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Wissenschaft kommunizieren: Von der Demonstration zur Partizipation

Wenn eine Professorin einen Tweet mit Link zu einem ihrer Paper oder in einer Zeitung einen Artikel veröffentlicht, wenn die Kommunikationsstelle einer Universität eine Medienmitteilung publiziert oder den Kurzfilm zu einem neuen Labor auf YouTube hochlädt, wenn ein Massenmedium über ein neues Forschungsresultat oder die Verleihung eines Wissenschaftspreises berichtet, wenn schliesslich Forschende sich mit anderen Forschenden oder mit Laien über ihre Arbeit unterhalten: Dann werden in der einen oder anderen Weise Wissenschaft und Wissen vermittelt und – kommuniziert. Die Wissenschaftskommunikation ist in vieler Munde, der Begriff deckt ein weites Feld ab. Er ist also unscharf. Wer sich mit anderen über Wissenschaftskommunikation unterhält, kommt nicht umhin, den Begriff zu klären. Zuweilen wird er gar mit Kommunikationswissenschaft verwechselt: Dann ist die babylonische Verwirrung garantiert. Der Begriff fordert von seinen Benutzerinnen und Benutzern also definitorische Klärung ein, mithin kommunikatives Handeln im Sinne des Sozialphilosophen Jürgen Habermas: Was meinen wir und warum, wenn wir zu anderen von Wissenschaftskommunikation reden?2

Der Kommunikationswissenschaftler Mike S. Schäfer, eine der führenden Stimmen an der Forschungsfront zur Wissenschaftskommunikation, hat folgende Definition aufgestellt: «Wir verstehen Wissenschaftskommunikation als alle Formen von auf wissenschaftliches Wissen oder wissenschaftliche Arbeit fokussierter Kommunikation, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der institutionalisierten Wissenschaft, inklusive ihrer Produktion, Inhalte, Nutzung und Wirkungen.»3 Die Definition besagt, dass sowohl interne und externe, also nach aussen gerichtete Wissenschaftskommunikation, als auch Wissenschaftsjournalismus, Wissenschafts-PR und schliesslich auch Wissenstransfer und Wissenskommunikation zur Wissenschaftskommunikation zählen. Kurzum: Alles, was kommunikativ irgendwie mit Wissenschaft zu tun hat, fällt unter Wissenschaftskommunikation, selbst die Versuche der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ihr Wissen nicht nur einem breiteren Publikum, sondern auch fachfremden Kollegen näherzubringen.

Diese Definition geht zu weit. Wenn fast alles Wissenschaftskommunikation ist, verschwinden die Grenzen und ist am Ende fast nichts mehr Wissenschaftskommunikation. Der Makel der Definition besteht nicht zuletzt darin, die Unterschiede zwischen erstens den Texten und Produkten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zweitens der Public Relations und drittens des Wissenschaftsjournalismus zu verwischen. Die drei Felder unterscheiden sich kategorial. Die verschiedenen Akteure, nämlich die Wissenschaftlerin, der für ein Massenmedium arbeitende Wissenschaftsjournalist und die Wissenschaftsjournalistin, die in einer Hochschulkommunikationsabteilung angestellt ist, haben je unterschiedliche Kommunikationsmotive und -interessen. Daher sind ihre Äusserungen voneinander abzugrenzen. Als Wissenschaftskommunikation bezeichne ich nur die Anstrengungen öffentlicher – theoretisch: auch privater –, sich mit Wissenschaft und Forschung beschäftigender Institutionen, die Öffentlichkeit über ihre Tätigkeiten und Resultate zu informieren, die klassische PR eben.

Die Wissenschaftskommunikation ist mit den PR und dem Marketing Teil der Corporate Communication, der Unternehmenskommunikation einer Institution. Während Letztere sich mit der internen und externen Kommunikation von allem Möglichen beschäftigt, etwa dem Budget, der Strategie, Personalia und Kooperationen – und diese Kommunikation erfolgt selbstredend im Interesse der Institution –, kümmert sich die Wissenschaftskommunikation nur um die Wissenschaft und Forschung der Institution, traditionell um deren Resultate. Dem Begriff eignet ein Moment neutraler Vermittlung und Übersetzung: Die Wissenschaftskommunikation informiert die Öffentlichkeit zwar nicht unabhängig, aber sachlich korrekt über das Tun der Forschenden. Sie sagt wertfrei, was Sache ist, und gilt als das Gegenteil von Fake News. Dass sie Teil der PR ist, der beispielsweise auch das Marketing unterstellt ist, geht oft vergessen.

Die Grenzen zwischen Wissenschaftskommunikation, PR und Marketing sind fliessend. Wenn etwa die Kommunikationsabteilung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) Studierende, oder wenn eine Hochschule Maturanden mittels der Berichterstattung über Wissenschaften dafür begeistern will, künftig vom Angebot der Institution Gebrauch zu machen, also sich um finanzielle Unterstützung zu bewerben oder ein Studium aufzunehmen, dann geht Wissenschaftskommunikation in das Marketing über und umgekehrt. Bezeichnenderweise ist in diesem Fall die Rede von «Kunden». Wenn aber die Hochschule mit passgenauen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken, etwa mit hübschen Stimmungsbildern vom Hauptgebäude der Institution, möglichst talentierte und wohlhabende Studierende aus dem Ausland akquiriert, um so ihre Stellung im Konkurrenzkampf zu verbessern, ist das nicht weniger Marketing, als wenn die Weiterbildungsabteilung mit Inseraten um zahlungskräftige Absolventen ihrer MAS-Kurse buhlt. Der Unterschied zwischen Marketing und Wissenschaftskommunikation ist den meisten Hochschulen bewusst: Ersteres ist Werbung und Reklame, Letztere vermittelt quasi objektiv Resultate. Selbst wenn die beiden Bereiche auf dem Organigramm der gleichen Einheit angehören, sind sie räumlich und organisatorisch getrennt – was natürlich nicht ausschliesst, dass die Wissenschaftskommunikation dennoch im Dienst des Marketings erfolgt.

Ebenfalls keine Wissenschaftskommunikation liegt vor, wenn etwa der SNF die Mitarbeiterinnen seines Generalsekretariats über seinen Betriebsausflug orientiert oder seine Beitragsbezüger über ein neues Gesuchsformular – nur schon aus dem simplen Grund, weil es nicht um wissenschaftliche Inhalte geht. Das rechtzeitige und korrekte Ausfüllen des richtigen Formulars mag, falls die Handlung eine finanzielle Unterstützung zur Folge hat, die wissenschaftliche Arbeit überhaupt erst ermöglichen oder erleichtern, hat aber mit Forschung nichts zu tun. Die Wissenschaftskommunikation der Kommunikationsabteilung adressiert traditionell die breite Öffentlichkeit, während die institutionelle Kommunikation sich oft nur an die interne Belegschaft richtet oder beispielsweise an den Auftrag- oder Finanzgeber. Die Ausdifferenzierung der Zielpublika der Kommunikation ist eine neuere Erscheinung; in ihren ebenfalls noch nicht weit zurückliegenden Anfängen hiess die «Communication» oder «Com» oft einfach Presseabteilung oder Pressedienst, weil die Massenmedien der mit Abstand wichtigste Adressat waren.

Die adressierte Öffentlichkeit der Wissenschaftskommunikation sind im Sinne Habermas’ die Bürgerinnen und Bürger, die sinnierend und diskutierend, also kommunikativ handelnd an der Demokratie teilhaben, ob sie nun die Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht. Auch wenn die Wissenschaftskommunikation aus der breiten Öffentlichkeit Teilöffentlichkeiten und Zielpublika herauspickt, die sie erreichen will – seien es die Jungen, die Alten oder die Wissenschaftsfernen –, wird sie die Allgemeinheit, die Res publica, nicht ausschliessen, im Gegenteil. In diesem Punkt treffen sich Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus. Stets hat die Wissenschaftskommunikation ihren Informationsauftrag vor Augen: Sie soll die Bürgerinnen und Bürger befähigen, informiert über die Belange des Gemeinwesens zu streiten und fundierte Entscheide zu treffen. Öffentliche Hochschulen oder Forschungsförderungsinstitutionen sind in der Regel gesetzlich verpflichtet, die Öffentlichkeit über ihre Tätigkeiten zu informieren.

Das Universitätsgesetz des Kantons Neuenburg etwa legt fest, dass die Universität durch die Vermittlung ihrer Forschungsresultate dazu beitrage, den Wissensstand der Gesellschaft zu vergrössern (Art. 2, Abs. 3). Der SNF verpflichtet sich in seinen Statuten, dass seine Geschäftsstelle «für die Valorisierung der Förderungstätigkeit […] und für eine wirkungsvolle Kommunikation mit der Öffentlichkeit» sorgt (Art. 27 d).4 Doch selbst wenn die Institutionen gesetzlich nicht dazu verpflichtet wären, würden sie die Informationstätigkeiten ohnehin unterhalten – im Eigeninteresse. Heute betreibt jede Wissenschafts- und Forschungsinstitution eine mehr oder weniger ausgefeilte Kommunikation und Wissenschaftskommunikation. Und auch wenn diese anders als das Marketing nichts verkauft und um keine Kundinnen wirbt, läuft sie letztlich und implizit auf Imagepflege, Reputationsaufbau und mehr oder weniger erfolgreiche Werbung in eigener Sache hinaus.

Die Wissenschaftskommunikation der Institutionen kann unterschiedlich ausfallen: Sie kann übertrieben sein, sachlich, marktschreierisch, akademisch, poppig, angemessen und so weiter – aber immer wird sie darauf bedacht sein, ihre Institution nicht in einem nachteiligen Licht erscheinen zu lassen. Dies ist das Grundgesetz der Wissenschaftskommunikation, die Teil der PR ist. Sie ist Wissenschaftspromotion. Und sie wird nie dem Willen, den Absichten und Resultaten der Forschenden widersprechen: Sie steht in deren Diensten, sie ist deren Dienstleisterin. In diesem Punkt unterscheiden sich Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus. Wenn der Wissenschaftler findet, dass die Wissenschaftskommunikatoren seine Forschung falsch oder trivial darstellen, werden diese die Darstellung den Wünschen des Wissenschaftlers anpassen – selbst wenn sie überzeugt sind, dass ihre Darstellung verständlicher, adäquater, publikumsgerechter sei. Die Wissenschaftskommunikation ist abhängig nicht nur von der Institution, sondern auch von der Wissenschaft – anders als der Wissenschaftsjournalismus. Wissenschaftskommunikation erfolgt durch Wissenschaftskommunikatoren. Studiengänge in Wissenschaftskommunikation bestehen bis heute allerdings kaum. Sie ist also historisch nicht verwandt mit der Ausbildung in Corporate Communication oder PR. Meist wird die Wissenschaftskommunikation von Leuten betrieben, die aus dem Journalismus oder dem Wissenschaftsjournalismus kommen und idealerweise wissen, wie Forschung funktioniert, also ein Hochschulstudium absolviert oder sogar selbst geforscht haben.

Wenn eine Wissenschaftlerin an ihrer Universität eine Vorlesung hält, ist das noch keine Wissenschaftskommunikation, sondern wissenschaftlicher Diskurs, egal wie verständlich, unverständlich oder exzellent diese Vorlesung auch sein mag. Wenn aber die Wissenschaftlerin ihre Vorlesung in einem Text verdichtet, der auf der Webseite der Kommunikationsabteilung erscheint, ist dies Wissenschaftskommunikation, weil der wissenschaftliche Diskurs den Filter der Kommunikationsabteilung passiert hat. Selbst wenn der Text in der Kommunikationsabteilung nicht verändert wurde: In den Augen des Wissenschaftssystems hat er an wissenschaftlicher Qualität verloren. Man rezipiert die verschriftlichte Vorlesung nicht mehr als reine Wissenschaft, da sie nun im Dienst der PR steht. Und das tut sie tatsächlich. Ein auf der Webseite der Universität publizierter Text eines Wissenschaftlers wird weder Kritik an der Universität noch an Fachkollegen enthalten, auch nicht an solchen einer anderen Schweizer Hochschule. Denkbar hingegen ist, dass eine solche Kritik im Seminar geäussert wird. Die PR schränkt die Äusserungsmöglichkeiten des Wissenschaftlers ein.

Wenn eine Professorin sich nicht an ihre Fachkollegen wendet, sondern mit einem Vortrag an ein nicht wissenschaftliches Publikum, handelt es sich nicht um Wissenschaftskommunikation, weil erstens keine Wissenschaftskommunikatorinnen und zweitens die Institution nicht involviert sind. Wenn Wissenschaftler die Öffentlichkeitsarbeit selbst übernehmen, also sich explizit an ein breites, nicht wissenschaftliches Publikum wenden, spreche ich von Wissenschaftspopularisierung. Als Beispiel ist die Kinderuniversität zu nennen: Wissenschaftler lassen sich möglicherweise von den Wissenschaftskommunikatorinnen ihrer Hochschule oder von Experten für Social Media schulen, treten aber selbst in Kontakt mit den kleinen Kundinnen. Das heisst: Der Wissenschaftler will seine Arbeit aus einem letztlich aufklärerischen Impetus unter das Volk bringen, auch wenn Eigeninteresse oder narzisstische Motive ausschlaggebend sein können. Er will sein Wissen mitteilen; welche Rolle dabei seine Institution spielt, ist ihm egal. Er will sie nicht legitimieren und denkt dabei nicht an ihren Ruf. Und er denkt wohl auch nicht an seine Fachkollegen.

Die Wissenschaftspopularisierung ist mit der Wissenschaftskommunikation und dem Wissenschaftsjournalismus verwandt. Wenn der Wissenschaftskommunikator Wissenschaft kommuniziert, popularisiert er auch, aber der Unterschied bleibt bestehen: Er berichtet über etwas, das er nicht selbst produziert hat, und er berichtet im Interesse der Institution. Die Tätigkeit der Wissenschaftsjournalistin hat auch einen kommunikativen Aspekt, aber sie ist keine PR, sondern eben: Journalismus. Und das heisst definitionsgemäss: subjektiv, investigativ, provokativ, kritisch. Historisch betrachtet geht die Wissenschaftspopularisierung dem Wissenschaftsjournalismus und der Wissenschaftskommunikation voraus. Angesichts des beeindruckenden Aufstiegs der Wissenschaftskommunikation in den letzten beiden Jahrzehnten geht oft vergessen, dass nicht sie die Erfinderin der Vermittlung akademischen Wissens an ein nicht wissenschaftliches Publikum ist. Die Wissenschaftspopularisierung existierte bereits im 18. und 19. Jahrhundert, als es noch keine Kommunikationsexperten gab.

VERGESSENE ANFÄNGE

Schon die Naturforscher des 17. Jahrhunderts wandten sich nicht nur an ihresgleichen, sondern auch an ein interessiertes Publikum. Man unterschied kaum zwischen Wissenschaftlern und Laien – die Trennung bestand noch nicht, weil es weder ein ausdifferenziertes Wissenschaftssystem noch eine eigentlich bürgerliche Öffentlichkeit gab. Die ersten Zuschauer der Demonstrationen der Wissenschaftler waren die höfische Gesellschaft und der Adel. Die Forscher suchten dieses Publikum, weil dessen Status ihren Experimenten Glaubwürdigkeit verlieh. So wohnten den Versuchen des englischen Naturforschers Robert Boyle «Gentlemen» bei, und auch «Galileis Erkenntnisse [bedurften] der Patronage des Grossherzogs der Toskana, um ‹epistemologische Würde› zu erlangen», wie der Wissenschaftssoziologe Peter Weingart schreibt.5

Im 18. Jahrhundert weitete sich das Publikum aus, zumal zahllose Amateurwissenschaftler die Bühne betraten. Öffentliche Demonstrationen von Experimenten mit Überraschungseffekten und Unterhaltungswert bezogen das Publikum mit ein: im vornehmen Salon, in der Akademie (die der Universität vorausging), im Hörsaal der Universität, im Kaffeehaus, vor der Jahrmarktsbude und zunehmend auch in den Zeitschriften. Eine bürgerliche Öffentlichkeit entstand. Sie liess sich von den Wissenschaften verblüffen und war für diese eine Garantin der Wissenschaftlichkeit. Ohne Publikum hätten die Wissenschaften keine Gewähr gehabt, dass sie valide waren. Und sie wollten ihr Publikum nicht nur belehren oder aufklären, sondern auch amüsieren und unterhalten. Diese zwei Aspekte einer wissenschaftskommunikativen Beziehung sollten bis zur Jahrtausendwende fast vollständig verschwinden.

Im 19. Jahrhundert veränderte sich das Feld der Wissenschaften: Mit neuen Akademien, Universitäten, technischen Hochschulen, Experimentierräumen und Labors entstanden spezielle Orte, an denen wissenschaftliches Wissen gelehrt und produziert wurde. Sie waren nicht für ein Publikum gedacht. Die neuen naturwissenschaftlichen Präzisionsinstrumente mussten von ihm abgeschottet werden, da seine Anwesenheit die Messresultate verfälscht hätte. Das Forschungsphänomen wurde nicht mehr unmittelbar demonstriert, sondern nachträglich mit mittelbaren Darstellungen bezeugt, insbesondere mit Texten. Auszunehmen von dieser Entwicklung sind die Geisteswissenschaften: Ihre Spezialisierung hat sie nie im gleichen Masse von der Öffentlichkeit entfernt wie die Naturwissenschaften. Viele prominente Historiker, Philosophen und Literaturwissenschaftler waren immer in Kontakt mit einer zumindest bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit, die ihre Werke rezipierte. Insbesondere die Historiker standen Staat und Gesellschaft nahe, indem sie diese mit Nationalgeschichten versorgten.

Die Kommunikation der Wissenschaft spaltete sich laut Weingart im 19. Jahrhundert auf: Die primäre Kommunikation richtete sich via Fachjournale an die Fachkollegen und die «Scientific Community». Allmählich bildeten sich disziplinäre Fachsprachen aus. Daneben entstand die Wissenschaftspopularisierung hauptsächlich der Naturwissenschaften: der Biologie, Zoologie, Botanik, Geologie und Astronomie. Die «Popularisierer» oder «Popularisatoren», wie sie hiessen – Naturwissenschaftler, Schriftstellerinnen, zunehmend Journalisten –, wandten sich zunächst an das gebildete Bürgertum, das sich in Lesegesellschaften und Vereinen organisierte. In der Schweiz nahm die Zahl der Vereine fast explosionsartig zu, wie der Historiker Hans Ulrich Jost gezeigt hat: Sind für das Jahr 1810 etwa fünfzig Vereine bekannt, rechnet er für das Jahr 1910 mit knapp 1200.6 Wie viele davon sich mit Wissenschaften beschäftigten, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich hatte aber jeder Kanton seine eigene Naturforschende, Antiquarische oder Historische Gesellschaft und ähnliches mehr.

Man besuchte Sternwarten, botanische Gärten und Museen, man las populäre Zeitschriften und Magazine. Wissenschaftliches Wissen galt als nützlich, unterhaltsam und spannend, wobei die Aufklärung der Laien stets ein Vermittlungsmotiv blieb. Es ist paradox: Das bürgerliche Publikum, das sich für Wissenschaften interessierte, trug zu deren Verselbstständigung in einer autonomen Sphäre bei, schreibt der Historiker Andreas W. Daum.7 Doch die beiden Sphären, die wissenschaftliche und die gesellschaftliche, waren nie ganz getrennt. In den Vereinen etablierte sich zum Beispiel der populärwissenschaftliche Vortrag, der ein breites Publikum adressierte. Vorträge wurden nicht nur von enthusiastischen Amateurwissenschaftlern gehalten, sondern auch von Professoren, die für ihre Ausführungen ein Honorar erhielten. Die Ausrichtung am Publikumsgeschmack war erwünscht, wie Daum zeigt. In Hamburg etwa bat man den deutschen Physiologen Emil du Bois-Reymond, damals einer der prominentesten Wissenschaftler überhaupt, seinen Vortrag etwas zu «colorieren», worauf er ihm einen neuen Titel verlieh: «Warum müssen wir für unser tägliches Brot beten, und was versteht die Physiologie unter täglichem Brote?»8 1899 schrieb der ebenfalls prominente Zoologe und Darwinist Ernst Haeckel im Vorwort der siebten Auflage seines populärsten Buches «Die Welträthsel»: «Die vorliegenden Studien sind […] für die denkenden, ehrlich die Wahrheit suchenden Gebildeten aller Stände bestimmt.»9

Die lebhafte Wissenschaftspopularisierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts widerlegt das Klischee der traditionell abgehobenen Professorenschaft im Elfenbeinturm.10 Natürlich bezeichneten manche Akademiker die Popularisierung als Wissenschaftstrivialisierung. Wenn der kollegiale Druck zu gross wurde, griffen die Popularisierer aber auch selbst auf das Argument zurück: Ihre Popularisierung sei seriös im Gegensatz zu den unseriös-trivialen Popularisierungen. Doch namhafte Professoren waren sich nicht zu schade, die Integration der Wissenschaften in die bildungsbürgerliche Kultur voranzutreiben. Der Markt für populärwissenschaftliche Medien expandierte massiv: von Zeitschriften und Büchern über Vorträge bis hin zu Ausstellungen in Museen. In Deutschland wurden um 1700 rund 60 solcher Zeitschriften herausgegeben; 1790 waren es bereits über 700, 1875 fast 2000, 1914 schliesslich knapp 6500. Ging es in den populärwissenschaftlichen Periodika zunächst noch um den «ästhetischen, aufklärerischen und philosophischen Genuss der ‹Einheit der Natur›», wie die Historikerin Barbara Orland schreibt, wurden Naturwissenschaft und Technik «als entscheidender Motor für den Fortschritt präsentiert», der sich in beeindruckenden Errungenschaften manifestierte: Eisenbahn, elektrischer Antrieb und Beleuchtung, Telegraf. Das heisst: Der Nutzen gewann an Bedeutung.11

Für die Schweiz hat der Historiker Jon Mathieu die medizinischen Periodika des 19. Jahrhunderts untersucht, die sich um die «Volksgesundheitspflege» kümmerten.12 Ein Arzt und Politiker schrieb in den 1880er-Jahren: «Eine grosse Aufgabe in der hygienischen Aus- und Fortbildung des Volkes fällt der Presse zu, die durch eine derartige eingreifende Thätigkeit mehr Nutzen stiften könnte als durch politische und confessionelle Zänkereien.»13 Zwischen 1850 und 1900 erschienen knapp 3000 Artikel zu medizinisch-hygienischen Themen in populären Zeitschriften, und es wurden fast 300 neue Unterhaltungs- und Belehrungsblätter gegründet. Die meisten Artikel widmeten sich den Themen Gesundheit und Sauberkeit, zunehmend auch dem Äusseren des Körpers und der häuslichen Umgebung. Die Mehrheit der Artikel wurde von den universitären Zentren und ihrem Umfeld angeregt. Die Verfasser und die in den Texten genannten Personen trugen häufig akademische Titel und gaben sich durch ihren Beruf als Fachmänner zu erkennen, als Ärzte, Naturforscher und Chemiker. Oder sie konnten dem wachsenden Kreis eines halbwissenschaftlichen Journalismus zugeordnet werden. Oft druckten die neuen Unterhaltungs- und Belehrungsblätter Artikel aus Fachblättern ab. Wie Mathieu hervorhebt, versuchte man, die Form des populären Mediums zu beachten: Man präsentierte die wissenschaftlichen Stoffe so, dass Laien sie verstehen konnten und sie vielleicht sogar unterhaltsam fanden. Die Artikel adressierten zwar oft die stetig wachsende Arbeiterschaft und die Unterschichten – in der drängenden Überzeugung, diese hätten die Aufklärung besonders nötig: «Die Armen und Lohnabhängigen waren prädestiniert für Krankheit und Schmutz und wurden vielleicht nicht ungesünder, bestimmt aber dreckiger», schreibt Mathieu.14 In Wirklichkeit erreichten sie aber oft nur die bürgerlichen Schichten. Die Zeitschriften kursierten weder in der Arbeiterschaft noch im Kleinbürgertum.

Viele Artikel fallen durch ihren praktischen Inhalt auf, sie beschreiben beispielsweise Heilmittel oder Reinigungsverfahren. Wissenschaftliche Theorien und Methoden indes werden nicht erläutert. Dennoch wird immer wieder betont, man befinde sich im «naturwissenschaftlichen Zeitalter». So lautete auch der Titel einer Rede, die der Erfinder und Industrielle Werner Siemens 1886 an der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Berlin hielt – und «welche via ‹Alpenhorn› auch im Emmental zu vernehmen war, wo sie ‹jedem Leser zu ernstem Nachdenken› empfohlen wurde».15 Der angestrebte Wissenstransfer funktionierte jedoch nicht wunschgemäss. Die populären Medien liessen sich nicht kontrollieren und instrumentalisieren, so wie es den Akademikern vorschwebte, sondern entwickelten eine primär den Absatz im Auge behaltende Autonomie, und die ausserakademische Medizin mit ihren zivilisationskritischen Idealen der Harmonie und Naturheilkraft verschaffte sich immer wieder Gehör. Wiederholt wurde auch Kritik an den Ärzten und der neuen Wissenschaft der Hygiene laut. Ein «volkstümliches Echo auf diese Art des Wissenstransfers gab der bekannte Reim, welcher die ‹Moderne Wissenschaft› als Haarspalterei und akademisches Gezänk persiflierte und 1890 im aufgeschlossenen ‹Familien-Wochenblatt› aus Zürich abgedruckt wurde», so Mathieu: «‹Der Erste hat das Haar gespalten, Und einen Vortrag darüber gehalten; Der Zweite fügt es neu zusammen, Und muss die Ansicht des Ersten verdammen; Im Buche des Dritten kann man lesen, Es sei nicht das richtige Haar gewesen.›»16

Ein wichtiges Argument für die Popularisierung wissenschaftlichen Wissens war der Hinweis auf die öffentliche Bedeutung der Wissenschaften. Die akademische Medizin, so wurde immer wieder erklärt, leiste einen erheblichen Beitrag zum Wohlstand, zur Wehrkraft, zur Bildung und Sittlichkeit von Volk und Nation sowie zur Lösung der sozialen Frage und Versöhnung der politischen Gegensätze. Doch die Realität sah anders aus: Oft trug die Wissenschaftspopularisierung nicht weiter zur «Entzauberung der Welt» bei, wie es der Soziologe Max Weber formuliert hat, sondern im Gegenteil zu ihrer Wiederverzauberung. Die Popularisierer verpackten naturwissenschaftliche Erkenntnisse publikumsgerecht und reicherten sie mit Spiritismus, Anthropomorphismus und Kosmologischem an – keine Spur von Atheismus und nüchternem Naturverständnis. Die Popularisierung vereinigte im Verständnis der Zeit das fachliche wie künstlerische Talent ihres Autors, strebte bei der Materialauswahl keine fachliche Vollständigkeit an, explizierte weder Methode noch Erkenntnisgang, setzte auf Anschaulichkeit, bevorzugte das Medium Sprache – Bilder fanden kaum Verwendung –, gestaltete diese dichterisch und vermied Fachtermini.

Nicht zu vernachlässigen ist der politisierte Kontext. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschte Zensur, die von der Kirche mitgetragen wurde. Diese beäugte den Darwinismus argwöhnisch. Darwinisten und Antidarwinisten bekämpften sich. Die Faszination für die Naturwissenschaften stiess bei Staat und Kirche auf Vorbehalte. Diese verteidigten den neuhumanistischen Bildungsbegriff. Schliesslich emanzipierten sich die bürgerlichen Milieus, in denen die popularisierten Wissenschaften kursierten: Sie befreiten sich von der obrigkeitlichen Bevormundung. Nicht zuletzt dieser politisierte Kontext gab der Wissenschaftspopularisierung gesellschaftliche Relevanz, auch wenn deren Ausrichtung letztlich eine das Publikum versichernde Note aufwies: Die ästhetisierenden und emotionalen Berichte über das Naturganze ermöglichten die gefahrlose Identifikation mit den Naturwissenschaften. Die Popularisierer griffen Themen auf, die das bürgerliche Publikum bewegten, aber nicht beunruhigten.

Dies belegen die zahlreichen Vereine. Sie boten nicht nur Vortragenden einen Rahmen, sondern praktizierten eine frühe Form von «Citizen Science», von bürgergestützter Wissenschaft. Hier kamen die an den Wissenschaften interessierten Bürger, die besonders in Kleinstädten, die keine Universität oder Akademie besassen und eine wichtige Rolle bei der Verbreitung wissenschaftlichen Wissens spielten, in Kontakt mit Botanikern und Zoologen. Für die Deutschschweiz hat der Historiker Tobias Scheidegger gezeigt, wie die Kleinstädter, in der Regel unterstützt von der im Hintergrund wirkenden Gattin, dem Naturmuseum vorstanden, die naturschützenden und die Natur erforschenden Vereine präsidierten und als Biologielehrer an der Kantonsschule wirkten.17 Ihre Wissenschaft war so materialreich wie theoriefern, und das wussten sie: In Selbstbescheidung nannte einer sein Tun «petite science». Die Männer standen nicht bloss mit den professoralen Grössen an den Hochschulen in Kontakt und waren untereinander verbunden, sondern auch mit den Dorfschullehrern in den Gemeinden. Diese unterstützten sie beim Sammeln und lauschten an den Jahresversammlungen ihren Ausführungen. Man tauschte Käfer, informierte über Fundorte, schickte einander Zeitschriften zu, ging auf Exkursion. An diesem Wissensmilieu partizipierten viele Laien. Das naturkundliche Dispositiv mit seinen Diskursen und Institutionen, seiner Architektur und Moral brach nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander.

Die Wissenschaftspopularisierung war zunächst ein bürgerliches Phänomen. Ab der Jahrhundertwende entstand parallel dazu eine proletarische Wissenschaftspopularisierung, ebenfalls in Vereinen und via Zeitschriften. In Wien und Berlin wurden Arbeiterbildungsvereine gegründet, allen voran die Berliner Gesellschaft Urania. Der Nationalökonom Otto Neurath, Austromarxist und Mitglied des Wiener Kreises, entwickelte für die Arbeiterinnen und Arbeiter eine Darstellungslehre für die verständliche Präsentation komplexer Sachverhalte in statistischen Bildern.18 Selbst Analphabeten sollten nach dem Besuch der Kurse imstande sein, auf wissenschaftlicher Basis argumentieren zu können: gegen Metaphysik, Ideologien, Religion und Pseudorationalismus. Die Arbeiterschaft sollte von ihren falschen Idolen befreit für die Verbesserung ihrer Lebensumstände auf wissenschaftliches Wissen zurückgreifen können. Der Sozialismus sah für die Wissenschaften eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der klassenlosen Gesellschaft vor. Anders als in der bürgerlichen Wissenschaftspopularisierung kam hier den Wissenschaften keine affirmative Funktion zu. Sie sollten dazu beitragen, die herrschende Ordnung zu stürzen.

Erst die Katastrophe des Ersten Weltkriegs dämpfte die Fortschrittseuphorie. Die Bevölkerung wurde gewahr, dass die Wissenschaften und insbesondere die Technik zerstörerische Seiten haben. Ab den 1920er-Jahren verlor die Wissenschaftspopularisierung ihre Stellung, die sie seit dem 18. Jahrhundert genossen hatte. Das Wissenschaftssystem bildete ein negatives Bild der Öffentlichkeit aus: Diese sei unwissend und wissenschaftlich ungebildet, die Bürgerinnen und Bürger ohnehin desinteressiert. Die Wissenschaftler sprachen der massendemokratischen Öffentlichkeit die Fähigkeit ab, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen. Die Popularisierung der Wissenschaft wurde «von Seiten der Wissenschaftler nurmehr als überflüssig und störend angesehen sowie inhaltlich als ‹Verunreinigung›», schreibt Weingart.19 Ein Wissenschaftler, der sich in die Niederungen der Popularisierung begab, der also einem Laienpublikum in einfachen Worten zu erklären versuchte, was er im Labor tat, schadete seinem Ruf. Die Kollegen belächelten und verachteten ihn. Wer in einem Massenmedium publizierte, galt bald schon als «Simplifizierer», der die komplexe Forschungsarbeit scheue. Wer Wissenschaft popularisiere, hiess es, habe den Anspruch aufgegeben, an der Forschungsfront zu wirken.

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