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Читать книгу: «Das Gesetz des Wassers», страница 7

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NEUN

Das Haus am See, in dem Tanner sich eine Wohnung gemietet hat, ist voll mit antiken Möbeln und mit ebenso vielen Geschichten und Histörchen. Erbaut im 17. Jahrhundert – übrigens vom selben Architekten wie das nahe gelegene Schloss – war es zunächst Gasthof und Relaisstation für die Postkutschen, die die reichen Herrschaften von Paris in die Schweiz oder nach Italien und zurück beförderten. Die Legende des Hauses behauptet, dass auch die Gattin von Napoleon und andere hochwohlgeborene Persönlichkeiten aus Politik und Adel in diesem Hause übernachtet haben sollen.

Später wurde das Haus zu einem vornehmen Institut für die – wie man sie damals nannte – höheren Töchter und deren Erziehung zu perfekten Gattinnen umgewandelt. Eine Vorstellung, die Tanner ganz besonders amüsiert. Kurzzeitig war das Haus ein Restaurant, bis es dann als vornehmes Privat- und Patrizierhaus seine endgültige Verwendung fand.

Der jetzige Besitzer, ein schrulliger, pensionierter Apotheker, hat es von seiner noch schrulligeren Mutter geerbt, die fast dreißig Jahre lang das große, mit Glyzinien bewachsene Haus mutterseelenallein bewohnte, nachdem ihr Mann, ein Kunstlehrer aus Genf, gestorben war. Sie pflegte allerdings während der letzten Jahre immer zu behaupten, dass ihr Mann erst vor sieben Jahren gestorben sei. Das unterste Stockwerk besteht zur Hauptsache aus einem großen, dunklen Empfangs- und Wohnraum, mit einem Kamin, in dem ohne weiteres ein kleines Kammerorchester Platz nehmen könnte. In der Beletage im ersten Stock ist es heller und wohnlicher. Diese beiden Stockwerke sind bis auf weiteres unbewohnt, da der Besitzer sich nie richtig entscheiden konnte umzuziehen. Schön renoviert hat er das Haus für eine Riesenstange Geld, aber bewohnen will er es offenbar nicht. Tanner bewohnt den ganzen obersten Stock. Da, wo früher die Bediensteten hausten. Der Blick aus den Fenstern ist schlicht atemberaubend. Der Park. Der See. Das gegenüberliegende Ufer mit seiner sanft geschwungenen Hügelkette. Es ist einmalig.

In der ersten Zeit hatte Tanner allerdings keinen Blick für diese Schönheit. Der Schmerz um das Schicksal seiner Geliebten machte ihn blind für solche Äußerlichkeiten. Er hatte sich für die Wohnung entschieden, weil er sofort den Geruch dieses Hauses mochte. Ein Schritt ins Haus hinein, ein Atemzug … und er wusste, dass er hier wohnen wollte. Tanner fehlen jeweils die Worte, wenn er jemandem von diesem Geruch erzählen will. Auch jetzt, da er mit Martha auf dem Weg zu seinem neuen Zuhause ist.

Martha, du wirst es ja gleich selber riechen. Das Haus ist halt aus richtigem Stein gebaut, dazu viel altes Holz und komplett bewachsen mit diesen wunderschönen Glyzinien.

Martha nickt nur leicht mit dem Kopf, nun ihrerseits verwundert über den ununterbrochenen Erzählfluss von Tanner. Sie interessiert sich zwar auch für alte Häuser, aber Tanner spricht die ganze Zeit über dieses Haus, als ob er über eine Geliebte spräche.

Andererseits weiß sie natürlich, dass sie ihn mit dem Entschluss, mit ihm zu fahren, nervös gemacht hat. Eigentlich verstand sie selber im Nachhinein ihre spontane Entscheidung kaum noch, aber nachdem ihr Chef so lange am Telefon genervt und sie endlich einmal den Mut gefunden hatte, ihm ungeschminkt die Meinung zu sagen, vor allem über seine plumpen Annäherungsversuche, war es ihr, als ob ein unerträgliches Gewicht von ihr abgefallen wäre. Seit Monaten versucht Stettler, sie in sein Bett zu kriegen. Dabei mochte sie ihn anfänglich sehr gerne. Er ist ungeheuer intelligent, wortgewandt und witzig und von einer geradezu barocken Lebens- und Sinnenfreude. Aber seit er sich offenkundig in den Kopf gesetzt hat, sie in die lange Liste seiner Eroberungen einzureihen, findet sie ihn von Tag zu Tag widerlicher. Und das Ganze dauert nun schon ewige Monate. Zugegeben, am Anfang fühlte sie sich von seinen unverblümten Avancen geschmeichelt, immerhin ist er der große Boss der Zeitung, aber diese Zeit ist längst vorbei. Mittlerweile fühlt sie sich sogar bei ihrer Arbeit behindert und überlegt sich ernsthaft, ob sie nicht eine neue Stelle suchen soll.

Sie betrachtet Tanner von der Seite, der ununterbrochen von diesem Wunderhaus schwärmt, und überlegt, ob sie vielleicht mit ihm darüber reden sollte. Besser nicht. Sonst bildet er sich am Ende noch mehr ein, als er es eh schon tut. Unter dem Vorwand, seinen Schwärmereien aufmerksam zuzuhören, kann sie ihn ausgiebig betrachten. Früher in der Schule hatte sie das kaum gewagt, obwohl sie doch die gesamte gemeinsame Schulzeit, und noch lange danach, rasend in ihn verliebt war. Er hat sie natürlich nicht beachtet. Sie, das hässliche Entlein vom Lande. Außer natürlich, wenn er von ihr eine Arbeit abschreiben durfte oder sie ihm gnädigst eine schwierige Mathematikaufgabe siebenmal erklären durfte. Was war er doch für eine Flasche in Mathematik! Sie kann nicht verhindern, dass sie lachen muss. Tanner lacht mit und denkt wohl, seine Erzählung sei witzig. Er hat gerade von dieser alten Frau erzählt, deren Haarteil nicht selten an einem tief hängenden Baumast im Garten hing. Martha hört nur mit halbem Ohr zu.

Attraktiv ist er immer noch, denkt Martha bei sich, vielleicht sogar noch mehr als damals. Und wie er da sitzt. Wie er das Auto lenkt, als wär’s ein Teil von ihm. Sie betrachtet seine glatte Stirn. Obwohl er immer noch diese dichten Strähnen besitzt, ist die Stirn deutlich höher geworden. Dadurch wirkt seine Nase energischer. Und der Mund noch weicher. Seine Haare hätte sie früher so gerne angefasst, mehr hatte sie ja gar nicht gewollt. Mehr konnte sie sich damals auch gar nicht vorstellen. Jetzt dürfte sie wahrscheinlich alles an ihm anfassen, wenn sie nur wollte. Aber das wird nie geschehen. Das hat sie sich geschworen. Leide nie zweimal wegen demselben Mann. Ein ehernes Gesetz. Und dass sie leiden würde, war sonnenklar. Früher oder später. Wenn hier also einer leidet, dann soll er es sein. Er hat sie lange genug behandelt, als sei sie Luft. Weniger als Luft, denn die braucht man zum Leben. Diesen Moment, damals in den Bergen, wo er ihre Hand halten musste, weil der Lehrer es befohlen hatte, den wird sie allerdings nie vergessen. Da war eine Hitze in ihr, die sie später nie mehr erlebt hat. Und diesen Augenblick wird sie ihm nie verzeihen. Nie wird sie ihm verzeihen, dass er in diesem Moment nicht auch diese Hitze spürte. Im Gegenteil: dass er bei der nächsten Gelegenheit ihre zitternde Hand gleich wieder losließ und schleunigst zu dieser Schlampe, dieser Schlagersängerin aus Prag, überlief. Die einzige Genugtuung bezog sie damals aus der Tatsache, dass die ihn nicht ranließ. Die spielte nur mit ihm. Und auch nur während der Schulstunden. Kaum war nämlich die Schule aus, wurde sie von ihrem viel älteren Freund in einem schnellen Sportwagen abgeholt. Und dann litt Tanner. Und wie er litt. Es war ihm genau anzusehen. Nach ein paar Augenblicken des Genusses hatte sie dann doch Mitleid mit ihm und hasste umso mehr die andere.

Ja, was für ein netter Teufelskreis.

Ihre selbstvergessene Bemerkung passt an dieser Stelle zum Glück ganz gut zu der Erzählung von Tanner, der gerade berichtete, dass die alte Frau nachts in ihrem Bett Filme sah, die ein böser Nachbar projiziert haben soll. Wenn sie dann das Bett gewechselt habe, sei ihr der Film auch dort erschienen.

Eines gefällt ihr an Tanner immer noch. Leider. Schon als Junge besaß er diese Traurigkeit, die sich niemand erklären konnte. Auch heute kann sie sich dieser Trauer kaum entziehen. Immerhin kennt sie einen aktuellen Grund. Diese Elsie, die seit über einem Jahr im Koma liegt, die liebt er anscheinend. Martha graut bei der Vorstellung. Im Koma liegen. Nicht leben, nicht sterben. Aber traurig war er schon immer. Oder war es eher der Ausdruck einer nicht zu stillenden Sehnsucht? Eine Sehnsucht, die vielleicht durch nichts und durch niemanden zu stillen ist? Martha ist sich plötzlich nicht mehr sicher. Auf jeden Fall wird sie sich wappnen. Und nicht mit ihm ins Bett gehen. Keinesfalls.

Tanner räuspert sich und zeigt auf irgendwelche dunklen Umrisse.

Schau, Martha, da ist das Schloss, von dem ich dir erzählt habe, weißt du? Derselbe Architekt, ein französischer Offizier, der das Haus erbaut hat, in dem ich wohne. Hörst du mir überhaupt zu?

Martha schreckt hoch. Dann nickt sie schnell.

Entschuldige, Tanner, ich bin plötzlich müde. Die Autofahrt hat mich jetzt doch angestrengt und ich hatte einen mühsamen Tag. Und die Hitze.

Tanner versteht natürlich. Zum Glück sind sie gleich da. Er verlangsamt das Tempo seines Autos. Sie fahren durch ein großes Tor, der Kiesweg knirscht unter den Rädern.

So. Da sind wir.

Tanner nickt befriedigt. Er steigt aus und öffnet auf ihrer Seite die Wagentür. Es ist immer noch sehr warm. Über ihnen wölbt sich ein sagenhafter Sternenhimmel. Ein dickbauchiger Mond hängt über den Hügeln. Das dicht bewachsene Haus liegt im Schatten. Es ist still. Nur die Grillen zirpen und in der Ferne bellt dann und wann ein Hund. Der Brunnen zwischen dem Haupthaus und dem niedrigeren Gärtnerhaus plätschert friedlich, als ob er eine unendliche Geschichte zu erzählen wüsste. Martha taucht ihre nackten Arme bis über die Ellbogen in das kühle Wasser. Lange verharrt sie so, wie eine Skulptur. Tanner schaut sie an und wagt nicht, sich zu rühren, als ob er Angst hätte, etwas zu zerstören. Sie dreht ihm ihr Gesicht zu, ohne die Arme aus dem Wasser zu nehmen, schaut ihn lange an. Dann spricht sie leise, aber in einem sehr bestimmten Ton. In diesem neuen Ton, der ihn so überrascht hat.

Eines sage ich dir, Tanner. Wir werden heute Nacht nicht miteinander schlafen. Und wenn du lieb bist, dann diskutierst du jetzt nicht mit mir. Ich sage es dir und ich meine es genau so, wie ich es sage. Und ich spiele keine Spiele.

Natürlich liegt Tanner die Frage auf der Zunge, warum sie sich überhaupt entschlossen hat, mit ihm nach Hause zu fahren. Schließlich lag sein Haus ja nicht gerade am Weg. Aber er hütet sich, etwas zu sagen. Es kommt sowieso noch mehr von Martha. Das spürt er. Sie zieht die Arme aus dem Wasser und schüttelt sie ausgiebig.

Und wenn du dich jetzt zufällig fragen solltest, warum sie denn überhaupt mitgefahren ist, die blöde Kuh, so ist die Antwort ganz einfach. Ich war neugierig auf den Ort, wo sich unser Tanner, der sich all die Jahre so äußerst rar machte, niedergelassen hat. Und das Haus ist wirklich schön. Ja, wunderschön. Und ich wollte nicht allein zurück in meine leere Wohnung. Okay? Jetzt werfen wir noch einen Blick auf den See und danach zeigst du mir das Wunderhaus von innen. Ich bin auch sehr gespannt auf den berühmten Duft, den dieses Haus angeblich verströmt.

Lachend nimmt sie seinen Arm und zieht Tanner ungestüm in Richtung See, quer durch den Garten, bis zu der steinernen Balustrade, die den Garten abschließt. Das kurze Teilbad im Brunnen hat sie wohl aufgeweckt.

Hier erst begreift man, dass der Garten wie eine Terrasse ist, von der aus man praktisch den ganzen See überblicken kann. Martha lässt seinen Arm los und blickt stumm in die funkelnde Nacht hinaus.

Da fehlen mir echt die Worte, das ist … einfach toll. Tanner, ich beneide dich. Okay! Und jetzt der Duft.

Sie tänzelt los in Richtung Haustür, dreht sich dort auf dem Absatz um und blickt herausfordernd zu Tanner, der für ihren Geschmack ein bisschen zu langsam hinterhertrottet.

Tanner, öffne den Sesam. Ich will den Duft. Jetzt! Schläfst du schon? Ah, jetzt mach nicht so ein Gesicht, freu dich doch, dass ich hier bin.

Sie schnappt sich den Schlüssel aus Tanners Hand und öffnet schnell und geschickt die Tür. Sie steht im dunklen, kühlen Steinflur und nimmt einen tiefen Atemzug. Und noch einen. Dann dreht sie sich um und strahlt den etwas zu offensichtlich verstummten Tanner an. Sie hat beschlossen, darauf gar nicht einzugehen.

Wow, du hast Recht, es riecht, wie, äh … wie wenn man zu Hause angekommen ist. Von weit her. Nach einer sehr, sehr langen, beschwerlichen Reise. Ja, genau. So riecht es hier.

Martha hat Recht. Genau so duftet es. Tanner nickt und schließt gottergeben die schwere Haustür hinter sich. Martha schwebt in der Zeit bereits die ausgetretenen Steinstufen empor. Sie hat sich auch schon ihre italienischen Schuhe ausgezogen und sie einfach fallen gelassen. Tanner bückt sich seufzend und trägt sie hinauf. Er hört, wie Martha oben seine Wohnung aufschließt. Gleich darauf einige Laute des Entzückens. Als er oben ankommt, hat sie schon alle Türen aufgerissen und erforscht barfuß seine Wohnung. Das Mondlicht schimmert auf den dunklen Holzböden. Tanner lässt sich in der großen Zimmerflucht mit dem Blick zum See auf das Sofa fallen. Ihre Schuhe hat er immer noch in der Hand. Aus dem hintersten Zimmer, wo sein Bett steht, hört er sie lachen.

Das ist genau die Wohnung, wie ich sie auch möchte. Unendlich viele Zimmer, die alle leer sind, ruft sie. Eine Wohnung, durch die man rennen kann.

Er schließt die Augen und hört zu, wie sie mit ihren nackten Füßen durch seine Wohnung rennt.

Er seufzt.

Wie wird dieser Abend enden? Oder ist er schon zu Ende?

Seine Wohnung ist natürlich nicht ganz leer. Aber sie hat Recht. Sie wirkt ziemlich leer, weil jedes Zimmer höchstens ein Möbelstück beherbergt. Dort ein Tisch. Da ein Sofa. Im Zimmer ganz hinten ein Bett. Im Zimmer daneben eine lange Bücherwand und eine Musikanlage. In einem Zimmer liegt bloß ein dicker Teppich aus Marokko. All die anderen Sachen hat Tanner im leeren Gärtnerhaus eingestellt. Im Grunde braucht er sie alle nicht mehr.

Ich bin gespannt, wie du meine Badewanne findest, die ist nämlich riesig und ova …

Oh, wow! Verflucht! Eine ovale Badewanne. Wahnsinn!

Kreischend verkündet sie die Entdeckung. Tanner lächelt.

Wusst ich’s doch!

Er stellt ihre Schuhe auf den Boden, zieht seine aus und bettet sich bequem auf das Sofa, die Hände hinter dem Kopf gefaltet.

Jetzt bin ich gespannt, wie sich das Rätsel Martha weiterentfaltet, denkt er bei sich und findet seine gute Laune und auch seine Selbstsicherheit wieder. Ja, eigentlich amüsiert ihn das Ganze, zu offensichtlich entschlüsselt sich dem geschulten Kenner ihr Verhalten.

Genüsslich beginnt er eine Melodie zu summen, die ihm für die Situation sehr passend vorkommt. Zuerst summt er sie leise, dann etwas lauter. Plötzlich hört er Martha in seinem Rücken. Sie singt gekonnt die Melodie mit. Etwas später übernimmt sie das Lied ganz. Kein Wunder: Sie kennt die Worte, die Zerlina singt. Und noch etwas, was er nicht wusste: Martha singt wunderschön. Er dreht sich auf den Bauch, um sie zu sehen. Sie steht sehr aufrecht in der Tür, hält sich mit beiden Händen am Türrahmen fest und singt mit geschlossenen Augen die zärtlichen Worte des Liebesduetts.

An einer der schönsten Stellen bricht sie ab und öffnet die Augen. Jetzt könnte nicht die kleinste Stecknadel ungehört auf den Boden fallen.

In welchem Bett schlafe ich?

Ganz hinten steht ein breites Bett, es ist zufällig frisch bezogen. Ich schlafe hier auf dem Sofa. Wann möchte Zerlina denn frühstücken? Ich muss morgen um neun Uhr in der Hauptstadt sein. Fährst du mich hin? Am Nachmittag muss ich ins Büro und zurück in den Alltag.

In Ordnung. Ich kann dich am Nachmittag auch in deinen Alltag zurückfahren. Ich habe ja immer noch mein Hotelzimmer und meine Sachen dort. In deiner Alltagsstadt, meine ich. Außerdem habe ich dort noch einiges zu erledigen.

Wunderbar, Tanner.

Sie macht einen zögernden Schritt, dann dreht sie sich noch einmal zu ihm um.

Bist du mir böse? Ein bisschen? Ich hoffe nicht. Schlaf gut.

Sie huscht unvermittelt zu ihm und küsst ihn mitten auf den Mund, allerdings: Hätte man die Zeit messen wollen, in der sich ihre Lippen berührten, würden Geräte aus der Welt der mechanischen Zeitmessung leider nichts anzeigen. Aber die Zeit reichte immerhin, um ihren Duft wahrzunehmen.

Als sie längst im Dunkeln verschwunden ist, kommt ziemlich verspätet die Antwort auf ihre letzte Frage. Sie ist ja auch nicht für ihre Ohren bestimmt. Dann ist es plötzlich sehr still. Nur der Duft verweilt noch eine Weile. Vielleicht bildet er sich das auch nur ein. Ja, so ist das mit den Düften.

ZEHN

Serge Michel sitzt in seinem klimatisierten Dienstwagen und kaut lustlos an einem mächtigen Spezialsandwich, das die Vermieterin des trostlosen Appartements, das er seit Jahren bewohnt, fachgerecht für ihn zubereitet hat. Fachgerecht im Michel’schen Sinne. Das macht sie jeden Tag.

Für das Sandwich nimmt sie eines jener unglaublich knusprigen Halbweißbrote, ein halbes Kilo schwer, schneidet es mit ihrem scharfen Sägemesser einmal quer durch, bestreicht die aufgeschnittenen Brotteile dick mit Butter, die sie sich bei dem Bauern um die Ecke besorgt. Auf die Butter kommt eine dicke Lage Senf. Ein viertel Glas geht dabei spielend drauf. Dann kommen verschiedene Lagen Fleisch und Gemüse. Auf die glatte Senfpiste kommt erst einmal eine ebenso glatte Schicht fein geschnittener, gekochter Schinken. Dann eine Lage Speckstreifen, und zwar in krauser, aufgelockerter Form, nicht glatt hingelegt. Auf den Speck kommt je nach Jahreszeit eine Lage frische Tomaten, gebratene Auberginen, gedämpfte Peperoni oder in Gottes Namen halt sonst ein Gemüse, das die Frau vielleicht noch vom Mittagessen des Vortages übrig hat. Nur jede Art von Kohl hat sich der gute Michel verbeten. Und keine Gurken. Michel hasst Gurken. Auf das möglichst farbige Gemüsebeet oben drauf – quasi als innerster Kern des Sandwichs – wird gebratenes Fleisch gebettet. Wiener Schnitzel hat er am liebsten. Es darf ab und zu auch einmal das ausgelöste Fleisch eines gebratenen Huhns sein. Auf diese innerste Fleischschicht kommt dann in umgekehrter Reihenfolge wieder Gemüse, Speck, Schinken. Am Schluss die zweite mit Butter und Senf bestrichene Brothälfte. Symmetrie ist alles.

Dass er lustlos isst, kommt bei dem kolossalen Vielfraß Serge Michel im Schnitt erwiesenermaßen höchstens alle zehn Jahre einmal vor. Jetzt ist die Statistik allerdings ins Wanken geraten, denn vor zwei Wochen ist es schon einmal vorgekommen. An dem Tag nämlich, als ihn seine Geliebte mit den Worten verließ, sie könne leider nicht mit einem Polizisten zusammen sein. Es sei für sie ganz und gar unmöglich, da sie nämlich jeden Tag vor Angst um ihn fast sterben müsse. Sie würde das bei aller Liebe und trotz allnächtlicher sexueller Ekstase, was sie so noch nie erlebt habe – wie auch, sie war ja noch Jungfrau, als sie den dicken Michel kennen lernte – einfach nicht aushalten. Er sei ja als Polizist mit dem Abschaum der Menschheit konfrontiert und ständig in Gefahr. Außerdem wolle sie Kinder, und das ginge nun partout nicht, nein, nein. Ein Vater, der ständig in Gefahr sei. Kinder, die mit einem Bein schon im Waisengrab stehen. Nein, nein, nein!

Sie war nicht zu bremsen, waren ihre Bilder und Beispiele auch noch so abstrus. Wie ein steter Lavafluss strömten ihre Argumente. Jedes, das Michel widerlegte, gebar sieben neue. Er mühte sich ab, erklärte, beschwor, flehte auf Knien und weinte. In den letzten Nächten ihres Beisammenseins steigerte er seine Bemühungen um ihre sexuelle Befriedigung ins schier Übermenschliche. Sie bebte und zitterte vor Lust. Ihr weißer Leib glühte vor angeheiztem Verlangen. Die pralle und an köstlich steil aufragenden Erhebungen, Spalten und Ausbuchtungen so reich gesegnete Topographie ihres Fleisches wurde von Michels Händen derart bearbeitet, als gälte es, sie neu zu formen. Die Wellen ihrer Wollust nahmen geradezu beängstigende Formen an, quasi tsunamihafte Ausmaße. Er sah nach diesen Tagen seines erbitterten Kampfes aus, als hätte er ganz allein noch einmal die blutige Schlacht von Solferino geschlagen. Und verloren.

Eines Morgens war das Bett neben ihm leer und im Badezimmer waren alle ihre Sachen weg. All die Fläschchen, Döschen und sonstigen geheimnisvollen Gerätschaften, die eine Frau braucht, die sich an den Schimären der illustrierten Hefte orientiert – alles war verschwunden. An diesem Tag hat Michel wirklich wenig gegessen und das Wenige lustlos.

Heute allerdings will sich der übliche Heißhunger aus einem anderen Grund nicht einstellen. Die dritte erschlagene Kuh ist im See gefunden worden. Und er hat immer noch nicht den geringsten Hinweis in der Hand. Nicht das leiseste Anzeichen von einer Spur. Es ist zum Davonlaufen. Auch die Laune des Herrn Oberstaatsanwalt verschlechtert sich von Tag zu Tag. Tote Kühe im See machen sich irgendwie nicht besonders gut. Die Hotels am See klagen schon über sinkende Bettenbelegungen.

Zu allem Überfluss hat sich das Wasser des Sees über weite Flächen in tiefrotes Blut verwandelt. Da die farbliche Verwandlung zeitlich hinterlistig exakt nach dem Auftauchen der ersten erschlagenen Kuh begann, verbindet die einfache Volksseele das rote Wasser mit den toten Kühen. Dass es sich um eine explosionsartige Vermehrung der so genannten Blutalgen handelt, ein Phänomen, das sich in diesem See alle paar Jahre wiederholt, kann nichts an der Penetranz ändern, mit der eine gewisse Presse genüsslich einen Zusammenhang mit dem Blut der Kühe suggeriert, lechzend und bereitwillig aufgenommen von einer sensationslüsternen Bevölkerung. Normalerweise ergötzte sich der Volksmund an der Verbindung zu den in diesem See kurz nach Pfingsten 1476 abgeschlachteten Burgundern. Wenn sich also alle paar Jahre der See rot färbte, sprach man mit angenehmem Schaudern vom Burgunderblut.

Michels Auto steht ganz oben auf dem sanften Hügel. Weit unterhalb liegt der blutrote See. Wer um Gottes willen erschlägt wehrlose Kühe? Und mit so ungeheurer Gewalt? Um einen massigen Kuhschädel derart zu zertrümmern, muss einer schon mit einem riesigen Bauhammer mit ungeheurer Kraft zuschlagen. Muss mit einem langstieligen Hammer ausholen wie der Waldschrat mit der Riesenaxt auf dem berühmten Bild. Im Moment des Ausholens muss die Kuh den Täter mit ihren großen, sanften, ja zärtlichen Augen angeschaut haben, denn die Schläge sind genau frontal geführt worden. So viel hat die Gerichtsmedizin in ihrem kurzen Bericht geschrieben. Und das Motiv? Niemand hatte eine brauchbare Vorstellung davon. Sein Freund Tanner würde jetzt sicher Shakespeare zitieren. Ein Königreich für ein Motiv oder so.

Michel schüttelt sich vor Abscheu, legt sein Sandwich kurz auf den Beifahrersitz und betet die Kette seiner Lieblingsflüche herunter. Während der nicht enden wollenden Reihe angelt er sich, ohne hinzugucken, vom Hintersitz den Flachmann, den er dort für Notfälle bereithält, schraubt mechanisch den Deckel auf und leert ihn in einem Zug, so groß ist schließlich seine Not. In letzter Zeit häufen sich allerdings die Notfälle bedenklich, das muss sich Michel selber eingestehen. Wenigstens in hellen Momenten. Jedes Mal, wenn Michel den Flachmann geleert hat, beschließt er aufs Neue, ihn beim nächsten Mal wegzuschmeißen. Allerdings erst beim nächsten Mal. Schließlich hat ihm der kleine Schluck richtig gut getan. Er gibt sich einen Ruck, greift erneut nach seinem Brot, nimmt einen kräftigen Biss und während er kaut, schreibt er auf seinen bereitgelegten Notizblock.

In einer Spalte notiert er in Stichworten die Dinge, die er bereits geklärt hat. Zum Beispiel hat er mit seiner ganzen Mannschaft systematisch die Bauernhöfe abgeklappert, die direkt um den See herum liegen. Fazit: Kein einziger Bauer vermisst eine Kuh. Und schon gar nicht drei. Und bei keinem ist irgendetwas Verdächtiges gefunden worden. Weder ein mit Blut verschmierter Hammer noch abgeschnittene Ohren. Auch keine gelben Ohrenmarken mit Registrierungsnummern. Die Abklärung betreffend der Rasse hat auch nur ergeben, dass praktisch die meisten Bauern in der Gegend genau diese Art Kühe in ihren Ställen haben. Er kam sich schon ziemlich merkwürdig vor, bei den Bauern die Fotos der toten Kühe rumzuzeigen und sie ernsthaft zu fragen, ob sie eine dieser Kühe kennen. Die meisten Bauern taten ihm zwar den Gefallen und betrachteten lange und ernsthaft die Bilder, aber keiner konnte zu den Kühen etwas sagen. Hinter seinem Rücken hörte er sie dann lachen.

Er hat Thommen und Lerch in das zentrale Registeramt geschickt, in dem über sämtliche Kühe des Landes Buch geführt wird. Sie sollen die Listen, die ihm jeder einzelne Bauer übergeben musste, mit den Eintragungen im Amt vergleichen. Viel wird da nicht herausschauen, das weiß Michel schon jetzt. Aber so ist er wenigstens seine Mitarbeiter für ein paar Stunden los, deren Anwesenheit er im Moment schlecht erträgt. Und er muss sich nicht ihre dummen Vorschläge zu diesem dummen Fall anhören, in dem er feststeckt wie ein Schuh in der Kuhscheiße. Das letzte Wort wiederholt er einige Male laut vor sich hin. Sehr laut.

Auf der gleißenden Goldfläche entdeckt er jetzt ein Boot. Von hier oben sieht es winzig aus und die blutrote Wasserfläche reflektiert so stark, dass er nur mutmaßen kann, ob es sich um eines der kleinen Kursschiffe handelt oder um eine private Yacht. Wahrscheinlich um ein Kursschiff, denn wer würde freiwillig bei dieser Hitze aufs Wasser fahren, zumal absolute Windstille herrscht. Ihn würden sowieso keine zehn Pferde auf so ein schwankendes Schiff bringen, egal ob mit Wind oder ohne. Die feste Erde unter den Füßen ist ihm da tausendmal lieber. Überhaupt diese verfluchte Sucht alles zu befahren, alles zu besteigen, in alles hineinzukriechen, zu fliegen, zu tauchen … die Menschen spinnen doch. Hat er nicht letzthin in einem sehr weisen Buch gelesen, dessen pessimistische Grundhaltung gerade so recht seiner eigenen Lebenssituation entsprach, dass alles Unglück in dem Augenblick beginnt, da man sich entschließt, sein Bett zu verlassen, statt sich die Decke über den Kopf zu ziehen und weiterzuschlafen?

Er wäre heute Morgen auch besser im Bett geblieben.

Dies ist nicht mein Tag, sagt er leise und greift nach dem Zündschlüssel. Da entdeckt er am südwestlichen Horizont einen winzigen Punkt am Himmel, der sich erstaunlich schnell vergrößert. Er zögert mit dem Starten des Motors.

Es ist ein Helikopter. Der Pilot nimmt offensichtlich Kurs auf den See. Jetzt kann man sehen, dass der Helikopter an einem langen Seil irgendeinen Gegenstand transportiert. Der Helikopter hat mittler-weile die Mitte des Sees erreicht und geht zügig tiefer, auf die Wasseroberfläche zu. Michel lehnt sich zurück.

Was zum Teufel? Was treibt der denn?

Einen Augenblick später begreift er, dass das nicht irgendein Behälter ist, der da unter dem Helikopter hängt, sondern dass es sich um eine Art überdimensionierten Wassereimer handelt, der jetzt eben ins Wasser getaucht und gefüllt wird. Da wird Michel klar, dass der Helikopter hier Wasser holt, um ein Feuer zu löschen. Und tatsächlich hat er im Radio gehört, dass weiter unten im Welschland ein Wald brennt.

Na ja, kein Wunder bei der Hitze.

Er dreht entschlossen den Zündschlüssel.

Im Moment, da er den ersten Gang einlegt, kommt ihm der Gedanke. Vor Schreck lässt er die Kupplung zu schnell los und würgt den Motor ab.

Scheiße! Mit dem Helikopter! Auweia, das ist die Lösung! Die haben die Kühe mit dem Helikopter transportiert! Oder?

Da ihm niemand antwortet, wischt er sich mit einer seiner heiß geliebten Windeln den Schweiß vom Gesicht und nickt dabei heftig mit dem Kopf, als ob er sich in einem lächerlichen Rollenspiel selber eine Bestätigung geben möchte.

An den erschlagenen Kühen hatte man nämlich keinerlei Schleifspuren entdeckt, was bislang rätselhaft war. Denn wären die Kühe mittels der gängigen Transportmöglichkeiten, die – sagen wir mal – einem gewöhnlichen Bauern zur Verfügung stehen, transportiert worden, ginge so ein Transport vom Tatort bis zum See ganz sicher nicht ohne Schleif- und Kratzspuren ab. Aber mit einem Helikopter sieht die Sache ganz anders aus. Die Kuh wird auf ein am Boden ausgebreitetes Transportnetz geführt, dort erschlagen und das Netz wird samt Inhalt an den Helikopter gehängt.

Nachtflug zum See … ausklinken … wegfliegen … und fertig ist die Lauge! Das Letzte spricht Michel EINS wieder laut, worauf Michel ZWEI erneut energisch nickt.

Oh, jetzt krieg ich euch, ihr Schweine. Ihr verfluchten Kuhmörder. Ihr Schweine, ihr.

Wieder dreht Michel den Schlüssel, gibt aber vor Aufregung zu viel Gas – und der Motor säuft ab. Nach mehreren erneuten Startversuchen ist die Batterie am Ende, denn der gute Michel hat viel zu lange bei ausgeschaltetem Motor die Klimaanlage laufen lassen. Die Flüche, die jetzt erklingen, hört zum Glück niemand, denn auf die Anhöhe, wo das Michel’sche Auto steht, verirren sich Ausflügler höchstens an Wochenenden.

Was jetzt folgt, hasst Michel am allermeisten. Er muss einen seiner Blödmänner anrufen und um Hilfe bitten. Lerch oder Thommen – je nachdem, wer zufälligerweise sein Mobiltelefon gerade einmal nicht vergessen hat. Schwer seufzend greift er nach seinem. Im Moment, da seine Hand in die Leere greift, fährt ihm die Erkenntnis wie ein heißer Strahl ins Hirn, dass er das Telefon in seiner Wohnung hat liegen lassen. Angeschlossen an den Stromkreis seines kleinen Appartements, da er beim Aufstehen erst bemerkt hatte, dass der Akku leer war.

Wäre ich nur im Bett geblieben … quod erat demonstrandum!

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9783857919459
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