner erzählte ihnen Anekdoten von seiner unvergesslichen Haushälterin und Köchin in Marokko. Er behauptete, er sei eine Zeit lang Koch in einem großen internationalen Hotel in Marokko gewesen.

Das Essen wurde ihr gemeinsames Meisterwerk. Sozusagen sein Einstand als professioneller Koch. Auch wenn davon niemand etwas wusste.

Die Vielfalt an Geschmack, Farben, Formen und verschiedenartigen Texturen war einfach einmalig. Und die beiden Speisesäle wussten es zu schätzen.

An diesem Abend gab es bestimmt keine glücklichere Küchenbrigade im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern.

Als alles aufgeräumt war, bedankte sich Tanner bei seiner kleinen Truppe und blieb noch einen Moment allein in der Küche. Dann löschte er das Licht, ging in sein Zimmer, nahm seine starke Taschenlampe aus dem Koffer, zog seine Regenjacke an und stieg leise die Treppe hinunter. Es war bereits ruhig im Haus. Vom dritten Stock nahm er den Lift bis in den Keller, da die Treppe zu stark knarrte.

Er ging in die Küche und durch die schmale Glastür in den Garten. Er schloss sie leise hinter sich. Es regnete immer noch in Strömen. Er stand einen Moment ruhig da und vergewisserte sich, dass niemand im Garten war. Das war bei dem Wetter zwar unwahrscheinlich, aber Vorsicht war besser. Dann ging er leise ein paar Schritte bis unter den nächsten Apfelbaum und schaute an der großen Fassade hoch. Wo war eigentlich das Zimmer von Teresa Wunder? Er wusste es nicht. Licht brannte nur in den oberen Stockwerken bei den Einzelzimmern der Mädchen, die wahrscheinlich noch Hausaufgaben machen mussten, und natürlich bei Madame. Lichterlöschen war bei den Mädchen um zehn Uhr. Ob Madame wieder auf ihn wartete? Sie würde bei diesem Wetter wohl kaum in den Garten hinunterkommen.

Er schaute auf seine Uhr und wartete, bis die Lichter ausgingen. Es war gleich zehn. Max Keller war jetzt sicher schon in den Bergen von Kanada und würde wahrscheinlich morgen das erste Mal seine Angel auswerfen.

Tanner grinste. Angeln wäre gar nicht meine Sache. Und deswegen extra nach Kanada! Nein danke.

In diesem Moment ging das erste Licht aus. Kurz darauf alle anderen, außer bei Madame.

Er ging nun zügig von Baum zu Baum, bis hinunter zum Ufer. Sowohl die Fischerhütte wie auch das Bootshaus, das hundert Meter weiter rechts stand, waren vom Hauptgebäude aus nicht zu sehen. Er musste trotzdem mit dem Schein seiner Taschenlampe sehr vorsichtig umgehen. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Der See lag ruhig und schwarz wie Tinte da. Die Sicht betrug höchstens zehn Meter.

Er erreichte jetzt das Bootshaus. An der Tür hing ein altes Vorhängeschloss. Er schaltete seine Lampe an, deckte sie mit der Hand aber ab und betrachtete die eiserne Haltevorrichtung, an der das Schloss befestigt war. Auf der einen Seite saßen die Schrauben bereits ziemlich locker im morschen Holz. Er suchte am Boden nach irgendetwas Flachem. Er fand ein Stück Blech und hebelte damit vorsichtig die Schrauben raus, aber so, dass er möglichst wenig Spuren verursachte und nachträglich die Schrauben wieder hineindrücken könnte. Nach kurzer Zeit hatte er es geschafft. Die Schrauben ließ er in den Metalllöchern hängen und schob vorsichtig die Tür auf.

Ein modriger Geruch schlug ihm entgegen. Moder und feuchte Erde. Er zog im Dunkeln die Tür hinter sich zu und knipste die Taschenlampe an. Er sah sofort, woher der Moder stammte. In der einen Ecke waren in einem Regal bereits viele Geranien für den Winter gestapelt, und die hatten in seiner Nase schon immer nach Tod gerochen. In der anderen Ecke lagerte das Werkzeug für die Gartenarbeit. In der Mitte stand eine alte Werkbank, darauf lagen kreuz und quer die Werkzeuge, alte Scharniere, angebrochene Schachteln mit Nägeln und Schrauben.

Er hatte schon größeres Chaos gesehen, aber so richtig ordentlich war der Valser auf jeden Fall nicht. Tanner ließ die Taschenlampe langsam kreisen.

Keine Liebe zu den Sachen war sein Befund.

So. Und wo ist jetzt diese Matratze, auf der Herr Valser angeblich ab und zu schläft?

Er öffnete die nächste Tür. Die führte in eine Art Zwischenkammer, dahinter vermutete Tanner das eigentliche Bootshaus, denn er hörte schon deutlich das Plätschern des Wassers. In dieser Kammer gab es einen Tisch, darauf standen ein Gasrechaud, ein verbeulter Topf, ein Teller, Besteck und ein Glas. Über dem einzigen Stuhl hingen eine Strickweste und ein paar alte Hosenträger. Neben dem Tisch stand ein ziemlich wackeliger Schrank. Er öffnete ihn. Da hingen ein paar Ar­beitskleider, ein Fernglas, ein knorriger Spazierstock. Auf den zwei Regalen lagen sehr unordentlich verschiedene Kleidungsstücke.

Zwischen Schrank und Wand fand er die Matratze, von der gesprochen wurde. Und einen Schlafsack.

Gut. Hier hast du also geschlafen.

Aber jetzt war hier weit und breit kein Valser sehen.

Er stieß die Tür zum eigentlichen Bootshaus auf und schrak zurück. Das Aufstoßen der Tür hatte offenbar die Nachtruhe einiger Vögel gestört. Ein Wirbel von wildem Flügelschlagen und Kreischen dicht vor seinen Augen ließ ihn instinktiv die Arme hochreißen. Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand und rollte über den schmalen Steg in Richtung Wasser. Ein schneller Ausfallschritt rettete sie vor dem Sturz in den See. Tanner ging auf die Knie, tastete in der Dunkelheit nach der Lampe, die ausgegangen war. Er knipste sie wieder an, blickte hoch – und erschrak ein zweites Mal.

Da hing ein Körper an einem Seil. Unter seinen Füßen lag ein dreifüßiger Hocker, der umgestoßen war. Tanner rappelte sich keuchend hoch, leuchtete dem Mann ins Gesicht, denn um einen Mann handelte es sich – und erschrak ein drittes Mal. Das war definitiv nicht Walter Valser. Das Gesicht des Mannes war zwar schon erheblich von den Vögeln bearbeitet worden, dennoch bestand nicht der geringste Zweifel: Es war der Mann, der sich so aufs Fischen in Kanada gefreut hatte.

Tanner löschte die Lampe. Das Gesicht war wirklich unschön anzuschauen. Er wartete, bis sich seine Augen wieder ans Dunkel gewöhnt hatten. Er blickte sich um. Ein schlankes Ruderboot schaukelte still vor sich hin. Wer es als nächstes benutzen wollte, müsste ganz schön lange Wasser schöpfen. Das Bootshaus hatte offenbar Platz für zwei Boote. Wo das andere im Moment wohl war? Auf der einen Seite ging ein schmaler Steg hinaus aufs Wasser. Tanner schritt vorsichtig bis ans Ende. Der Regen hatte aufgehört. In der unmittelbaren Umgebung war auch kein Boot zu sehen, das heißt, so weit Tanner überhaupt sehen konnte. Und das war in dieser Nacht beileibe nicht weit. Die Vögel, es handelte sich um Raben, saßen alle auf einem Baum direkt neben dem Bootshaus. Sie warteten offensichtlich, bis der Störenfried wieder verschwinden würde. Von hier aus konnte er den oberen Stock des Weißen Schlosses sehen. Er sah die Fenster von Madame, die immer noch schwach erleuchtet waren.

Gut. Was tun?

Es blieb ihm eigentlich nur eine Möglichkeit.

Er zückte das Telefon und wählte Michels Nummer. Es dauerte lange, bis Michel abnahm.

Hör mal, jetzt übertreibst du es aber. Hast du schon wieder neue Fragen und Aufträge?

Nein, ich melde bloß einen neuen Selbstmord. Ich dachte, vielleicht interessiert dich das.

Das Telefon blieb einen Moment still.

Hallo, Michel! Bist du noch da?

Soll das ein Witz sein?

Nein, Michel, mit so was mache ich im Allgemeinen keine Witze. Es handelt sich um den Chefkoch Max Keller. Das ist der, den ich in deinem Auftrag hier vertrete. Erinnerst du dich? Der jetzt in Kanada am Fischen ist.

Wo hast du denn den gefunden? Du bist doch nicht in Kanada, oder?

Nein, ich stehe hier im Bootshaus, das zum Weißen Schloss gehört. Da hat er sich erhängt.

Warum um alles in der Welt bist du um diese Uhrzeit im Bootshaus? Wolltest du eine nächtliche Bootsfahrt machen?

Nein, ich habe nach Walter Valser suchen wollen. Der hat nämlich laut Teresa Wunder hier seine Werkstatt und übernachtet hier auch dann und wann. Da dachte ich mir, es wäre vielleicht eine gute Idee nachzuschauen, ob er möglicherweise hier steckt. Ich habe nicht ihn gefunden, sondern den Max Keller.

Wer zum Teufel ist Teresa Wunder?

Hast du ein Löchersieb im Kopf, oder bist du betrunken? Das ist die neue Assistentin der Internatsleitung. Sag mir, was ich jetzt tun soll, verdammt noch mal!

Michel schnaubte durchs Telefon.

Gut. Du bleibst, wo du bist und rührst dich nicht von der Stelle. Ich setze mich mit meinem Freund vom Hauptort in Verbindung. Ich möchte nämlich, dass du für den Rest der Welt anonym bleibst, ich meine, dass du der Koch bleibst … äh – ach du verdammte Scheiße: Du weißt, was ich meine, oder?

Ja, mein Dickerchen, ich weiß genau, was du meinst. Ich bleibe sowieso hier, denn die Raben haben schon angefangen, das Gesicht Kellers zu attackieren. Die Kollegen sollen aber bitte leise sein, vor dem Schloss parken und dann durch den Garten zum See. Zwei reichen. Und der Gerichtsmediziner. Schärf ihnen das bitte ein. Wir müssen so diskret wie möglich vorgehen. Hier sind 75 junge Mädchen. Ich will nicht, dass die alle aufgeschreckt werden und hysterisch herumflattern. Hast du mich verstanden?

Klar und deutlich. Und wenn du noch mal Dickerchen sagst, komme ich selber vorbei.

Dann sags ich gerne noch einmal …

Tanner nahm sein Telefon vom Ohr.

Mist. Schon abgehängt.

Nach einer Viertelstunde, die Tanner wie eine kleine Ewigkeit vorkam, rief Michel wieder an.

Also, die Sache ist geklärt. Sie sind schon auf dem Weg. Erst kommt eine Streife, die müsste sehr bald bei dir sein. Sie werden diskret vorgehen, haben sie mir versprochen. Danach kommt ein Ziviler mit einem Arzt. Ich bleibe wach. Du kannst mich jederzeit anrufen. Ich schau schon mal, ob ich etwas über den Keller finde.

Gut. Ich danke dir, Michel.

Ach ja, wegen Kongress und so. Wir haben in ganz Schweden nichts über Schnecken gefunden. Bist du sicher, dass du das richtig verstanden hast?

Ja, sicher. Klar und deutlich.

Dann war er vielleicht einfach an einer Universität eingeladen, die das gar nicht publik gemacht hat.

Ja, das ist natürlich möglich. Für Schnecken interessieren sich vielleicht doch nicht so viele Menschen.

Sie lachten und beendeten das Gespräch.

Es hatte erneut zu regnen begonnen. Tanner zog sich ins Bootshaus zurück. Die Raben protestierten lautstark. Ob ge­gen den Regen oder gegen seine Anwesenheit, war nicht auszumachen.

Mit der Taschenlampe suchte er minutiös den Boden nach Spuren ab. Was hätte er sonst tun sollen? Die Suche lenkte Tanner etwas ab. Den Toten fasste er nicht an, obwohl er sehr neugierig war, ob man bei ihm etwas finden würde. Sein Telefon zum Beispiel. Aber er hatte ja auch keine Handschuhe dabei und wollte keine Spuren zerstören und schon gar keine neue legen. Zum Beispiel seine eigenen Fingerabdrücke dort hinterlassen, wo sie nicht hingehörten.

Auf dem Holzboden des Bootshauses fand er nichts. Er richtete den Lichtstrahl ins Wasser. Nach einer Weile systematischen Absuchens des Seegrunds, der nur undeutlich zu erkennen war, bemerkte er an einer Stelle die schwache Reflexion eines Gegenstands. Er merkte sich die Stelle und ging vor das Bootshaus, denn nach seinem Zeitgefühl mussten die Be­amten jetzt langsam eintreffen.

Er wartete noch einmal zehn Minuten. Das Licht bei Madame brannte immer noch.

Dann hörte er Schritte und der Strahl einer Taschenlampe zeigte in den Garten hinab. Er knipste kurz seine Lampe in die Richtung, als Zeichen seiner Anwesenheit.

Sie begrüßten sich per Handschlag. Die beiden Beamten stellten sich als Brunner und Wenger vor. Tanner berichtete ihnen den Verlauf seiner Entdeckung. Der eine machte sich Notizen. Dann gingen sie beide ins Bootshaus. Der jüngere kam sofort wieder heraus. Offenbar ertrug er den Anblick des Toten nicht gut.

Der andere kam etwas später raus.

Sie haben gar nichts angerührt und auch nichts verändert, Herr Tanner, oder?

Tanner verneinte.

Ich habe bloß die Vögel verscheucht. Sonst ist alles exakt so, wie ich es vorgefunden habe.

Ja, es ist kein schöner Anblick. Mein Kollege hat noch nicht so viel Erfahrung, deswegen …

Kein Problem. Von mir erfährt niemand etwas.

Der Beamte nickte.

Gut. Wir übernehmen jetzt den Ort. Sie können ins Haus gehen. Sie werden später alles noch einmal zu Protokoll geben müssen. Aber wahrscheinlich erst morgen früh.

Tanner nickte.

Ich werde jetzt die Assistentin der Internatsleitung informieren. Sie weiß nämlich noch nichts. Der Direktor weilt gerade im Ausland.

Ja, machen Sie das. Wie heißt die Dame?

Teresa Wunder. Kann ich mit ihr runterkommen, falls sie das wünscht.

Ja. Kein Problem.

Wenger, du kannst mal anfangen abzusperren. Bring Lampen mit.

Tanner ging den Garten hoch. Wenn er nur wüsste, wo Tere­sa ihr Zimmer hat. Deshalb ging er um das Haus herum, vielleicht würde er sehen, wo sonst noch ein Licht brannte.

Als er auf den Vorplatz kam, schloss Teresa gerade die Tür ihres Autos. Offenbar war sie weg gewesen. Sie sah Tanner und rannte aufgeregt zu ihm.

Was ist denn los, Tanner? Warum ist hier ein Streifenwagen? Ist es wegen Walter Valser?

Nein, Teresa. Ich habe jetzt leider keine gute Nachricht. Sollen wir nicht reingehen?

Nein, ich will jetzt wissen, was los ist. Ist etwas mit einem Mädchen?

Nein. Es ist wegen Max Keller. Er hat sich erhängt.

Teresa wurde käsebleich.

In Kanada?

Ihr wurde offenbar schwindelig. Tanner stützte sie.

Setzen Sie sich kurz auf die Treppe.

Er zog seine Windjacke aus und legte sie auf die Treppe. Sie setzte sich.

Nein. Er ist offenbar gar nicht nach Kanada geflogen. Ich habe ihn im Bootshaus gefunden.

Im Bootshaus?

Sie starrte ihn misstrauisch an.

Was hatten Sie denn im Bootshaus zu suchen?

Ich habe doch gesehen, wie Sie sich um den Herrn Valser Sorgen gemacht hatten, und da habe ich gedacht, ich schaue mal ins Bootshaus. Sie haben doch selbst gesagt, dass er da manchmal übernachtet. Es hat dort ja niemand nachgesehen. Sie auch nicht.

Wieso? Hätte ich das tun sollen?

Tanner seufzte.

Ich bin froh, dass Sie das nicht gemacht haben, sonst hätten Sie den Max Keller entdeckt und nicht ich.

Sie stand auf.

Gut. Begleiten Sie mich zum Bootshaus.

Das würde ich an ihrer Stelle nicht tun.

Warum nicht?

Es ist kein schöner Anblick.

Sie stand hilflos und unschlüssig da, dann setzte sich wieder und fing an zu weinen. Tanner setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern.

Oh Gott! Und das alles jetzt, da Herr de Klerk nicht da ist.

Sie schreckte auf.

Haben Sie es schon Madame gesagt?

Nein, nein. Die Polizei ist ja eben erst gekommen. Ich konnte ihn ja nicht einfach allein lassen. Ich bin gerade hochgekommen und wollte Sie suchen. Ich wusste ja nicht einmal, wo ich Sie finden würde.

Sie nickte und kämpfte gegen ihre Tränen.

Und Sie haben von sich aus die Polizei angerufen?

Ja, was hätten Sie an meiner Stelle getan?

Sie versuchte ein Lächeln.

Ja, ich hätte auch die Polizei angerufen oder einen Arzt – ich weiß doch nicht. Ich habe ja noch nie so etwas erlebt. Entschuldigen Sie meine Heulerei. Mist. Ich will nicht heulen.

Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Ich trage hier die Verantwortung, und jetzt sitze ich hier und heule. Verdammt.

Tanner schwieg. Was sollte er auch sagen?

Sagen Sie was, verdammt noch mal. Mein Gott, so cool wie Sie möchte ich auch mal sein.

Okay. Hätten Sie einen Heulkrampf bekommen, hätte ich ihnen zu ihrem eigenen Besten eine runtergehauen, aber bei Ihnen war das nicht nötig.

Was? Sie hätten mir eine runtergehauen? Und auch noch zu meinem Besten. Das wird ja immer schöner.

Ja, das wäre dann ja meine Pflicht gewesen.

So, so. Ihre Pflicht. Das ist ein gutes Stichwort. Gut. Jetzt ist aber fertig.

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9783038550679
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