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8. Kapitel

Sabine Thelen öffnete die Tür ihres Kühlschranks und starrte hinein. Ihr Magen knurrte, aber sie konnte sich nicht aufraffen, eine der Tupperdosen zu öffnen, die ihre Mutter eingepackt hatte, und das Essen warm zu machen.

Für einen kurzen Augenblick überlegte sie nach Oppum zu ihren Eltern zu fahren, doch dort war sie vorgestern schon gewesen. Außerdem konnte sie den besorgten Blick ihrer Mutter nicht mehr ertragen.

»Isst du genug, Kind? Du siehst so dünn aus? Du arbeitest sicher zu viel. Komm, nimm dir noch ein Stück Kuchen. Soll ich dir auch Kuchen einpacken?« Sätze dieser Art kamen immer. Obwohl Sabine wusste, dass ihre Mutter es gut meinte, fand sie die Fürsorge übertrieben und konnte nur schlecht damit umgehen.

Ihre Katze maunzte und rieb sich dann schnurrend an Sabines Beinen.

»Du hast auch Hunger, nicht wahr?« Sabine füllte den Napf der Katze, sah dem Tier beim Fressen zu. Auf dem Küchenschrank stand eine Flasche Rotwein, den Sabine gestern geöffnet hatte. Sie nahm sich ein Glas, schenkte es voll. Dann ging sie auf den Balkon.

Schon seit einigen Jahren wohnte sie in der Dachgeschosswohnung eines Hauses in der Dürerstraße. Den Blick über die Gärten empfand sie als beruhigend, die Wohnung gut geschnitten. Trotzdem schaute sie immer mal wieder in die Zeitung, auf der Suche nach einer neuen Wohnung.

Vor zwei Jahren war ihr Lebensgefährte und Kollege bei einem Einsatz ermordet worden. Sabine hatte inzwischen fast alles von ihm weggegeben, aber die Erinnerungen blieben.

Das Schellen der Wohnungstür riss sie aus ihren Gedanken. Im Flur nahm sie den Hörer der Gegensprechanlage ab. Wer würde sie um diese Zeit besuchen? Wahrscheinlich waren es die Zeugen Jehovas.

»Sabine? Hier ist Oliver …«

»Komm hoch.« Verwundert drückte sie den Türöffner. Seine Schritte klangen laut in dem engen Treppenhaus. An der Tür blieb er stehen, sah verlegen auf den Boden.

»Ich wollte dich nicht stören …«

»Komm rein. Ist was passiert?«

»Ich habe versucht dich telefonisch zu erreichen …« Oliver stand immer noch an der Tür.

Sabines Handy lag auf dem Tischchen in der Diele. Sie warf einen Blick darauf. »Der Akku ist leer. Verflucht, ich hatte das Ding doch gerade erst aufgeladen.«

»Zeig mal.« Endlich trat Brackhausen in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. »Kann sein, dass der Akku kaputt ist. Da kannst du aufladen bis der Arzt kommt, das Ding ist sofort wieder leer. Hast du Ersatz?«

»Ja, irgendwo. Ich such nachher. Magst du ein Glas Wein?«

»Ein Bier wäre mir lieber.«

»Hab ich auch. Geh schon mal auf den Balkon.«

Oliver blieb am Geländer stehen. Er wischte sich über das Gesicht, schaute in die Gärten, ohne etwas wahrzunehmen. War es richtig gewesen, zu Sabine zu fahren? Die Kollegen hielten zusammen, waren wie eine Familie. Sie kannten sich in Ausnahmesituationen, manchmal kannten sie sich besser als der Partner zu Hause. Er hatte jemanden zum Reden gesucht und Sabine war ihm als Erstes eingefallen. Ohne großartig nachzudenken, war er zu ihr gefahren.

»Hier.« Sabine reichte ihm die Bierflasche. In der warmen Luft des Augustabends bildete sich sofort eine Kondensschicht auf der kalten Flasche. Oliver nahm sie, öffnete sie mit seinem Feuerzeug und trank einen großen Schluck. Er machte einen fahrigen Eindruck, wirkte unglücklich.

»Setz dich doch.« Sabine wies auf die Alustühle und den kleinen Bistrotisch. Sie zündete zwei Teelichter an, die dort standen.

»Vera hat Schluss gemacht.« Oliver lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer, trank noch einen Schluck.

»Wann?«

»Vor einer Stunde. Sie war gestern bei mir, wollte mit mir reden. Sie ist fertig mit ihrer Ausbildung und ich war der Meinung, dass sie sich hier oder in der Umgebung auf eine Stelle bewirbt. Will sie aber nicht. Sie will das Bundesland wechseln.«

»Oh, das ist gar nicht so einfach.«

»Nein, ist es nicht. Aber möglich. Ihr Traum, das hat sie mir gestern gesagt, war schon immer, am Meer zu wohnen.«

»Gestern? Ach. Ihr kennt euch schon knapp zwei Jahre und gestern erzählt sie dir ihren Lebenstraum?«

»Ich habe es auch erst nicht begriffen. Wir haben uns gestritten. Heute hat sie mir dann gesagt, wenn ich nicht mitgehe, dann war es das.«

»Ein Ultimatum?« Sabine schüttelte den Kopf. »Kannst du dir vorstellen, hier wegzugehen?«

»Keine Ahnung. Hat sich aber auch erledigt. Es war nur ein vorgeschobener Grund. Sie hat da oben jemanden kennen gelernt. Er arbeitet in Kiel.« Wieder trank Oliver. Diesmal leerte er die Flasche.

»Willst du noch eins?«, fragte Sabine.

Er nickte stumm.

Sabine holte das Bier, drückte es ihm in die Hand.

»Sie wollte gar nicht, dass ich mitkomme, suchte nur einen Aufhänger für einen Streit, einen Grund für die Trennung.«

»Miese Masche.« Sabine schluckte. Sie war nicht gut darin, andere zu trösten. »Hast du Hunger?«

»Hunger?«

»Ich wollte gerade kochen.« Sabine überlegte kurz. »Nudeln.«

»Klingt gut. Kann ich helfen?« Oliver folgte ihr in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er stützte die Arme auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.

Schweigend setzte Sabine Wasser auf. Ihr wollte nichts Tröstliches einfallen. Ein ›sei froh, dass du sie los bist‹ erschien ihr zu platt.

Schließlich setzte sie sich neben ihn und legte den Arm um seine Schulter. »Sei traurig. Du hast das Recht dazu. Dann sei wütend. Hasse sie, verdamme sie, trauere um sie. Irgendwann lässt der Schmerz nach.«

»Vermisst du Martin?«

»Nein«, log sie.

»Hast du noch ein Bier?«

»Eins oder zwei. Sonst nur Wein.«

»Ich nehme alles, was mich über die Nacht bringt.«

Zwei Stunden später deckte Sabine Oliver mit einer Wolldecke zu. Er hatte schon geschnarcht, bevor sein Kopf das Kissen auf dem Sofa berührte. Nur mit Mühe hatte sie ihn ins Wohnzimmer verfrachtet.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Das Licht schien in seinen Augen zu explodieren und seine Zunge klebte am Gaumen. Mühsam hob er den Kopf, drückte eine Hand gegen die Schläfe, hinter der es schmerzhaft pochte.

Er hatte Schwierigkeiten sich zu orientieren. Wo war er? Was war passiert? Stöhnend richtete er sich auf und kämpfte gegen die Übelkeit an. Er war nicht zu Hause, aber wo dann?

Nach und nach begriff er, dass er in Sabines Wohnung war. Die Erinnerung an den gestrigen Abend kehrte bruchstückhaft zurück. Er hatte Sabine sein Herz ausgeschüttet, weil Vera sich von ihm getrennt hatte. Sabine gab ihm Bier und später fand sie noch eine Flasche Ouzo. Seine Erinnerungen endeten in der Küche, wie er ins Wohnzimmer gekommen war, wusste er nicht.

Ihm wurde klar, dass es schon spät am Vormittag sein musste und er eigentlich im Dienst war.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Brackhausen stand auf, tastete sich an der Wand entlang zur Küche. Sein Mund war trocken und die Zunge wie Sandpapier. Der Nachdurst quälte ihn gewaltig. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel, daneben eine Packung Aspirin.

»Ich habe dich krankgemeldet. Im Badezimmer ist eine neue Zahnbürste. Gruß, Sabine.«

»Gott sei Dank«, murmelte er, beugte sich über die Spüle, drehte den Wasserhahn auf und trank.

9. Kapitel

Herbst 1939

»Liebe Mutti, …« Fritz saß an dem wackeligen Schreibtisch in dem Zimmer, das er sich mit Alfred Peerhoven teilte. Es war der dritte Versuch, seiner Mutter einen Brief zu schreiben. Zwei Bögen Papier lagen zerknüllt auf dem Boden.

»Liebe Mutti,

nun habe ich die Grundausbildung hinter mich gebracht. Es war eine gute Zeit, besser als die Monate davor beim Reichsarbeitsdienst. Keine Feldarbeit mehr, sondern Kopfarbeit. Natürlich haben wir auch Sport gehabt und mussten uns körperlich verausgaben. Marschieren mit voller Ausrüstung ist ganz schön anstrengend und die Geländeübungen und der Gefechtsdienst erst. Nur gut, dass du mir hin und wieder Pakete hast zukommen lassen. Die Speckseiten waren köstlich.« Er kaute an seinem Füller. Es gab so viel, was er hätte schreiben wollen, doch seine Eltern würden ihn nicht verstehen.

»Jetzt bin ich an der Offiziersschule in der Nähe von Hannover. Wünstorf, falls du auf der Karte nachschauen möchtest.

Ich habe mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Natürlich weiß ich, dass Vati und du gerne mit mir darüber gesprochen hättet. Ich weiß auch, dass Vati ärgerlich sein wird. Er hat mir sehr deutlich klar gemacht, dass er nichts von dieser Laufbahn hält, dass er mich lieber zu Hause hätte, damit ich das Geschäft übernehme. Nun sind die Zeiten aber nicht danach. Letzte Woche sind wir in Polen einmarschiert. Wir haben das schon lange geahnt, lange befürwortet. Es ist Krieg und wir werden ihn gewinnen. Meine Zukunft liegt in der Armee. In ein paar Monaten werdet ihr meine Entscheidung verstehen und begrüßen, da bin ich mir sicher.

Dies hier ist die Panzertruppenschule. Ihr habt richtig gelesen. Ich werde in den nächsten Monaten am Panzerspähwagen ausgebildet und ein Aufklärer sein.

Vielen Dank, Mutti, für die Zeitungsausschnitte. Mich interessiert natürlich sehr, was in der Heimat passiert. Zu gerne wäre ich am 9. November letzten Jahres dabei gewesen.

Einer meiner Kameraden war auf Sonderurlaub, da seine Mutter verstarb. Er hat mir vom Brand der Synagoge erzählt. Mann, was habe ich ihn beneidet.« Er las die letzten Sätze noch mal, überlegte, sie durchzustreichen. Sein Vater beschäftigte Juden in der Weberei. Darüber hatten sie schon oft heftig gestritten. »Ich sehe den Menschen und nicht seine Herkunft«, argumentierte sein Vater. »Sie sind fleißig und gut ausgebildet.« Fritz konnte darüber nur den Kopf schütteln.

»Ich habe jetzt einen Weg beschritten, um das Vaterland zu schützen. Seid stolz auf mich! Ich hoffe, dass ich die Ausbildung schnell schaffe und noch eine Chance habe, an der Front eingesetzt zu werden.

Heil Hitler

Euer Fritz.«

Noch einmal las er sich die Zeilen durch. Sein Vater, das war ihm schon lange bewusst, war ein Kleingeist. Er sah nicht das Große des Staates, sondern nur seine Weberei und den Tuchhandel. Er wollte Fritz an seiner Seite. Aber als kleiner Tuchhändler würde Fritz sein Leben nicht beenden.

Es lag eine knisternde Spannung über der Kaserne. Diejenigen, die schon länger dabei waren, hofften auf einen Einsatz. Fritz war klar, dass er noch lange nicht so weit war. Doch er würde sich alle Mühe geben, um schnell voranzukommen. Adolf war da anders. Er meinte, die Offiziersausbildung wäre ein Spaziergang. Er wollte keine Befehle entgegennehmen, er wollte sie geben.

Macht war die Triebfeder für Fritz. Davon war er besessen. Eigentlich hätte er nach der Grundausbildung Anspruch auf einen kurzen Heimaturlaub gehabt, doch diesen schlug er aus. Er wollte keine Zeit verlieren.

»Kommst du? Gleich gibt es Essen. Bin ja mal gespannt, ob die Kantine hier besser ist als in Stahnsdorf.« Auch Adolf war nicht nach Hause gefahren. Das lag aber an der zweiten Frau seines Vaters. Nach dem Tod der Mutter hatte Peerhoven eine Frau geheiratet, die so alt war wie sein Sohn. Adolf war voller Wut auf seinen Vater, seine Stiefmutter wollte er erst gar nicht sehen.

Fritz faltete den Briefbogen zusammen, steckte ihn in einen Umschlag, verschloss diesen sorgfältig.

»Na, haste Mami geschrieben?« Adolf grinste. Fritz wusste inzwischen, dass sein Freund die Gefühle hinter einer großen Klappe verbarg. Er hatte das Bild seiner Mutter immer dabei. Nachts, wenn er dachte, dass es niemand bemerkte, holte er es hervor.

»Ich habe ihnen meine Entscheidung mitgeteilt. Mein Vater wird sich aufregen. Aber in ein paar Wochen wird er es verstehen. Gibt es etwas Neues von der Front?«

»Lass uns runtergehen, dort ist ein Volksempfänger und wir können die neusten Nachrichten hören.«

Fritz stand auf, strich seine Uniform glatt. Er mochte das Schwarz mit den feinen rosa Paspelierungen. Es sah edel aus. Er nahm ein Zigarettenetui aus der Tasche, bot Adolf eine an. Er hatte das silberne Etui in Berlin gekauft, es glich dem Peerhovens.

»Danke.« Adolf riss ein Streichholz an, gab ihm Feuer. In dieser Stube zog es wenigstens nicht mehr so und auch die Heizung schien zu funktionieren. Überhaupt war alles besser als in Berlin, auch wenn sie hier ab vom Schuss waren.

Fritz folgte Adolf nach unten. Er war glücklich und zufrieden, sicher, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

10. Kapitel

»Wir haben eine arg dezimierte Mannschaft.« Sabine Thelen rieb sich über die Augen. »Fischer hat Urlaub, Ermter ist auf einer Tagung, Oliver ist krank. Hoffentlich bleibt es ruhig.«

»Nicht nur Oliver ist krank. Roland und Uta haben sich auch krankgemeldet. Magen-Darm-Grippe. Sehr ansteckend. Scheint umzugehen. Hat Oliver das auch? Dann bekommen wir es alle.« Volker schaute besorgt in die kleine Runde. Er hatte sich noch keinen Kaffee genommen und wischte sich nun die Hände an seiner Hose ab. Sabine Thelen musste grinsen.

»Oliver hat nur schwere Kopfschmerzen. Morgen ist er sicherlich wieder im Dienst. Auch Ermter ist morgen wieder da. Gibt es irgendetwas?«

»Heute Nacht ist es ruhig geblieben bei den Landschaftsgärtnern. Keine Einbrüche. Keinerlei Vorkommnisse.«

»Und sonst?«, fragte Sabine.

»Ich habe eine Meldung aus der Rechtsmedizin in Duisburg. Der tote Wehrmachtsoldat …« Vienkrath suchte in seinen Unterlagen nach dem Fax. Als er es fand, setzte er umständlich die Lesebrille auf. »Der Soldat wurde erschossen. In den Kopf. Die Kugel steckte noch.«

»Ist der Mann zu identifizieren?« Sabine sah ihn interessiert an.

»Ja, es ist schon eine Anfrage an das Rote Kreuz und das Ministerium ergangen. Offensichtlich trug er seine Marke noch.«

»Weiß der Staatsanwalt darüber Bescheid?«

Niemand äußerte sich.

»Dann sollten wir ihn informieren. Er wird alles Weitere in die Wege leiten. Ich weiß gar nicht, was mit einem Toten aus dem Krieg passiert. Muss man noch Angehörige informieren?« Sabine Thelen massierte sich den Nacken. Sie hatte schlecht geschlafen. Immer wieder war sie von den Geräuschen aus dem Nebenzimmer geweckt worden. Es war ungewohnt, jemanden in der Wohnung zu haben.

»Soweit ich weiß, wird die Kriegsgräberfürsorge eingeschaltet. Anhand der Feldpostnummer kann man die Identität feststellen und eventuell auch Angehörige ausfindig machen.« Vienkrath schob das Fax wieder in die Mappe.

»Informieren wir erst mal Altmann, der wird schon wissen, wie es weitergeht. Sonst noch was?«

Da nichts weiter anlag, beendeten sie die Besprechung. Gerade als alle den Raum verlassen wollten, kam Christiane Suttrop herein.

»Ich habe gerade einen Anruf aus Köln erhalten«, sagte sie aufgelöst. »Der Chef hatte einen Unfall. Ein LKW ist ungebremst an einer Ampel auf seinen Wagen gefahren. Guido ist schwer verletzt und liegt in der Uni-Klinik.«

Sie sahen sich fassungslos an.

»Und nun?« Dieter schob seinen Stuhl zurück, stand auf, nahm eine Packung Taschentücher hervor.

»Laut Plan ist Fischer seine Vertretung, aber der hat doch ab heute Urlaub.«

»Hilft alles nichts, wir müssen Jürgen anrufen.« Vienkrath schnäuzte sich.

»Aber er zieht doch um.« Sabine Thelen schüttelte den Kopf. »Da können wir ihn doch nicht rausreißen.«

»Es geht doch nur um das Formale. Da nicht viel los ist, werden wir ihn wohl kaum brauchen.«

»Ich ruf Fischer nachher an und du Altmann.« Sabine seufzte.

Als Fischer heute Morgen aufwachte, war Martina nicht da.

Ihre Seite des Bettes war unberührt. Er hatte bis spät in die Nacht Kartons ausgepackt und Sachen eingeräumt. Das Kreppband um die Tür- und Fensterrahmen hatte er sorgfältig entfernt und den Müll in blaue Säcke gepackt. Als er nichts mehr zu tun fand, duschte er und ging ins Bett. Der Versuchung, Martina anzurufen, widerstand er, obwohl es ihm schwerfiel.

Er hinterließ ihr einen Zettel und fuhr in seine Wohnung. Alle fünf Minuten schaute er auf sein Handy, doch sie meldete sich nicht. Er überprüfte den Akku und den Empfang, beides war in Ordnung. Langsam fing er an sich Sorgen zu machen.

Jürgen Fischer schaute sich in der Wohnung um. Er hatte alle seine Sachen eingepackt, das klapprige Bett nach unten geschafft und auch die anderen Dinge, die er nicht mehr brauchte, zum Sperrmüll gestellt. Die Wände hatte er weiß gestrichen. Die Wohnung war gefegt und gewischt. In einer halben Stunde würde der Vermieter kommen und Fischer hoffte, die Schlüssel ohne Probleme abgeben zu können.

Das Telefon klingelte in dem Moment, als auch die Türglocke schellte.

»Verdammt«, fluchte Fischer, nahm ab und öffnete dann die Tür. »Hallo? Martina?«

Er war erleichtert ihre Stimme zu hören.

»Es tut mir leid, Jürgen.«

Er bildete sich ein, dass sie fröhlicher klang als gestern, hoffte es sehr. »Wo bist du?«

»Ich bin im Haus … hier. In unserem Haus in Traar.«

Ein ganzer Berg schien ihm vom Herzen zu fallen. Unserem. Alles würde gut werden.

»Mein Vermieter ist gerade gekommen …«, sagt Jürgen.

»Meldest du dich anschließend, Jürgen?«

»Natürlich.«

Der Vermieter war an der Tür stehen geblieben, schaute verlegen zu Boden.

»Entschuldigung. Wir können jetzt.« Fischer führte ihn durch die Räume. Nach wenigen Minuten war sie fertig. Einen Augenblick zögerte Fischer, dann ließ er den Schlüsselbund in die Hand des Vermieters fallen. Jetzt war es endgültig und für Fischer gab es kein Zurück. Martina wusste noch nicht, was mit ihrem Haus in Moers werden sollte. Sie schwankte zwischen verkaufen und vermieten, konnte sich zu keiner der beiden Lösungen wirklich durchringen.

Jürgen traute ihrem Entschluss, mit ihm zusammenzuziehen, noch nicht ganz. Sie hatte immer noch eine Rückzugsmöglichkeit. Er hatte seine gerade aufgegeben.

Als er auf der Straße stand, klingelte sein Handy erneut. Sabine Thelens Dienstnummer erschien auf dem Display.

»Jürgen? Ich weiß, du hast Urlaub.« Sie hörte sich verlegen an.

»Stimmt.« Fischer fuhr sich durch das raspelkurze Haar.

»Zwei Dinge.« Sabine räusperte sich, zögerte dann.

»Ja?« Jürgen wurde ungeduldig. Er wollte nach Traar, wollte zu Martina, überlegte, wo er einen großen Strauß Blumen kaufen könnte.

»Zum einen hat ein Kollege von dir aus Münster angerufen. Irgendein Hansi Soundso … er wollte dich persönlich sprechen.«

»Hans-Jürgen Müller? PHK Schupo Münster?«

»Ja, ich glaube schon. Dienstgruppenleiter der Berta?« Es war eine Frage, keine Antwort.

»Ein alter Freund von mir. Was wollte er?«

»Keine Ahnung, das wollte er persönlich klären.«

»Er hat meine Handynummer.« Jürgen wurde immer ungeduldiger.

»Mag ja sein, er hat trotzdem hier angerufen und nach dir gefragt. Ich überbringe nur Nachrichten.« Sie schluckte hörbar.

»Was ist noch? Du hast von zwei Dingen gesprochen.«

»Nun ja.« Wieder zögerte Sabine. »Da ist noch was, richtig.« Sie hielt inne, versuchte die passende Formulierung zu finden.

»Spucke es aus, Mädchen.«

»Es geht um Guido. Er ist verunglückt.«

»Was?«

»Er hatte einen Autounfall und ist in der Uni-Klinik in Köln.«

»Oh mein Gott!«

Beide schwiegen. Jürgen vor Entsetzen und Sabine, weil sie nicht wusste, wie sie fortfahren sollte.

»Wie geht es ihm?«

»Ich habe keine Ahnung. Vor einer Stunde war er noch im OP.«

Fischer suchte nach seinen Zigaretten. Er hatte die letzte aus der Schachtel vorhin geraucht, fiel ihm ein.

»Gibt es irgendetwas, was wir tun können? Weiß es Sigrid schon?«

»Ja, sie weiß es, natürlich. Tun … nun ja … ich weiß, du hast Urlaub …« Sabine stockte.

»Urlaub hin oder her, wenn ich etwas tun kann, dann mache ich das.«

»Du bist als seine Vertretung eingetragen, Jürgen.«

Das hatte er vergessen.

»Stimmt.« Der Drang nach einer Zigarette wurde immer größer. Fischer stieß die Luft aus. »Und das heißt? Ich habe Urlaub, Sabine.« Die letzten Worte hätte er am liebsten wieder zurückgenommen, als ihm klar wurde, weshalb seine Anwesenheit gefordert wurde. »Was ist mit Roland?«

»Der leidet unter Montezumas Rache. Ein heftiger Magen-Darm-Virus mit Fieber scheint umzugehen. Fast die Hälfte der Belegschaft ist schon krank.«

Fischer schnaubte. »Na gut. Kann man nicht ändern. Liegt etwas an?«

»Nicht wirklich. Nur der Tote im Zoo. Altmann will deswegen zur Abendbesprechung kommen.«

»Der Tote im Zoo? Doch nicht etwa der tote Soldat aus dem Krieg? Eine über 60 Jahre alte Leiche? Und Altmann will ein Verfahren einleiten oder was? Wissen wir denn, wer es war?«

»Ich hab keine Ahnung, weshalb der Staatsanwalt mit uns reden will, aber es geht um den Soldaten, ja.« Sabines Stimme war ganz hoch und dünn. Sie tat Fischer auf einmal leid. Schließlich konnte sie nichts dafür.

»Halb sechs, wie immer?«, fragte er und bemühte sich sachlich zu klingen.

»Hmm.« Sabine brummte nur.

Fischer beendete das Gespräch und schaute auf die Uhr. Es war ein Uhr mittags.

Er hatte noch jede Menge Zeit bis zur Besprechung. Die Straße herunter neben dem Bari-Videoverleih war ein Kiosk. Dort hatte er schon oft Zigaretten geholt. Jetzt war es vermutlich das letzte Mal.

Dann ging er zu seinem Wagen, der bis oben hin vollgepackt war, setzte sich hinein und nahm wieder das Handy hervor. Er wählte Ermters Nummer. Es klingelte bestimmt 15-mal, bevor endlich der Anrufbeantworter ansprang. Fischer legte auf. Natürlich, Sigrid, die Frau des Polizeichefs, war in Köln bei ihrem Mann.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
243 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783734994326
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